Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.07.2007

OVG NRW: staatsangehörigkeit, ablauf der frist, unverschuldetes hindernis, eigenes verschulden, udssr, sowjetunion, aufenthalt, einbürgerung, familie, beschränkung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 5157/05
Datum:
20.07.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 5157/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 10 K 1244/03
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 10.000 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei nicht ohne
Verschulden gehindert gewesen, die Nacherklärungsfrist des Art. 3 Abs. 7 Satz 1
RuStAÄndG 1974 einzuhalten, nicht in Frage zu stellen.
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Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, ein die Nacherklärungsfrist des Art. 3
Abs. 7 Satz 1 RuStAÄndG 1974 eröffnendes unverschuldetes Hindernis werde nicht
bereits durch Rechtsirrtum und Unkenntnis der Rechtslage begründet. Vielmehr komme
es darauf an, ab wann der Betroffene hinreichend Anlass habe, sich die erforderliche
Kenntnis zu verschaffen. Ein derartiger Anlass sei gegeben, wenn der Betroffene die
deutsche Staatsangehörigkeit seiner Mutter kenne oder hierauf deutliche Hinweise
habe, wobei entsprechende Erkundigungspflichten auch dann bestünden, wenn ein
Staatsangehörigkeitserwerb seitens der Mutter noch nicht abschließend geklärt sei.
Dieser rechtliche Maßstab entspricht der aktuellen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts. Hiernach sind - ggf. auch rein "vorsorgliche" - Erklärungen
i.S.d. Art. 3 Abs. 7 RuStAÄndG 1974 einem Erklärungsberechtigten ab dem Zeitpunkt
abzuverlangen, ab dem Umstände bekannt waren, die einen (an die deutsche
Volkszugehörigkeit in der Ukraine anknüpfenden) Erwerb der deutschen
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Staatsangehörigkeit der Mutter möglich erscheinen ließen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2006
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- 5 C 18.06 -, NVwZ-RR 2007, 2003 ff.,
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- 5 C 14.06 - und - 5 C 16.06 -, beide in Juris.
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Diese Rechtsprechung ist gerade auch in Fällen von Klägern mit russischer
Staatsangehörigkeit und russischem Wohnsitz ergangen, ohne für Personen, die aus
dem Gebiet der ehemaligen UdSSR stammen, in Bezug auf die Anforderungen an die
Einhaltung der Nacherklärungsfrist des Art. 3 Abs. 7 Satz 1 RuStAÄndG 1974
abweichende Tatbestandsvoraussetzungen zu statuieren. Danach kommt es
insbesondere nicht auf eine endgültige Klärung der Staatsangehörigkeit der Mutter an,
vielmehr genügt es, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Mutter
möglicherweise deutsche Staatsangehörige sein könnte.
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Dieser Maßstab verstößt auch nicht gegen das im Kammerbeschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 729/96 -, NVwZ-RR 1999,
403 f., zur Anwendung gebrachte Verfassungsrecht. Soweit der Kläger vorträgt, das
Bundesverfassungsgericht habe in der genannten Entscheidung die
Verfassungsmäßigkeit des Art. 3 RuStAÄndG 1974 nur unter der Voraussetzung bejaht,
dass die Erklärungsfrist erst dann zu laufen beginne, wenn die Staatsangehörigkeit der
Mutter feststehe, ist eine derartige Beschränkung dem genannten Beschluss nicht zu
entnehmen. Sie ist aus verfassungsrechtlichen Gründen auch ersichtlich nicht geboten,
weil es keinen sachlichen Grund gibt, in den Fällen, in denen die Betroffenen
begründeten Anlass für die Annahme haben, möglicherweise deutsche
Staatsangehörige zu sein, den verfassungsrechtlich legitimen Zweck der
Erklärungsfristen, nämlich alsbald Gewissheit darüber zu erlangen, wer von der
Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit Gebrauch macht,
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vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 729/96 -, a.a.O.,
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gegenüber dem Interesse der Betroffenen an einer weiteren Untätigkeit bis zur
endgültigen Klärung der Staatsangehörigkeit der Mutter zurücktreten zu lassen.
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Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2007 - 12 A 999/05 -.
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Soweit der Kläger mit - nach Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO
eingegangenem - Schriftsatz vom 17. Februar 2006 allgemein auf das nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Art. 3 Abs. 7
RuStAÄndG 1974 schützenswerte Vertrauen auf die Regelung des § 4 RuStAG a.F.
hinweist und darüber hinaus auch mit Blick auf § 25 RuStAG die besondere Situation
von Müttern in der Sowjetunion mit deutscher und sowjetischer Staatsangehörigkeit
herausstellt, die nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Staatsangehörigkeit des
Aufenthaltsstaates erworben hätten und aufgrund dessen nicht als "Normalfall" i.S.d.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angesehen werden könnten, gebieten
es auch diese Umstände nicht, in den Fällen, in denen - wie hier - der
Erklärungsberechtigte aufgrund konkreter Umstände die Möglichkeit der deutschen
Staatsangehörigkeit seiner Mutter ernsthaft in Betracht ziehen muss, trotz einer sich
daran anschließenden verschuldeten Untätigkeit des Erklärungsberechtigten die
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Möglichkeit eines Erklärungserwerbs über die Nacherklärungsfrist hinaus offen zu
halten. Denn die von dem Bundesverfassungsgericht für "Normalfälle" als ausreichend
erachtete Regelung des Art. 3 Abs. 6 RuStÄndG wird zur Vermeidung von Härten durch
Art. 3 Abs. 7 RuStAÄndG ergänzt. Nach dieser Regelung wird die Kollision von
Grundrechten und dem Grundsatz der Rechtssicherheit zugunsten des
Erklärungsberechtigten dahingehend aufgelöst, dass sämtliche rechtlichen und/oder
tatsächlichen Umstände, die die individuelle Lebenssituation des
Erklärungsberechtigten prägen, und ihn ohne eigenes Verschulden daran hindern, die
Erklärung abzugeben - wie etwa unzureichende Informationsmöglichkeiten auf dem
Gebiet der ehemaligen UdSSR oder Maßnahmen des Aufenthaltsstaates, die den
Erklärungsberechtigten daran hindern, seinen Aufenthalt in die Bundesrepublik
Deutschland zu verlagern (vgl. Art. 3 Abs. 7 Satz 2 RuStAÄndG 1974) -, zu seinen
Gunsten berücksichtigt werden.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. März 2007
14
- 12 A 999/05 -.
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Muss aber von einer schuldhaften Versäumung der Nacherklärungsfrist ausgegangen
werden, kann in der Anwendung der für alle Verschuldensfälle in gleicher Weise
geltenden Rechtsfolge keine willkürliche Ungleichbehandlung und damit auch kein
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und 2 GG gesehen werden.
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Die Anwendung dieses Maßstabes durch das Verwaltungsgericht begegnet ebenfalls
keinen ernstlichen Zweifeln. Das Verwaltungsgericht hat den begründeten Anlass für
den Kläger, sich hinreichende Kenntnisse über die mögliche deutsche
Staatsangehörigkeit seiner Mutter zu verschaffen, darin gesehen, dass in der Familie
offenbar die Überzeugung bestanden habe, es sei zur Einbürgerung aller
Familienmitglieder gekommen. Auch die nicht abgesandten Anfragen der Mutter des
Klägers an das Bundesarchiv und die Wehrmachtsauskunftsstelle ließen zumindest die
Vermutung erkennen, dass es möglicherweise zu einer Einbürgerung gekommen sei.
Des weiteren habe die Mutter des Klägers bereits in ihrem Aufnahmeantrag vom 12.
April 1992 neben dem Aufenthalt der Familie in Deutschland in den Jahren 1943 bis
1945 angegeben, dass ihr Vater Soldat der deutschen Wehrmacht gewesen sei. Auch
wenn die Zugehörigkeit zur Wehrmacht nicht zwingend den Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit vorausgesetzt habe, lege dieser Sachverhalt doch immerhin die
Möglichkeit nahe, dass vor der Einberufung zur Wehrmacht die deutsche
Staatsangehörigkeit vom Betroffenen und auch von Familienangehörigen erworben
worden sei.
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Dass sich aus diesen konkreten Umständen kein Anlass für den Kläger zu weiteren
Erkundigungen in Bezug auf die mögliche deutsche Staatsangehörigkeit seiner Mutter
ergeben hätten, hat der Kläger nicht behauptet. Er ist auch der Feststellung des
Verwaltungsgerichts nicht entgegengetreten, aus seinem Vortrag erschließe sich nicht,
dass er von diesen Umständen erst nach Dezember 1999 Kenntnis erlangt habe, und
deshalb die im Jahr 2000 erstmals abgegebene Erwerbserklärung noch als rechtzeitig
gewertet werden könne.
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Soweit geltend gemacht wird, es wäre zu klären gewesen, wann Hinweise i.S.d.
Rechtsprechung "deutlich" seien, ist diese Klärung für den vorliegenden Einzelfall in der
angefochtenen Entscheidung erfolgt. Die des weiteren geltend gemachte
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"Widersinnigkeit" liegt nicht vor, da, wie oben dargelegt, die endgültige Feststellung der
deutschen Staatsangehörigkeit der Mutter nicht Voraussetzung für den Lauf der
Nacherklärungsfrist ist, sondern dieser unabhängig von einer derartigen Feststellung
und damit bereits vorher beginnen kann.
Das Verwaltungsgericht hat für die Beurteilung, wann die Nacherklärungsfrist des Art. 3
Abs. 7 Satz 1 RuStAÄndG 1974 abgelaufen ist, mit Blick auf die hier in Betracht
kommenden Zeitpunkte der Kenntniserlangung auch zutreffend auf die Kenntnis des seit
Februar 1981 volljährigen Klägers abgestellt (Art. 3 Abs. 4 RuStAÄndG 1974). Bis zum
Eintritt der Volljährigkeit wäre dem Kläger das Wissen seiner bis dahin
erklärungsberechtigten Mutter zuzurechnen gewesen (Art. 3 Abs. 5 Satz 1 RuStAÄndG
1974),
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vgl. BVerwG, Urteile vom 16. November 2006 - 5 C 14, 16 und 18.06 -, a.a.O.,
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für die die vom Verwaltungsgericht festgestellten und den Handlungsbedarf
begründenden Umstände erst recht gälten.
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Dementsprechend weist die Rechtssache keine besonderen tatsächlichen oder
rechtlichen Schwierigkeiten i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
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Angesichts der Klärung der - auch für Personen aus der ehemaligen UdSSR geltenden -
materiell-rechtlichen Anforderungen an die Nacherklärungsfrist des Art. 3 Abs. 7 Satz 1
RuStAÄndG 1974 durch die oben genannten Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts hat die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung
i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Auch auf eine grundsätzliche Bedeutung bzw. eine
Divergenz i.S. von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO wegen eines Widerspruchs zwischen dem
angefochtenen Urteil in Verbindung mit dem darin genannten Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juni 1998 - 1 C 6.96 - (DVBl. 1999, 169) und dem
oben genannten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts beruft der Kläger
sich zu Unrecht. Wie bereits dargelegt, ist dem Kammerbeschluss des
Bundesverfassungsgerichts eine Beschränkung dahingehend, dass der Lauf der
Nacherklärungsfrist erst dann beginnt, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit der
Mutter feststeht, nicht zu entnehmen.
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Soweit eine grundsätzliche Bedeutung mit dem Widerspruch zwischen der
angefochtenen Entscheidung und dem Beschluss des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts vom 27. Juli 1998 - 13 L 5556/97 - begründet werden soll,
kann entgegen der Auffassung des Klägers dieser - nicht zuletzt mit Blick auf die 1963
erfolgte Heirat der Mutter des Klägers im Verfahren des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts mit einem Ausländer - besonders gelagerten
Einzelfallentscheidung schon nicht ohne weiteres der allgemeine Rechtssatz
entnommen werden, dass die Nacherklärungsfrist des Art. 3 Abs. 7 Satz 1 RuStAÄndG
1974 stets nur dann zu laufen beginne, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit der
Mutter (etwa aufgrund der Erteilung eines Staatsangehörigkeitsausweises) feststehe. Im
Übrigen ist nichts dazu vorgetragen, dass im Hinblick auf den Beschluss des
Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nach der aktuellen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts noch Bedarf für eine weitergehende höchstrichterliche
Klärung besteht.
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Auch die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) greift nicht
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durch. Für eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nichts
ersichtlich. Ausgehend von dem - zutreffenden - rechtlichen Maßstab des
Verwaltungsgerichts konnte die endgültige Klärung und Feststellung der
Staatsangehörigkeit der Mutter des Klägers ohne weiteres offen bleiben.
Schließlich lässt sich entgegen dem Vorbringen des Klägers aus dem Umstand, dass
Art. 3 - 5 RuStAÄndG 1974 aufgrund des Art. 2 des Ersten Gesetzes über die
Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des
Innern vom 19. Februar 2006, BGBl. I S. 334, mit Wirkung ab dem 1. August 2006
aufgehoben worden sind, nicht ableiten, dass nunmehr ein Anspruch auf die Urkunde
über den Erklärungserwerb besteht. Soweit Art. 3 RuStAÄndG 1974 für den Zeitraum bis
zu seinem Außerkrafttreten Geltung beansprucht, sind auch die Fristbestimmungen des
Art. 3 Abs. 6 und 7 RuStAÄndG 1974 geltendes Recht und damit verbindlich. Mit dem
Zeitpunkt seines Außerkrafttretens ab dem 1. August 2006 ist das gesamte
Optionsmodell und die damit verbundene Möglichkeit eines Erklärungserwerbs
vollständig entfallen, was im Fall des Klägers, der die Einhaltung der
Nacherklärungsfrist des Art. 3 Abs. 7 Satz 1 RuStAÄndG 1974 und damit einen
erfolgreichen Erklärungserwerb nicht darzulegen vermocht hat, auch nicht zu einem
Rechtsentzug führt.
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Vgl. im Übrigen zum Beweggrund für die Aufhebung: Begründung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung vom 3. November 2005 - BT-Drucks. 16/28 S. 16 f.;
Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Juni 2005 zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung, BT-Drucks. 16/28, Anlage 2, S. 29; Gegenäußerung der
Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 16/28, Anlage 3, S.
31.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
erfolgt gem. § 72 Nr. 1 i.V.m. §§ 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 und 3 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 72 Nr. 1 GKG i.V.m. §§ 68
Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist
rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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