Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.12.2010

OVG NRW (pakistan, amnesty international, kläger, stand, körperliche unversehrtheit, genfer konvention, genfer flüchtlingskonvention, amt, politische rechte, bad)

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 A 2999/06.A
Datum:
14.12.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 A 2999/06.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 14 K 2308/06.A
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger ihre Klage auf
Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen haben. Insoweit ist
das ange-fochtene Urteil wirkungslos.
Im Übrigen wird das angefochtene Urteil geän-dert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 2 bis 4 der Bescheide des
Bundesamtes vom 27. 1. 2005 und 12. 9. 2005 verpflichtet, den Klägern
die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit
§ 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Kläger zu
einem Viertel und die Be¬klagte zu drei Vierteln.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreck-bar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige
Voll¬streckungs¬gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in
beizutreibender Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Kläger sind pakistanische Staatsangehörige. Die Kläger zu 1. bis 4. reisten über
Dubai am 15. 5. 2004 mit dem Flugzeug in das Bundesgebiet ein. Der Kläger zu 5. ist im
Bundesgebiet geboren.
2
Die Kläger sind seit ihrer Geburt Mitglieder der Ahmadiyya Muslim Jamaat. Für die
3
Kläger zu 1. und 2. sind entsprechende Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim
Jamaat e. V., Zentrale für Deutschland, vorgelegt worden. Der Kläger zu 1. ist in der
Ahmadiyya Muslim Jamaat e. V. Sekretär für "Sonder-Spenden" und in der örtlichen
Ahmadiyya Gemeinde für die Altersgruppe der Khuddam, der Jugendlichen und Männer
von 15 bis 45 Jahren, verantwortlich. Bis zum 30. 6. 2010 hatte der Kläger zu 1.
außerdem auf örtlicher Ebene die Ämter eines Sekretärs "The Jadid" und "Waqfe Jadid"
inne. Er ist ein sog. "Musi". Diese Bezeichnung bedeutet, dass ein Teil seines Erbes
nach seinem Tod an die Ahmadiyya Gemeinde fällt. Die Klägerin zu 2. ist Sekretärin für
Bildung in der Frauenorganisation ihrer lokalen Gemeinde. Die Kläger zu 1. und 2. sind
zudem im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit für die Ahmadiyya Gemeinde tätig.
Die Kläger zu 1. bis 4. beantragten am 21. 5. 2004 und der Kläger zu 5. am 24. 8. 2005
die Anerkennung als Asylberechtigte. Der Kläger zu 1. legte eine "Self Declaration"
eines früheren Schulkameraden, Herrn N. O. , vor, der erklärt, den Auftrag erhalten
zu haben, den Kläger zu 1. zu töten. Außerdem legte der Kläger zu 1. ein Schreiben der
islamischen Organisation Majlis Tahafuz Khatm-e-Nabowa vor, aus dem hervorgeht,
dass die Moschee der Ahmadis im Dorf H. N1. geschlossen werden sollte. Zur
Begründung des Asylantrags führte der Kläger zu 1. aus: Er sei in seinem
pakistanischen Wohnort der "Führer" der 15 bis 40 Jahre alten Ahmadis gewesen. Er
habe die Privatschule "P. " gegründet und von 1997 bis 2001 betrieben. Die Schule sei
einmal geschlossen und auf seinen Antrag erneut eröffnet worden. Die Maulvis,
sunnitische (Rechts-)Lehrer, seien gegen ihn gewesen. Sie hätten versucht, Leute
gegen ihn aufzuhetzen, und hätten bei der Polizei angezeigt, dass er ein Mirzai
(Ahmadi) sei. Auch die Anhänger der Majlis Tahafuz Khatm-e-Nabowa in C.
hätten die Leute gegen ihn aufgehetzt. 1999 sei ein Maulvi mit Leuten in die Schule
gekommen. Sie hätten ihn geschlagen; er habe Verletzungen erlitten. Ende 2000 seien
nochmals Maulvis mit Leuten in die Schule gekommen und hätten ihn und seine
Ehefrau geschlagen. Darauf hin habe er die Schule geschlossen und einen
Teppichladen eröffnet, den er von 2002 bis Juni 2004 betrieben habe. Die Maulvis
hätten geplant, ihn umzubringen. Mullahs hätten N. O. beauftragt, ihn
umzubringen. Das sei sechs Monate vor seiner Ausreise gewesen. N. O. habe ihm
die "Self Declaration" gegeben, damit er die Maulvis bei der Polizei anzeige. In seinem
Laden sei ihm vorgeworfen worden, dass er weiter missioniere. Außerdem sei in seinen
Laden eingebrochen worden. Die Polizei habe sich geweigert, eine Anzeige
aufzunehmen. Die Klägerin zu 2. führte aus: Sie habe in Pakistan das
Pharmaziestudium mit Auszeichnung abgeschlossen, aber wegen ihrer Religion keine
Arbeitsstelle erhalten. Die Maulvis seien in die Schule ihres Ehemannes gekommen
und hätten versucht, sie zu schlagen. Sie sei aber nicht geschlagen worden.
4
Das Bundesamt lehnte die Asylanträge mit Bescheiden vom 27. 1. 2005 und 12. 9. 2005
ab und führte aus: Die Kläger zu 1. und 2. hätten ihre Mitgliedschaft in der Ahmadiyya
Glaubensgemeinschaft glaubhaft gemacht. Das behauptete Vorverfolgungsschicksal sei
dagegen unglaubhaft. Der Vortrag sei teilweise widersprüchlich und unsubstantiiert.
Eine Gruppenverfolgung der Ahmadis finde in Pakistan nicht statt.
5
Die Kläger haben am 1. 2. 2005 und 16. 9. 2005 Klage erhoben und zur Begründung ihr
bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Ergänzend haben sie vorgetragen: Die
Maulvis hätten sich darüber beschwert, dass der Kläger zu 1. für die Ahmadiyya
Glaubensgemeinschaft missioniert habe. Aufgrund dieser Beschwerde seien
Regierungsbeamte gekommen und hätten die Schule geschlossen. Ein förmliches
Strafverfahren habe es nicht gegeben. Die Schule sei eine Woche geschlossen
6
gewesen. Die Klägerin zu 2. sei in der Schule geschlagen worden.
Die Kläger haben beantragt,
7
die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes vom 27. 1.
und 12. 9. 2005 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und
festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
vorliegen und, hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG bestehen.
8
Die Beklagte hat beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Sie hat auf die Ausführungen in den Bescheiden des Bundesamtes verwiesen.
11
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und im Wesentlichen auf die
Bescheide des Bundesamtes Bezug genommen.
12
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 16. 9. 2009 zugelassen.
13
In der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung haben die Kläger die Klage insoweit
zurückgenommen, als sie auf die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1
GG gerichtet war.
14
Die Kläger tragen zur Begründung ihrer im Übrigen aufrechterhaltenen Klage weiter vor:
Sie seien religiös geprägte Persönlichkeiten und dem Glauben eng verbunden. Es sei
ihre Verpflichtung, sich zu ihrem Glauben auch öffentlich zu bekennen und andere von
ihrem Glauben zu überzeugen. Eine derartige auch öffentliche Religionsausübung sei
ihnen in Pakistan unmöglich. Ahmadis würden dort weiter durch die Gesetzgebung
diskriminiert. Darüber hinaus seien sie wie in der Vergangenheit Übergriffen
nichtstaatlicher Akteure ausgesetzt.
15
Die Kläger beantragen,
16
das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der
Nrn. 2 bis Nr. 4 der Bescheide des Bundesamtes vom 27. 1. 2005 und 12. 9.
2005 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1
AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,
17
hilfsweise festzustellen,
18
dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestehen.
19
Die Beklagte beantragt,
20
die Berufung zurückzuweisen.
21
Sie vertieft die Ausführungen in den Bescheiden des Bundesamtes und in dem
angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend trägt sie vor: Auch nach der
Änderung des § 60 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz könne
22
nicht davon ausgegangen werden, dass der Schutz der Religionsfreiheit auch die
öffentliche Religionsausübung umfasse.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
23
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
24
Das Verfahren ist hinsichtlich des Begehrens der Kläger auf Anerkennung als
Asylberechtigte (Art. 16 a Abs. 1 GG) einzustellen und in diesem Umfang das
angefochtene Urteil für wirkungslos zu erklären (§173 VwGO, § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO).
Insoweit haben sie die Klage mit Einwilligung der Beklagten (§ 92 Abs. 1 Satz 2 VwGO)
zurückgenommen.
25
Die im Übrigen aufrechterhaltene Berufung ist zulässig und begründet.
26
Das Verwaltungsgericht hat die Klage, soweit sie nicht auf die Anerkennung als
Asylberechtigte gerichtet ist, zu Unrecht abgewiesen. Nr. 2 bis Nr. 4 der Bescheide des
Bundesamtes vom 27. 1. 2005 und 12. 9. 2005 sind rechtswidrig und verletzen die
Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie haben einen Anspruch
auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 60
Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohungen in den Bescheiden des Bundesamtes
sind deshalb aufzuheben.
27
1. Anspruchsgrundlage für das Begehren der Kläger auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG in der seit
dem 28. 8. 2007 geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und
asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (Richtlinienumsetzungsgesetz) vom
19. August 2007, BGBl. I S. 1970. Denn nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Sach-
und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich.
28
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. 7. 1951 – Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -,
wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als
Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1
AufenthG ausgesetzt ist. Das ist in Bezug auf die Kläger in Pakistan der Fall.
29
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer
Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben
oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung bedroht ist. Eine solche Verfolgung wegen ihrer Religion droht den
Klägern jedenfalls durch den pakistanischen Staat (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe a
AufenthG). Es kann deshalb dahinstehen, ob ihnen auch eine Verfolgung durch
nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG droht.
30
a. Der Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG ist weitgehend deckungsgleich
mit dem des Asylgrundrechts (Art. 16 a Abs. 1 GG), bei dessen Auslegung sich die
Rechtsprechung schon bisher an der Genfer Flüchtlingskonvention orientiert hat.
31
BVerfG, Beschluss vom 10. 7. 1989 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315.
32
Der Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des
Richtlinienumsetzungsgesetzes geht aber teilweise über den Anwendungsbereich des
Asylgrundrechts hinaus. Dies gilt nicht nur etwa in Bezug auf eine Verfolgung durch
nichtstaatliche Akteure (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG), sondern auch
hinsichtlich der hier relevanten Verfolgung aus religiösen Gründen. Das Asylgrundrecht
schützt vor Verfolgung nur wegen der Religionsausübung in ihrem Kernbereich im
Sinne des sog. religiösen Existenzminimums, das die Religionsausübung im häuslich-
privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich sowie das Gebet und den
Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen
Gläubigen umfasst (sog. forum internum).
33
BVerfG, Beschluss vom 1. 7. 1987 – 2 BvR 478 und 962/86 -, BVerfGE 76,
143 (158 f.); BVerwG, Urteil vom 20. 1. 2004 – 1 C 9.03 -, BVerwGE 120, 16
(19 f.).
34
§ 60 Abs. 1 AufenthG schützt weitergehend auch vor Verfolgung wegen der
Religionsausübung in der Öffentlichkeit.
35
aa. Das ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der
Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union über Mindestnormen für die
Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über
den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QRL) vom 29. 4.
2004 (ABl. Nr. L 304 S. 12, ber. ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24). Diese Bestimmung ist hier
heranzuziehen, weil nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG für die Feststellung, ob eine
Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10
QRL "ergänzend anzuwenden" sind. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b QRL definiert, was
unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen
Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um
flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein.
36
BVerwG, Urteil vom 5. 3. 2009 - 10 C 51.07 -, NVwZ 2009, 1167 = juris,
Rdn. 8.
37
Gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b QRL umfasst der Begriff der Religion unter anderem
die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen
Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen
oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die
sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.
Danach sind schon nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung nicht nur die aus dem
jeweiligen religiösen Verständnis glaubensprägenden oder unverzichtbar gebotenen
existentiellen Einstellungen und Betätigungen, sondern jede Form der religiösen
Glaubensbetätigung, auch die öffentliche einschließlich der öffentlichen Werbung für
den Glauben und seine Verbreitung Teil der geschützten Religionsfreiheit.
38
OVG NRW, Beschluss vom 30. 7. 2009 5 A 1999/07.A -, juris, Rdn. 33 ff.;
Sächs. OVG, Urteil vom 13. 11. 2008 – A 1 B 550/07 -, juris, Rdn. 21 ff.; VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 – A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 67, 69 f.;
Bay. VGH, Urteil vom 23. 10. 2007 14 B 06.30315 -, InfAuslR 2008, 101
39
(102); OVG Saarl., Urteil vom 26. 6. 2007 1 A 222/07 , juris, Rdn. 42 ff.; VG
Würzburg, Urteil vom 3. 11. 2008 – W 7 K 07.30158 -, juris, Rdn. 12; VG
Stuttgart, Urteil vom 1. 6. 2007 A 11 K 1005/06 -, Asylmagazin 2007, S. 39
(40); VG Neustadt, Urteil vom 14. 5. 2007 3 K 1911/06.NW -, Asylmagazin
2007, S. 35; Treiber, in: GK-AufenthG, Stand: 2010, § 60 Rdn. 163; Strieder,
Paradigmenwechsel beim religiösen Existenzminimum?, InfAuslR 2007,
360 (365 f.), jeweils m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 5. 3. 2009. a. a.
O.: nicht ohne Weiteres eine Erweiterung des Flüchtlingsschutzes.
bb. Für diesen weitgehenden Schutz der Religionsausübung sprechen auch der Zweck
der Qualifikationsrichtlinie und ihr systematischer Zusammenhang. Die
Qualifikationsrichtlinie bezweckt unter anderem im Interesse einer gemeinsamen
Asylpolitik (Abs. 1 der Präambel der QRL) und gemeinsamer Kriterien für die
Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 GFK (Abs. 17 der
Präambel der QRL) die Festlegung von Mindestnormen für die Bestimmung und die
Merkmale der Flüchtlingseigenschaft, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Anwendung der Genfer Konvention
zu leiten (Abs. 16 der Präambel der QRL). Mit Mindestnormen bestimmt die Richtlinie
selbst die Grenze, hinter der die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten oder deren
richtlinienkonformes Verständnis nicht zurückbleiben darf. Neben diesem
Zusammenhang der Qualifikationsrichtlinie mit der Genfer Konvention, auf die auch §§ 3
Abs. 1 AsylVfG, 60 Abs. Satz 1 AufenthG Bezug nehmen, ist die grund- und
menschenrechtliche Verknüpfung zu beachten, woraus sich ein weitgehender Schutz
der Religionsausübung ergibt. Nach Abs. 10 Satz 1 der Präambel der QRL achtet die
Richtlinie die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Europäischen
Union anerkannten Grundsätze. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 dieser Charta umfasst die
Religionsfreiheit auch die Freiheit, die Religion einzeln oder gemeinsam mit anderen
öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.
Den gleichen Schutzbereich bietet Art. 9 Abs. 1 Halbsatz 2 EMRK. Das folgt auch aus
dem Art. 9 Abs. 1 Halbsatz 2 EMRK gleichlautenden und durch Bundesgesetz vom 15.
11. 1973, BGBl. II S. 1553, in innerstaatliches Recht transformierten Art. 18 Abs. 1 Satz 2
des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966
(IPbpR), der ebenfalls auch die öffentliche Religionsausübung schützt. Die Genfer
Konvention sowie ihr folgend die Qualifikationsrichtlinie stehen mit dem Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte im systematischen Zusammenhang, weil
sie jeweils Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von
Flüchtlingen sind (Abs. 3 der Präambel der QRL).
40
Ebenso VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 – A 10 S 3032/07 -, juris,
Rdn. 68; Bay. VGH, Urteil vom 23. 10. 2007 – 14 B 06.30315 -, InfAuslR
2008, 101 (101 f.); OVG Saarl., Urteil vom 26. 6. 2007 – 1 A 222/07 -, juris,
Rdn. 47 f.
41
cc. Der Senat geht davon aus, dass die Freiheit der Religionsausübung , anders als die
grundsätzlich nicht beschränkbare Freiheit, eine Religion eigener Wahl zu haben oder
anzunehmen, mit Blick auf Art. 18 Abs. 3 IPbpR, Art. 9 Abs. 2 EMRK ihre Schranke in
allgemeinen Gesetzen findet, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung,
Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und –freiheiten anderer erlassen worden
sind und für alle Bürger eines Staates, welcher religiösen Ausrichtung sie auch
angehören, gleichermaßen Geltung beanspruchen.
42
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 71.
43
Dies bedarf hier jedoch keiner weiteren Erörterung. Die Religionsfreiheit der Ahmadis
wird in Pakistan aus den noch darzulegenden Gründen nicht durch allgemeine, sondern
durch speziell gegen ihre Glaubensgemeinschaft gerichtete Gesetze eingeschränkt.
44
dd. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt weiter voraus, dass eine
Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL vorliegt. Eine Verfolgung liegt
danach vor, wenn die Handlungen aufgrund ihrer Art oder Wiederholung allein oder in
Kumulierung mit anderen Maßnahmen eine schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung darstellen. Der Charakter einer Verfolgungshandlung
erfordert, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven
Gerichtetheit auf die Verletzung eines geschützten Rechtsguts selbst und nicht nur auf
das asylerhebliche Merkmal oder jetzt den Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 QRL
zielt.
45
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. 1. 2009 10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 = juris,
Rdn. 22, 24.
46
Eine gezielte Rechtsgutverletzung ist nicht erst dann gegeben, wenn die
Verfolgungshandlung in die Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und
physische Bewegungsfreiheit eingreift, vielmehr auch dann, wenn sie schwerwiegend in
die geschützte Freiheit selbst, hier die Religionsfreiheit eingreift. Dies verdeutlichen die
Buchstaben b und d des in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft aufgeführten Katalogs
möglicher Verfolgungshandlungen; hiernach gelten als Verfolgungshandlung auch
gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die "als
solche" diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewendet werden,
sowie die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer
unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung. Dies zeigt zugleich, dass der
in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in dem engen, auf
die körperliche Freiheit beschränkten Sinn verstanden werden kann.
47
Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn.
74; ferner zu dieser Unterscheidung BVerwG, Urteil vom 5. 3. 2009, a. a. O.,
Rdn. 11, 14.
48
Eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung kann auch dann vorliegenden, wenn
dem Schutzsuchenden ein religiöses Existenzminimum im Sinne der
Religionsausübung im häuslich-privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen
Bereich sowie das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher
Gemeinschaft mit anderen Gläubigen verbleiben. Eine dahingehende einschränkende
Auslegung des Schutzes der Religionsfreiheit hätte zur Folge, dass der nach Art. 10
Abs. 1 Buchstabe b QRL, Art. 9 Abs. 1 Halbsatz 2 EMRK, Art. 18 Abs. 1 Satz 2 IPbpR
bezweckte Schutz der Religionsausübung auch in der Öffentlichkeit weitgehend
wirkungslos bliebe. Dies ist mit dem gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatz
des "effet utile" nicht vereinbar. Der Grundsatz gebietet es, Normen des
Gemeinschaftsrechts und somit auch Art. 9 und Art. 10 QRL so auszulegen, dass ihre
praktische Wirksamkeit gewährleistet ist.
49
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 71;
offen gelassen BVerwG, Urteil vom 5. 3. 2009, a. a. O., Rdn. 14:
50
Schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt "in jedem Fall" vor
bei einer Verletzung ihres "Kernbereichs".
Die Flüchtlingsanerkennung setzt schließlich voraus, dass eine Verknüpfung zwischen
der Verfolgungshandlung und dem in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b genannten
Verfolgungsgrund der Religion besteht (Art. 9 Abs. 3 QRL). Das ist der Fall, wenn die
die Religionsausübung einschränkenden Maßnahmen wegen der Religion des um
Anerkennung als Flüchtling Nachsuchenden erfolgen.
51
ee. Für die Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr in den
Heimatstaat ist auch in den Fällen, in denen der um Flüchtlingsschutz Nachsuchende
vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist ist, der Maßstab der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit zugrundezulegen. Erforderlich ist eine Gefährdung, die sich schon
so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem
jederzeitigen Verfolgungseintritt rechnen muss. Bei einer Vorverfolgung greift insoweit
die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QRL.
52
BVerwG, Urteil vom 24. 11. 2009 – 10 C 24.08 -, juris, Rdn. 21 ff.; OVG
NRW, Urteil vom 17. 8. 2010 – 8 A 4063/06.A -, juris, Rdn. 35 und 41.
53
Das Vorliegen einer Verfolgungsgefahr ist bezogen auf den Einzelfall individuell zu
prüfen. Dies schließt mit Blick auf die Buchstaben a, c und e des Art. 4 Abs. 3 QRL ein
die Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Herkunftsland sowie die danach gegen
Dritte gerichteten Verfolgungsmaßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines
flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das der um Flüchtlingsschutz
Nachsuchende mit ihnen teilt, und wenn dieser sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und
Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der
Gruppenverfolgung).
54
Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 4. 2009 10 C 11.08 -, NVwZ 2009. 1237 = juris,
Rdn. 13, 16.
55
ff. Der Senat sieht davon ab, zu den sich hier in Bezug auf die Qualifikationsrichtlinie
stellenden Fragen zur drohenden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung der
Religionsfreiheit eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
(EuGH) nach Art. 267 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union (AEUV) einzuholen. Er übt das ihm eröffnete Ermessen in diesem Sinne aus, weil
bereits das Bundesverwaltungsgericht hierzu aufgrund seiner Beschlüsse vom 9. 12.
2010 - 10 C 19.09 - und - 10 C 21.09 - eine Vorabentscheidung des EuGH einholt.
56
b. Nach Maßgabe der dargelegten Grundsätze haben die Kläger einen Anspruch auf
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dabei kann dahinstehen, ob die Kläger zu 1.
bis 4. vor ihrer Ausreise aus Pakistan bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten haben
oder von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht waren. Auf die Beweiserleichterung
gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 QRL kommt es hier nicht an.
Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Kläger mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit (jedenfalls) mit staatlichen schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzungen rechnen müssen, die an ihre Religion anknüpfen. Diese
beachtlich wahrscheinliche Gefährdung ergibt sich im Sinne des Art. 9 Abs. 1
Buchstabe b QRL aus einer Kumulierung unterschiedlicher staatlicher Maßnahmen.
57
aa. Bekennende Ahmadis sind einer aktuellen Gefahr der Verfolgung in ihrer
Religionsfreiheit ausgesetzt, die sich aus einer landesweit geltenden, speziell gegen die
Ahmadis und gegen den Kern ihres Selbstverständnisses gerichteten Gesetzgebung
des pakistanischen Staates ergibt. Jedenfalls die öffentliche Religionsausübung ist
ihnen in Pakistan praktisch unmöglich.
58
Die Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad
gegründet. Ihr Gründer beansprucht Messias, Mahdi, Prophet, die geistige Wiedergeburt
Jesu, Mohammeds, Vishnus, Krishnas, Buddhas und der Reformer am Anfang der 1000-
jährigen Endzeit zu sein, den wahren Islam zu vertreten und ihn durch seine Bewegung
innerhalb von 300 Jahren zum Sieg über alle anderen Religionen und islamischen
Konfessionen zu führen. In ihrer Dogmatik weicht die Glaubensgemeinschaft der
Ahmadiyya von den sunnitischen und schiitischen Hauptrichtungen des Islam vor allem
in ihrer Prophetenlehre ab, weil sie Mohammed nicht als letzten Propheten ansieht. Vor
allem aufgrund der Infragestellung der Finalität des Prophetentums Mohammeds, eines
essentiellen Bestandteils des Glaubens anderer islamischer Gemeinschaften, sind die
Ahmadis insbesondere aus der Sicht orthodoxer Muslime Apostaten, die ihr Leben
verwirkt haben.
59
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 12 f.; Hiltrud
Schröter, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 18. 6. 2003; amnesty
international, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 14. 11. 2000; Heinz
Stanek, Zur Lage der Ahmadis, Referat am 15. 12. 1997, S. 4 f.; VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 85, m. w. N.
60
Die Angaben über die Zahl der in Pakistan lebenden Angehörigen der
Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya, die sich in die Minderheitengruppe der Lahoris
(Ahmadiyya-Anjuman Lahore) und die Mehrheitsgruppe der Quadianis (Ahmadiyya
Muslim Jamaat) aufgespalten hat, schwankt. Nach eigenen Angaben umfasst die
Glaubensgemeinschaft drei bis vier Millionen Mitglieder, davon 500.000 bis 600.000
bekennende Mitglieder. Das Zentrum der Gemeinschaft befindet sich in der Stadt
Rabwah in der pakistanischen Provinz Punjab. Dort gehören 95 % der Bevölkerung der
Ahmadiyya Glaubensgemeinschaft an. Die Stadt Rabwah ist gegen den Willen ihrer
Bevölkerung nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab in Tschinab Nagar
umbenannt worden.
61
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 13;
Süddeutsche Zeitung, "Schüsse in der Moschee", 29. 5. 2010; Frankfurter
Rundschau, "Schüsse vom Minarett", 29. 5. 2010; Deutsche Welle,
"Terrorangriff auf religiöse Minderheit", 29. 5. 2010; VGH Bad.Württ., Urteil
vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 86 bis Rdn. 89, m. w. N.
62
Aufgrund ihres Selbstverständnisses werden Ahmadis in Pakistan durch eine speziell
gegen sie gerichtete Gesetzgebung diskriminiert.
63
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 13.
64
Diese Gesetzgebung und die sich daraus für die Ahmadis ergebenden
Einschränkungen ihrer Religionsausübung stellen für einen dem Glauben eng und
verpflichtend verbundenen Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung auch die
Religionsausübung in der Öffentlichkeit gehört, eine schwerwiegende
65
Menschenrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im
Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b QRL dar. Denn sie richten sich gegen das
Selbstverständnis der Ahmadis in seinem Kern und beeinträchtigen ihre Freiheit der
Religionsausübung umfassend in allen Lebensbereichen.
Sächs. OVG, Urteil vom 13. 11. 2008 A 1 B 550/07 -, juris, Rdn. Rdn. 65
und Rdn. 68; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -,
juris, Rdn. 113 f.; VG Würzburg, Urteil vom 3. 11. 2008 W 7 K 07.30158 -,
juris, Rdn. 14 ff.
66
Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt.
Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis ausdrücklich zu Nicht-
Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt.
Nach der pakistanischen Verfassung ist kein Muslim im Sinne der gesamten
pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte
Finalität des Propheten Mohammed glaubt oder andere Propheten als Mohammed
anerkennt.
67
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 12; VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 – A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 91.
68
Aus diesem verfassungsunmittelbaren Verbot, sich als Muslime zu begreifen und zu
verstehen, ergeben sich für die Ahmadis in allen Lebensbereichen Einschränkungen
und Verbote, die ihr religiöses Selbstverständnis im Kern treffen.
69
Die Ahmadis sind nur um den Preis der Aufgabe oder Leugnung eines Kernelements
ihrer Glaubensüberzeugung zur Ausübung des staatsbürgerlichen Rechts der
allgemeinen und gleichen Teilnahme an Wahlen zugelassen. Sie können bei Wahlen
nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche wählen. Um ohne
Einschränkungen als Muslim kandidieren und gewählt werden zu können, muss eine
eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetentums Mohammeds abgegeben
sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden Wahlen durch
die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert.
70
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan, Januar 2001 bis nach den
Wahlen vom Oktober 2002 – Update, November 2002, S. 19; VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 92, m. w. N.
71
Im März 2005 wurde die Angabe der Religionszugehörigkeit in Reisepässen (erneut)
eingeführt. Ahmadis müssen entgegen ihrem Selbstverständnis "non-muslim" angeben.
72
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 12; VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 – A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 92.
73
Seit 1984 und 1986 gelten drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die
sich nach ihrem Wortlaut und in ihrer Anwendung speziell gegen die Ahmadis richten
und gerade auch ihre öffentliche Religionsausübung einschränken. Die Vorschriften,
74
Abdruck der Vorschriften in der englischen Sprache und in einer
nichtamtlichen Übersetzung des Nachrichtendienstes des
75
Bundesministeriums der Justiz: BVerfG, Beschluss vom 1. 7. 1987 2 BvR
478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143 (146 148); vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil
vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 94 bis Rdn. 101,
lauten in nichtamtlicher Übersetzung:
76
Sec. 298 B:
77
(1) Wer als Angehöriger der Qadjani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich
'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder
geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
78
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten
Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ameerui Mumineen', ‚Khalifar-ul-Mimineem’,
'Shaabi' oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed
(Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten
Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
d) sein Gotteshaus als 'Masjid' bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit
Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
79
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich
'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder
geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner
Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als 'Azan' bezeichnet oder den 'Azan'
so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit
Geldstrafe bestraft."
80
Sec. 298 C:
81
Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich
'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder
geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den
Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder
ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert,
seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die
religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden
Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.
82
Sec. 295 C:
83
Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch
Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder
mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei
mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und
Geldstrafe bestraft.
84
Als Folge dieser speziell und einseitig auf sie bezogenen, über ein allgemeines Gesetz
hinausgehenden Strafandrohungen ergeben sich für die Ahmadis unter anderem
folgende Verbote: Es ist ihnen untersagt, zum Gebet aufzurufen, ihre Gebetshäuser
"Moschee" zu nennen, öffentliche Versammlungen oder religiöse Treffen und
Konferenzen abzuhalten, für den Glauben zu werben, als Ahmadi an der Pilgerfahrt
nach Mekka teilzunehmen und Literatur oder andere Veröffentlichungen mit
Glaubensinhalten zu verbreiten. Außerdem ist es ihnen verboten, die geläufigen
religiösen Sprechweisen wie "bismillah" ("im Namen Gottes"), "inshallah" ("so Gott will")
oder den Gruß "assalam o aleikum" ("Friede mit Dir/Euch") zu benutzen, weil dies den
Eindruck erwecken könnte, die betreffenden Personen seien Muslime.
85
UK Border Agency, Country of Origin Information Report, Pakistan, 18. 1.
2010, Rdn. 19.54 ff.; U. S. Department of State, Pakistan, International
Religious Freedom Report 2009; Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan,
Stand: April 2007, S. 17, und Lagebericht Pakistan, Stand: November 2005,
S. 17; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 – A 10 S 3032/07 -, juris,
Rdn. 94 bis Rdn. 101.
86
Die genaue Zahl der gegen Ahmadis eingeleiteten Strafverfahren ist unbekannt. Bereits
1992 wurde berichtet, dass seit 1984 tausende von Verfahren eröffnet worden seien.
87
Deutsches Orient-Institut, Auskunft an das VG Berlin vom 28. 6. 1992.
88
Das Auswärtige Amt bestätigte, dass seit der Einführung der gegen die Ahmadis
gerichteten sec. 298 B, 298 C und 295 C bis 1994 insgesamt 2.376 Verfahren gegen
Ahmadis eingeleitet worden sind.
89
Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Mainz vom 20. 7. 1994, und
Lagebericht Pakistan, Stand: 1. 11. 1994, S. 5.
90
Für die Zeit nach 1994 berichtet das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten, dass in
dem jeweiligen Berichtszeitraum jeweils 1.000 Verfahren nach sec. 298 C anhängig
seien und immer die Gefahr bestehe, dass ein gegen Ahmadis gerichtetes Verfahren um
den Vorwurf der Blasphemie nach sec. 295 C erweitert werde, was mit Haft bis zum
Abschluss des Verfahrens einhergeht.
91
Vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 13,
und Lagebericht Pakistan, Stand 16. 1. 1998, S. 3.
92
Auch die Zahl der Verfahren gegen Ahmadis nach sec. 295 C ist nicht genau bekannt.
Teilweise wird berichtet, dass jährlich zwischen 14 und 32 Verfahren eingeleitet
werden.
93
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 12, Auskunft
an das VG Münster vom 19. 1. 2007, und Lagebericht Pakistan, Stand:
November 2005, S. 16; amnesty international, Report Pakistan 2010, 2009
und 2006 sowie Länderbericht Pakistan vom 18. 3. 1999; Human Rights
Watch, Massacre of Minority Ahmadis, 1. 6. 2010.
94
Andererseits wird die Gesamtzahl der Verfahren gegen Ahmadis auf etwa 2.000
95
geschätzt.
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 103,
m. w. N.
96
Während der gegen sie gerichteten Strafverfahren sind die Aussichten der Ahmadis auf
ein faires Gerichtsverfahren zumindest in der ersten Instanz gering, da die Richterinnen
und Richter in vielen Fällen von extremistischen religiösen Gruppierungen unter Druck
gesetzt werden oder in hohem Maße korrupt sind.
97
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 13;
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Justizsystem und
Haftbedingungen, 5. 5. 2010, S. 2; VGH Bad.Württ., Urteil vom 20. 5. 2008
A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 103, m. w. N.
98
bb. Die gegen das Selbstverständnis der Ahmadis in seinem Kern gerichtete
Rechtslage und Rechtsanwendungspraxis in Pakistan ist nicht nur aus sich heraus eine
schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit der Ahmadis, sondern auch deshalb
eine dem pakistanischen Staat zuzurechnende schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL, weil die Rechtslage und die
Rechtsanwendungspraxis Übergriffe und Diskriminierungen auch nichtstaatlicher
Akteure auf Ahmadis begünstigt. Derartige Übergriffe und Diskriminierungen nimmt der
pakistanische Staat aktuell tatenlos hin.
99
Die pakistanischen Strafvorschriften werden vor allem von islamistischen
Gruppierungen der Khatm-e-Nabuwwat dazu genutzt, Ahmadis aus den
verschiedensten Motiven unter Druck zu setzen.
100
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 13.
101
Selbst nach einem Freispruch durch das Berufungsgericht sind in der ersten Instanz
wegen Blasphemie verurteilte Personen der Gefährdung durch Extremisten ausgesetzt.
Die Massen lassen sich leicht durch den bloßen Vorwurf der Blasphemie mobilisieren.
102
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: April 2007, S. 10.
103
Mullahs rufen in den Moscheen zum sozialen Boykott gegen Ahmadis auf und fordern
jeden "guten Muslim" auf, diese zu verfolgen oder umzubringen.
104
Süddeutsche Zeitung, "Beten hinter Sandsäcken", 13. 7. 2010;
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Menschenrechte und
Gefährdungslage, 6. 9. 2004, S. 7 f.
105
Ahmadis werden durch untere Instanzen der Verwaltung sowie in Schulen,
Hochschulen und bei der Einstellung und Beförderung im öffentlichen Dienst
benachteiligt. Es kommt immer wieder vor, dass Ahmadis ihre Arbeitsstelle verlieren,
sobald ihre Glaubenszugehörigkeit bekannt wird.
106
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: April 2007, S. 17;
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Menschenrechte
und Gefährdungslage, 6. 9. 2004, S. 8; Brüser, Zur Lage in Pakistan, Januar
107
2002.
Ermordungen und sonstige Übergriffe auf Ahmadis hat es immer gegeben. Nach
Angaben der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sind allein zwischen 1988 und 2006
insgesamt 171 Mitglieder der Glaubensgemeinschaft ermordet worden.
108
UK Border Agency, Country of Origin Information Report, Pakistan, 18. 1.
2010, Rdn. 19.65; vgl. zu den Übergriffen auf Ahmadis bis 1999: Hess.
VGH, Urteil vom 31. 8. 1999 10 UE 864/98.A -, juris, Rdn. 52 und Rdn. 77 f.
109
Mindestens 10 Ahmadis sind 2000 ermordet worden.
110
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: Juli 2002, S. 8; amnesty
international, Pakistan, Jahresbericht 2001.
111
Im Mai 2002 wurden ein älteres Ahmadi-Ehepaar gefoltert und getötet sowie ein Ahmadi
in Sukhur entführt und gefoltert, um ihn vom Glauben abzubringen.
112
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2004, S. 16, und
Lagebericht Pakistan, Stand: Juni 2003, S. 11; Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Pakistan, Januar 2001 bis nach den Wahlen vom
Oktober 2002 – Update, November 2002.
113
Am 7. 10. 2005 wurden beim Verlassen des Gebetshauses mindestens 8 Ahmadis
getötet und 22 verletzt.
114
Human Rights Watch, Massacre of Minority Ahmadis, 1. 6. 2010; amnesty
international, Pakistan, Jahresbericht 2006; Zulqernain Tahir, Angst verfolgt
die angegriffene Gemeinde einer Minderheit, 10. 10. 2005; Frankfurter
Rundschau, "Ahmadi in Pakistan ermordet", 8. 10. 2005; Frankfurter
Allgemeine Zeitung, "Tote bei Anschlag in Pakistan", 8. 10. 2005.
115
Im Juni 2006 wurden Geschäfte und Häuser von Ahmadis in Jhando Sahi
niedergebrannt; 100 Ahmadis mussten fliehen.
116
Human Rights Watch, Massacre of Minority Ahmadis, 1. 6. 2010.
117
2008 sind mindestens 6 und 2009 mindestens 11 Ahmadis ermordet worden. Wenige
Tage vor der Ermordung von zwei Ahmadis im Jahr 2008 hatte ein privater
Fernsehsender einen Beitrag ausgestrahlt, in dem dazu aufgerufen wurde, alle gottlosen
und vom Glauben abgefallenen Menschen aus religiöser Pflicht zu töten.
118
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: April 2007, S. 13; UK Border
Agency, Country of Origin Information Report, Pakistan, 18. 1. 2010, Rdn.
19.65; amnesty international, Pakistan Report 2009 und 2008; RA
Borschberg, Informationen zur neueren Entwicklung der Situation von
Ahmadis in Pakistan, 5. 9. 2009.
119
Am 28. 5. 2010 sind bei Attacken auf zwei Gebetshäuser mindestens 70 Ahmadis
getötet und 80 verletzt worden. Für die Anschläge ist die Therik-e-Taliban (TTP)
verantwortlich.
120
Human Rights Watch, Massacre of Minority Ahmadis, 1. 6. 2010; taz,
"Attentat auf Sufi-Schrein", 3. 7. 2010, und "Moscheen in Pakistan", 29. 5.
2010; Neue Züricher Zeitung, "Viele Tote bei Anschlägen in Pakistan", 29.
5. 2010; Süddeutsche Zeitung, "Schüsse in der Moschee", 29. 5. 2010;
Deutsche Welle, "Terrorangriff auf religiöse Minderheit", 29. 5. 2010;
Frankfurter Rundschau, Schüsse vom Minarett", 29. 5. 2010; Frankfurter
Allgemeine Zeitung, "Gebetshäuser in Lahore überfallen", 29. 5. 2010.
121
Am 3. 9. 2010 wurden 2 Menschen bei einem Selbstmordattentat auf ein Gebetshaus
der Ahmadis in Mardan getötet.
122
Frankfurter Rundschau, "Gewalt in Pakistan nimmt zu", 4. 9. 2010.
123
Auch wenn es sich bei diesen Übergriffen und Diskriminierungen der Ahmadis letztlich
um Einzelfälle handelt, ergibt sich daraus bei der nach Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b QRL
gebotenen kumulierenden Betrachtung mit dem sich aus den Rechtsvorschriften
ergebenden Verbot, sich als Muslime zu verstehen und dieses Verständnis in die
Öffentlichkeit zu tragen, aus dem sich alle weiteren (strafbewehrten) Einschränkungen
und Verfolgungsmaßnahmen herleiten, eine flüchtlingsrelevante schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung, die dem pakistanischen Staat zuzurechnen ist. Er nimmt die
Übergriffe und Diskriminierungen tatenlos hin.
124
Frankfurter Allgemeine Zeitung, "Gebetshäuser in Lahore überfallen", 29. 5.
2010; amnesty international, Pakistan, Report 2010, 2009 und 2008 sowie
Jahresbericht 2007 und 2002; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan:
Menschenrechte und Gefährdungslage, 6. 9. 2004, S.7 f.; Otmar Oehring,
Auskunft an das Hamb. OVG vom 22. 7. 2004.
125
Das entspricht auch der aktuellen Einschätzung des Auswärtigen Amtes. Es hat früher
in seinem Lagebericht Pakistan, Stand: Mai/Juni 2006, S. 23, ausgeführt, die von der
Khatm-e-Nabuwwat und anderen extremen religiösen Gruppierungen ausgehenden
Maßnahmen gegen Ahmadis, die von regelmäßigen Belästigungen bis hin zu Angriffen
auf die körperliche Unversehrtheit reichten, würden von staatlichen Stellen "in der
Regel" tatenlos hingenommen. Im Lagebericht Pakistan des Auswärtigen Amtes, Stand:
April 2007 heißt es, ein staatlicher Schutz sei "nicht immer" möglich, weil insbesondere
die unteren Polizeiränge oftmals nicht konsequent durchgreifen würden. Die
Formulierung "in der Regel" ist in den aktuellen Lageberichten nicht mehr enthalten.
Nunmehr führt das Auswärtige Amt aus, die von der Khatm-e-Nabuwwat und anderen
extremen religiösen Gruppierungen ausgehenden Maßnahmen gegen Ahmadis, die von
regelmäßigen Belästigungen bis hin zu Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit
reichten, würden von staatlichen Stellen "in der Praxis" tatenlos hingenommen.
126
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 18,
Lagebericht Pakistan, Stand: September 2008, S. 22, Auswärtiges Amt,
Lagebericht Pakistan, Stand: April 2007, S. 19.
127
Diese Haltung des pakistanischen Staates und seine gegen die Ahmadis gerichtete
Gesetzgebung trägt dazu bei, dass es regelmäßig zu Übergriffen und Diskriminierungen
von Ahmadis kommt.
128
Amnesty international, Pakistan, Jahresbericht 2007.
129
Es kann deshalb nicht von der Hand gewiesen werden, dass es für die Ahmadis nahe
liegt, wenn es sich nicht gar gebietet, alle öffentlichkeitswirksamen
Glaubensbetätigungen zu unterlassen oder auf ein Minimum zu beschränken, weil sie
bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen Reaktionen des Staates oder von
nichtstaatlichen Akteuren rechnen müssen, wenn sie ihr Menschenrecht auf
Religionsfreiheit aktiv wahrnehmen.
130
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 115.
131
Folge dieser nach dem Vorstehenden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung
durch unmittelbaren Eingriff in die Religionsfreiheit aufgrund der rechtlichen, die
Ahmadis ausgrenzenden Bestimmungen ist, dass die Verfolgungsgefahr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit jeden bekennenden Ahmadi in Pakistan trifft und es -
anders als bei Eingriffen in das Leben und die körperliche Freiheit - nicht darauf
ankommt, ob die einzelnen auf den Körper gerichteten Verfolgungsmaßnahmen wegen
der Religion eine solche Verfolgungsdichte erreichen, die die Annahme einer für den
einzelnen Schutzsuchenden eine Beweiserleichterung darstellende Gruppenverfolgung
rechtfertigt. Denn die menschenrechtswidrige systematische Einschränkung durch die
angeführten rechtlichen Bestimmungen hat für die Religionsfreiheit der Ahmadis in der
Lage, in der sie in Pakistan in einem Klima der allgemeinen Ausgrenzung und
religiösen, moralischen und gesellschaftlichen Verachtung leben müssen, den
Charakter eines - bereits umgesetzten - Verfolgungsprogramms, bei dessen Vorliegen
es nicht der Feststellung der Verfolgungsdichte einzelner Verfolgungsschläge im Sinne
des Konzepts der Gruppenverfolgung bedarf.
132
Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. 4. 2009 10 C 11.08 -, a. a. O., Rdn. 13, und 5.
7. 1994 9 C 158.94 -, NVwZ 1995, 175 = juris, Rdn. 20.
133
cc. Eine Fluchtalternative in dem Sinne, dass es einen Ort gibt, in dem die Ahmadis
keiner Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL aufgrund ihrer Religion ausgesetzt
sind, gibt es schon deshalb nicht, weil die speziell gegen sie gerichtete pakistanische
Gesetzgebung landesweit ohne Einschränkungen gilt. Unabhängig davon sind auch
sonst keine gesicherten Ausweichmöglichkeiten gegeben. Rabwah, das religiöse
Zentrum der Ahmadis, bietet keinen sicheren Schutz vor Repressionen, weil die
Ahmadis dort zwar weitgehend unter sich, anderseits aber für ihre Gegner sehr sichtbar
sind.
134
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 19.
135
Größere Städte wie Rawalpindi, Lahore, Karachi, Peshawar oder Multan bieten
aufgrund der dortigen Anonymität prinzipiell eher Schutz als ländliche Gebiete.
136
Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan, Stand: März 2010, S. 19.
137
Diese Anonymität bietet einem Ahmadi aber dann keinen ausreichenden Schutz, wenn
er seinen Glauben öffentlich lebt. In diesem Fall ist er typischerweise ebenso wie in
Rabwah für Gegner der Ahmadis sichtbar.
138
dd. Allerdings liegt keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art.
139
9 QRL vor, wenn die die Religionsausübung einschränkenden Maßnahmen den
Schutzsuchenden nicht selbst in seiner religiös-personalen Identität betreffen. Das ist
der Fall, wenn er seinen Glauben in der Heimat nicht praktizieren wird oder sonst eine
innere und verpflichtende Verbundenheit zur Religion fehlt.
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20. 5. 2008 A 10 S 3032/07 -, juris, Rdn. 116;
OVG Saarl., Urteil vom 26. 6. 2007 – 1 A 222/07 -, juris, Rdn. 55; VG Saarl.,
Urteil vom 20. 1. 2010 5 K 621/08 -, juris, Rdn. 51 ff.; vgl. auch zu Art. 16 a
Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss vom 1. 7. 1987 – 2 BvR 478, 962/86 -,
BVerfGE 76, 143 (160).
140
Einem Schutzsuchenden, der von Geburt an einer bestimmten Religionsgemeinschaft
angehört und seinen Glauben in der Vergangenheit praktiziert hat, kann nicht ohne
konkrete Anhaltspunkte unterstellt werden, dass er seinen Glauben im Heimatstaat nicht
praktizieren wird.
141
OVG Saarl., Urteil vom 26. 6. 2007 1 A 222/07 , a. a. O.
142
Danach ist davon auszugehen, dass die Kläger (auch) in Pakistan ihren Glauben auch
in der Öffentlichkeit praktizieren. Sie sind seit ihrer Geburt Mitglieder der Ahmadiyya
Muslim Jamaat. Die Kläger zu 1. und 2. waren bereits vor ihrer Ausreise für die
Ahmadiyya Glaubensgemeinschaft tätig. Derzeit sind sie in verschiedenen Funktionen
innerhalb der Ahmadiyya Glaubensgemeinschaft in Deutschland aktiv engagiert. Diese
Tätigkeit umfasst sowohl die regelmäßige Teilnahme an örtlichen und zentralen
Gemeindeveranstaltungen (Bescheinigung vom 26. 11. 2010) als auch das öffentliche
Auftreten für die Glaubensgemeinschaft. Anhaltspunkte dafür, dass die noch
minderjährigen Kläger zu 3. bis 5. ihren Glauben nicht wie ihre Eltern in Pakistan
praktizieren, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
143
2. Die auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsandrohung des
Bundesamtes ist rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
liegen nicht vor, weil den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
144
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83
b AsylVfG. Der Senat bemisst den wertmäßigen Anteil des zurückgenommenen
Asylbegehrens mit einem Viertel.
145
Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 17. 8. 2010 8 A 4063/06.A -, juris, Rdn.
127 ff., m. w. N.
146
4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht
auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
147
5. Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil die Frage, ob § 60
Abs. 1 AufenthG nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes auch bei
drohenden Maßnahmen gegen die öffentliche Religionsausübung die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft rechtfertigt, höchstrichterlich nicht geklärt ist.
148