Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 31.07.2006
OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, datum, behörde, zustellung, schriftstück, konzept, vollstreckung, vertretung, briefkasten, fahrplan
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 4848/05
Datum:
31.07.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 4848/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 26 K 6099/03
Tenor:
Die Berufung wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 135.153,34 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Senat entscheidet über die mit Senatsbeschluss vom 21. Februar 2006
zugelassene Berufung des Beklagte nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 125 Abs. 2
VwGO durch Beschluss, weil sie ist bereits unzulässig ist.
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Sie ist nämlich entgegen § 124 a Abs. 6 VwGO nicht innerhalb eines Monats nach
Zustellung des Beschlusses über die Berufungszulassung begründet worden. Der
Beschluss des Senates vom 23. Februar 2006 über die Zulassung der Berufung ist dem
Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 28. Februar 2006 zugestellt worden. Die Frist
zur Begründung der Berufung, über die der Beklagte durch die dem
Zulassungsbeschluss beigefügte Rechtsmittelbelehrung ordnungsgemäß belehrt
worden ist, endete gemäß §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, 187 Abs. 1, 188 Abs. 2
BGB am Dienstag, dem 28. März 2006. Eine - allerdings lediglich paraphierte - Kopie
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der Zulassungsbegründung ist dem Senat hingegen erstmals zusammen mit dem
Wiedereinsetzungsgesuch am 3. April 2006 zugegangen, das Original am 4. April 2006.
Dass der Fristenlauf mit dem auf dem Empfangsbekenntnis vermerkten
Zustellungsdatum 28. Februar 2006 begonnen hat, wird nicht dadurch in Frage gestellt,
dass das Empfangsbekenntnis durch den Landesverwaltungsrat E. , den die
Rechtsabteilung in dieser Sache unterstützenden Fachkoordinator für
Erstattungsstreitigkeiten, unterschrieben worden ist. Bei der Zustellung an juristische
Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden gemäß § 174 Abs. 4 ZPO ist das
Schriftstück an dem Tage zugestellt, an welchem der hierfür nach der behördeninternen
Aufgabenverteilung zuständige Bedienstete den Empfang mit Datum und seiner
Unterschrift bestätigt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 1981
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- 5 C 56.80 -, FEVS 31, 89 (91); BAG, Urteil vom 2. Dezember 1994 - 4 AZB 17/94 -,
NJW 1995, 1916; OVG NRW, Beschluss vom 14. November 1995 - 8 B 2303/95 -
jeweils m.w.N.
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Dass Landesverwaltungsrat E. in seiner Funktion als Fachkoordinator, der inhaltlich auf
die jeweilige Erstattungssache Einfluss nehmen konnte, behördenintern - etwa durch
allgemeine Dienstanweisung oder Organisationsplan - für die Abzeichnung des
Empfangsbekenntnisses nicht zuständig gewesen wäre, wird vom Beklagten weder
substantiiert vorgetragen, noch ist dies sonst ersichtlich. Eine solche Unzuständigkeit
ergibt sich namentlich nicht daraus, dass Landesverwaltungsrat E. nach § 67 Abs. 1
VwGO für das Berufungsverfahren die Postulationsfähigkeit fehlt und er den Beklagten
im Rechtsstreit insoweit nicht vertreten kann.
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So auch: OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2006 -15 A 3600/05; nichts Gegenteiliges
besagt auch Beschluss vom 14. November 1995 - 8 B 2303/95 - , der sich lediglich zur
Zeichnungsbefugnis eines Abteilungsleiters neben der des Sachbearbeiters verhält.
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Denn die Mitwirkung eines zuständigen Behördenbediensteten bei einer Zustellung
gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 174 Abs. 4 ZPO unterliegt trotz der damit
verbundenen Erklärung, dass das Schriftstück als zugestellt angesehen wird,
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vgl. Stöber, in: Zöller, ZPO, 25. Auflage 2005, § 174 Rdnr. 6,
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jedenfalls nicht dem Vertretungszwang nach § 67 Abs. 1 VwGO, wobei offen bleiben
kann, ob § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 174 Abs. 4 ZPO als speziellere Regelung die
Anwendung der allgemeinen Vorschrift des § 67 Abs. 1 VwGO ausschließt oder ob es
an einer Prozesshandlung i.S.v. § 67 Abs. 1 VwGO fehlt.
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Vgl. BayVGH, Beschluss vom 2. Dezember 1999
12
- 12 B 98.964 -.
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Dem Beklagten kann auch nicht in Anwendung von § 60 Abs. 1 VwGO
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, denn die Fristversäumung ist
nicht unverschuldet erfolgt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
liegt ein "Verschulden" i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht
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gelassen wird, die für einen gewissenhaften und für seine Rechte und Pflichten
sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den
gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war.
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Vgl. u.a. Urteil vom 28. April 1967 - 4 C 100.66 -, BVerwGE 27, 36; Beschluss vom 6.
Juni 1995 - 6 C 13.93 -, Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 198.
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Dabei sind an eine Behörde zwar keine strengeren, aber auch keine geringeren
Anforderungen zu stellen, als an einen Rechtsanwalt.
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Vgl. z.B. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 - 8 B 121.91 -, Buchholz 310, § 60
VwGO Nr. 176, und vom 7. Februar 2005 - 2 B 104.04 -.
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Auch das sog. Behördenprivileg bei der Vertretung in den Rechtsmittelinstanzen
bezweckt keine Besserstellung der Behörde gegenüber einer anwaltlich vertretenen
Privatperson.
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Diesen Grundsätzen gemäß hat der Beklagte die Versäumung der Frist für die
Begründung der Berufung deswegen zu vertreten, weil er keine hinreichenden
Vorkehrungen für eine wirksame Ausgangskontrolle in Fristsachen getroffen hat, die
gewährleisten, dass der tatsächliche Abgang fristwahrender Schriftsätze zweifelsfrei
nachgewiesen werden kann.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. September 2005 - 2 B 44.05 -, Buchholz 310, § 60
VwGO Nr. 257.
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Nicht nur Rechtsanwälte, sondern auch Behörden haben ihre Büroabläufe so zu
organisieren, dass - jedenfalls für fristwahrende Schriftsätze - etwa durch Führung eines
Postausgangsbuches oder durch einen Vermerk im Terminkalender eine wirksame
Ausgangskontrolle durchgeführt werden kann. Dies entspricht der Rechtsprechung der
obersten Bundesgerichte.
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Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 1988 - 2 C 6.88 -, Buchholz 310, § 60 Nr. 156,
und vom 4. Oktober 2002 - 5 C 47.01 -, FEVS 54, 390, m.w.N.; BSG, Urteil vom 18. März
1987 - 9 B RU 8/86 -, BSGE 61, 213; BFH, Beschluss vom 18. Januar 1984 - I R 196/83
-, BFHE 140, 146; BGH, Beschluss vom 26. September 1994 - II ZB 9/94 -, NJW 1994,
3171.
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Die Ausgangskontrolle dient dazu, den Abgang fristwahrender Schriftsätze
sicherzustellen und den Nachweis hierüber zu ermöglichen. Diesen Anforderungen
genügt es nicht, wenn der mit der Befähigung zum Richteramt ausgestattete
Prozessvertreter des Beklagten, in dessen Verantwortungsbereich die Einhaltung von
Rechtsmittelfristen fällt, hier die richtig adressierte und von ihm unterschriebene
Berufungsbegründungsschrift zusammen mit den Mehrexemplaren in eine
Umlaufmappe getan, auf dessen erstes freies Feld "Post" geschrieben und sodann
diese Mappe - unter gleichzeitiger Anbringung eines sog. "Abvermerks" mit Datum und
Namenszeichen auf dem Konzept - auf den Postausgang des Aktenbocks in seinem
Zimmer gelegt hat. Zwar entspricht es einem festen Plan unter Zugrundelegung
allgemeiner Geschäftsanweisungen des Beklagten, dass die so abgeworfene Post
durch sorgfältig ausgewählte, erfahrene und zuverlässige Mitarbeiter noch am gleichen
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Tag abgetragen und über die Poststelle versandt wird. Eine organisatorisch
zuverlässige Vorbereitung der weiteren Beförderung der ausgehenden Post, die einen
weiteren Nachweis dafür, dass das Schriftstück tatsächlich in den Postlauf gelangt ist,
erübrigt,
vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 8. März 2006 - 8 A 1117/05 -, juris,
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setzt indes voraus, dass die - durch den Abgangsvermerk auf dem Konzept als letzter
Kontrollmaßnahme dokumentierte - Einlegung des fristwahrenden Schriftsatzes in das
Postausgangsfach die "letzte" Station auf dem Weg zum Adressaten darstellt, d.h. die
abgehende Post von dort unmittelbar zum Briefkasten oder zur maßgeblichen
gerichtlichen Einlaufstelle gebracht wird.
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Vgl. BGH, Beschluss vom 22. Mai 2003 - I B 32/02 -, BGHReport 2003, 1035; Beschluss
vom 5. Februar 2003 - IV ZB 32/02 -, NJW-RR 2003, 862, und Urteil vom 11. Januar
2001 - III ZR 148/00 -, NJW 2001, 1577, jeweils m.w.N.
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Dies kann für das Ausgangsfach im Aktenbock des Sachbearbeiters der Großbehörde
M. S. nicht angenommen werden. Nach den Angaben des Beklagten gelangt das
Ausgangsgut nicht auf geradem Wege und unmittelbar vom Aktenbock in den Postgang
der Deutschen Post oder eines anderen Zulieferungsdienstes. Der Botendienst sammelt
nämlich zunächst den Inhalt der Ausgangsfächer aller Sachbearbeiter des
Dienstgebäudes "I. -I1. " zweimal täglich ein und verbringt diese Vorgänge gesammelt
zur Poststelle im besagten Dienstgebäude. Dort werden die nicht an andere Stellen der
Behörden gerichteten Umlaufmappen entsprechend ihrem Zielvermerk "Post" oder
"Poststelle" aussortiert und in einer speziellen Postkiste zwischengelagert. Diese Kisten
werden gemäß einem festen "Fahrplan" dreimal täglich mit einem internen Busdienst
der Botenmeisterei zum benachbarten "I1. des M. " gefahren, wo die zentrale Poststelle
des Beklagten untergebracht ist. Dort werden die einzelnen Schriftstücke erneut sortiert
und - soweit es sich um Gerichtspost handelt - den jeweiligen Gerichten zugeordnet, als
Sammelpost gebündelt und entsprechend versandt. Der Weg eines fristgebundenen
Schriftstückes vom Ausgangsfach eines Sachbearbeiters bis zum Verlassen des
behördlichen Herrschaftsbereiches gliedert sich mithin in mehrere Arbeitsschritte mit
jeweils eigenem Fehlerrisiko. Diese Komplexität des Vorganges lässt es trotz der
organisatorischen Vorgaben als Ausgangskontrolle nicht ausreichen, wenn der
Sachbearbeiter lediglich das Einlegen einer Fristsache in das Abgangsfach seines
Aktenbocks schriftlich festhält.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167
VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 3, 71 Abs. 1 Satz
2, 72 Nr. 1 GKG.
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