Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.08.1999

OVG NRW: pflege, krankenversicherung, eltern, sozialhilfe, vergleich, krankenkasse, versorgung, atembeschwerden, behandlung, höchstdauer

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 16 B 1362/99
23.08.1999
Oberverwaltungsgericht NRW
16. Senat
Beschluss
16 B 1362/99
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 2 L 447/99
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens vor
dem Oberverwaltungsgericht.
G r ü n d e :
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren ist nach §
166 VwGO iVm § 114 ZPO abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung des Antragstellers aus
den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Es kann dahinstehen, ob dem im Rahmen eines Antrags auf Zulassung der Beschwerde
geltenden Erfordernis der Darlegung der Zulassungsgründe (vgl. § 146 Abs. 5 Satz 3
VwGO) genügt ist. Das ist vorliegend zweifelhaft, weil keiner der gesetzlichen
Zulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 VwGO entsprechend) eindeutig benannt worden ist und
nach der einleitenden Formulierung im Rechtsmittelschriftsatz nicht hinreichend klar zum
Ausdruck bringt, ob der Antrag auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 oder auf § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO
gestützt werden soll. Auch wenn das Vorbringen des Antragstellers - dem überwiegenden
Anschein folgend - allein als Geltendmachung des Beschwerdezulassungsgrundes
entsprechend § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aufgefaßt wird, bleibt der zuletzt auf die
Übernahme der Behandlungspflege im Umfang von täglich 10 Stunden beschränkte Antrag
ohne Erfolg, weil jedenfalls die materiell-rechtlichen Voraussetzungen dieses
Zulassungsgrundes nicht vorliegen; der angefochtene Beschluß unterliegt im Ergebnis
keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO setzt voraus,
daß der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen
Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
(Anordnungsgrund) vom jeweiligen Antragsteller glaubhaft gemacht werden (vgl. § 123
Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Daran fehlt es hier.
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Bezogen auf das Erfordernis des Anordnungsgrundes fehlt es an einer hinreichenden
Glaubhaftmachung, daß ohne die begehrte einstweilige Anordnung die Sicherstellung der
vom Antragsteller benötigten Pflege in Frage gestellt wäre. Gegen eine dahingehende
Besorgnis spricht bereits, daß für den Antragsteller im sozialgerichtlichen Eilverfahren ein
Vergleich akzeptiert worden ist, der im Umfang von 10 Stunden am Tag offen läßt, wie die
vom Antragsteller benötigte Überwachung und Pflege gewährleistet werden soll. Selbst
wenn die Beteiligten des Verfahrens vor dem Sozialgericht Dortmund übereinstimmend
davon ausgegangen sein sollten, daß der auf die Grundpflege entfallende (Zeit-)Anteil aus
dem Gesamtbetreuungsaufwand "herausgerechnet" werden muß und in den
Verantwortungsbereich des Sozialhilfeträgers fällt, kann das eine so weit gehende
vorläufige Freistellung des Krankenversicherungsträgers nicht erklären; denn das
Vorbringen des Antragstellers kann nicht dahingehend verstanden werden, daß die nicht
geregelten täglichen 10 Stunden insgesamt dem Grundpflegebedarf zuzuordnen seien.
Vielmehr spricht der Vergleich dafür, daß die Eltern des Antragstellers damit eine Lösung
akzeptiert haben, die jedenfalls vorläufig ihre weitere Beteiligung an der
Behandlungspflege des Antragstellers einschließt. Auch unter Berücksichtigung des
Rechtsgedankens aus § 46 Abs. 2 SGB I, der einen Leistungsverzicht zu Lasten Dritter für
unwirksam erklärt, kann nunmehr nicht die gesamte Betreuung - ohne jegliche
Eigenleistung - als ungedeckter sozialhilferechtlicher Bedarf geltend gemacht werden.
Im übrigen ist auch derzeit noch nicht mit der notwendigen Deutlichkeit dargelegt, daß ohne
eine einstweilige Regelung die Weiterführung der Behandlungspflege durch den seit Ende
des vergangenen Jahres tätigen ambulanten Pflegedienst in Frage gestellt ist. Die in das
verwaltungsgerichtliche Verfahren eingeführten Bescheinigungen der Inhaberin des
Pflegedienstes, Frau Trispel-Becker, wonach ohne eine Klärung der Kostentragung die
Pflege nicht weiter übernommen werden könne bzw. reduziert werden müsse, sind (auch)
in zeitlicher Hinsicht unbestimmt und im übrigen schon deshalb nicht Ausdruck einer
besonderen Dringlichkeit, weil sie - bei weitgehend übereinstimmendem Wortlaut - im
Abstand von mehr als vier Monaten, nämlich am 15. Februar 1999 und am 22. Juni 1999,
an die Eltern des Antragstellers gerichtet worden sind. Hinzu kommt, daß sich der vorerst
ungeklärte Teil der Behandlungspflegekosten zuletzt weiter verringert hat, nachdem die für
den Antragsteller zuständigen Krankenkasse erklärt hat, vorläufig die Kosten nicht nur für
10,5 Stunden, sondern nunmehr für 14 Betreuungsstunden am Tag zu übernehmen.
Außerdem stehen aufgrund der Leistungen der Pflegeversicherung und des
Antragsgegners finanzielle Mittel zur Verfügung, durch deren Einsatz Kosten für weitere
Zeiten beglichen werden können. Zudem dürfte die Notwendigkeit einer vollzeitigen
Behandlungspflege des Antragstellers unter Berücksichtigung der neueren
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht mehr in Frage stehen,
vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. Januar 1999 - B 3 KR 4/98 R -, ZfS 1999, 108
(Kurzwiedergabe) und Juris (Volltext),
so daß sich insoweit die Unsicherheiten verringert haben dürften.
Weiterhin ist bisher nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden, daß eine Beteiligung der
Mutter des Antragstellers an der krankheitsbezogenen Pflege und Beaufsichtigung nicht
einstweilen im bisherigen Umfang von durchschnittlich etwa 6,5 Stunden am Tage
fortgesetzt werden kann. In Anbetracht der ärztlicherseits angenommenen Befähigung der
Mutter zu dieser Pflege und der inzwischen mehr als halbjährigen praktischen Bewährung
dürften hiermit zumindest bei Vermeidung einer dauerhaften Überforderung keine Risiken
für den Antragsteller verbunden sein. Das zuletzt vorgelegte ärztliche Attest (wohl vom 15.
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Juli 1999) läßt jedenfalls nicht mit der nötigen Klarheit hervortreten, ob es sich bei dem
beschriebenen Erschöpfungssyndrom der Mutter um eine zeitweilige Erscheinung oder
doch um die Auswirkung einer fortdauernden und nicht weiter hinnehmbaren
Überbeanspruchung handelt. Vor allem aber muß sich der Antragsteller entgegenhalten
lassen, daß seine Eltern in der Vergangenheit Angebote des Antragsgegners zur
Unterstützung bei der Hausarbeit bzw. bei der Betreuung der anderen Kinder ohne
überzeugenden Grund ausgeschlagen haben. Obwohl sich diese - wohl bis zuletzt -
angebotene Unterstützung nicht auf die hier streitige Behandlungspflege für den
Antragsteller bezieht, könnte doch die Mutter des Antragstellers hierdurch spürbar entlastet
werden. Schließlich wäre auch glaubhaft zu machen, was nach einer gewissen Zeit der
Einübung einer Beteiligung des Vaters des Antragstellers an der in Rede stehenden Pflege
durchgreifend entgegensteht. Selbst wenn eine solche Beteiligung des Vaters mit
Rücksicht auf seine berufliche Beanspruchung auf die Wochenenden beschränkt wäre und
insgesamt einen vergleichsweise geringen Umfang hätte, wäre hierdurch jedenfalls in
Verbindung mit der vom Antragsgegner angebotenen Hilfe im Haushalt nach Überzeugung
des Senats eine Entlastung der Mutter zu erzielen, die den Erlaß einer einstweiligen
Anordnung als entbehrlich erscheinen läßt.
Der Senat stimmt des weiteren im Ergebnis mit dem Verwaltungsgericht darin überein, daß
auch ein Anordnungsanspruch nicht gegeben ist, wobei als Anspruchsgrundlage § 37 Abs.
1 BSHG oder die §§ 68 ff. BSHG in Betracht kommen. Eine weitergehende Verpflichtung
auf der Grundlage der §§ 68 ff. BSHG, die über die bereits vom Antragsgegner anerkannten
und teilweise auch durch Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz abgedeckten
Bedarf hinausginge, scheitert schon daran, daß der Antragsteller einen weiteren (Grund-
)Pflegebedarf im Sinne der §§ 68 ff. BSHG nicht geltend gemacht hat. Vielmehr verhält es
sich ausschließlich so, daß für den Antragsteller in weiterem Umfang als bisher eine
unmittelbar auf die Linderung seiner gesundheitlichen Einschränkungen, insbesondere der
Atembeschwerden, abzielende und in diesem Sinne fachlich kompetente Pflege begehrt
wird. Eine derartige Pflege wird von den §§ 68 ff. BSHG nicht erfaßt.
Nach § 37 Abs. 1 BSHG ist (bedürftigen) Kranken Krankenhilfe zu gewähren; diese Hilfe
umfaßt neben der hier nicht in Rede stehenden ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung,
der Versorgung mit Arzneimitteln, Verbandsmitteln und Zahnersatz sowie der
Krankenhausbehandlung auch sonstige zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung
erforderliche Leistungen (§ 37 Abs. 2 Satz 1 BSHG), wobei vorliegend die
Leidenslinderung im Vordergrund stehen dürfte. Einem Anspruch des Antragstellers auf
Leistungen nach dieser Vorschrift dürfte aber entgegenstehen, daß er insoweit im vollen
benötigten Umfang einen iSv § 2 Abs. 1 BSHG vorrangigen Anspruch auf
Behandlungspflege gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 des Fünften Buches des
Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) - gegen seine
Krankenversicherung hat. Einen Anhaltspunkt dafür, daß der Krankenversicherungsträger
diese Pflege - unabhängig vom Bedarf - nur bis zu einer bestimmten Höchstdauer oder
einem bestimmten Höchstbetrag erbringen müßte und im übrigen auf den Träger der
Sozialhilfe verweisen könnte, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Insbesondere gibt es
keinen gesetzlichen Anknüpfungspunkt für die Annahme, die sozialhilferechtliche
Leistungsverbürgung gehe weiter als die Verpflichtung der Krankenversicherungsträger.
Vielmehr soll nach § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG die sozialhilferechtliche Krankenhilfe in der
Regel (nur) den Leistungen entsprechen, die nach den Vorschriften über die gesetzliche
Krankenversicherung gewährt werden. Bereits damit ist grundsätzlich klargestellt, daß die
Sozialhilfe in diesem Bereich nicht dazu dienen soll, für einen vom jeweiligen Träger der
Krankenversicherung nicht zu übernehmenden Bedarf aufzukommen; vielmehr begrenzt
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der Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Art der
Leistungen sowie hinsichtlich der näheren Leistungsmodalitäten zugleich den
anerkennenswerten Bedarf iSv § 37 BSHG.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Juni 1993 - 5 C 11.91 -, BVerwGE 92, 336 = FEVS 44, 265
(266), und vom 30. September 1993 - 5 C 49.91 -, BVerwGE 94, 221 = FEVS 44, 313 (316).
Darüber hinaus kann Krankenhilfe nach § 37 BSHG ergänzend lediglich dann in Betracht
kommen, wenn die krankenversicherungsrechtlichen Leistungen der Höhe nach begrenzt
sind, wenn also dem Versicherten bei der Erbringung einer - notwendigen - medizinischen
Leistung eine Eigenbeteiligung zugemutet wird, die von dem Leistungsempfänger im
Einzelfall nicht getragen werden kann. Die in § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG angeordnete
Beschränkung der sozialhilferechtlichen Krankenhilfe auf den Leistungsrahmen der
gesetzlichen Krankenversicherung wirkt sich mit anderen Worten dann nicht
anspruchsausschließend aus, wenn die Leistungen der Krankenversicherung trotz
grundsätzlich anerkannter Notwendigkeit - ausnahmsweise - der Höhe nach begrenzt sind.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Juni 1993 - 5 C 11.91 - und vom 30. September 1993 - 5 C
49.91 -, jeweils aaO.
Um eine derartige "Eigenbeteiligung" wie etwa bei der Beteiligung an den Kosten einer
Zahnersatzbehandlung oder einer Krankenhausbehandlung (vgl. § 39 Abs. 4 SGB V)
handelt es sich vorliegend indessen nicht.
So auch BSG, Urteil vom 28. Januar 1999 - B 3 KR 4/98 R -, aaO.
Soweit die für den Antragsteller zuständige Krankenkasse die Auffassung vertritt, eine über
den bisherigen Umfang hinausgehende Leistung sei wegen der Möglichkeit einer
teilweisen Übernahme der Behandlungspflege durch die Eltern des Antragstellers
entbehrlich, kann das nicht zu einem ergänzenden Anspruch auf Krankenhilfe iSv § 37
BSHG führen. Denn die Frage, inwieweit für die Eltern des Antragstellers eine Beteiligung
an der Pflege des Antragstellers möglich und zumutbar ist, stellt sich für das
Sozialhilferecht in der gleichen Weise wie im Recht der sozialen Krankenversicherung.
Der Nachrang der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 BSHG gegenüber dem
krankenversicherungsrechtlichen Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V kann auch nicht mit
dem Hinweis in Frage gestellt werden, daß Zeiten der Grundpflege aus dem
Krankenpflegebedarf "herauszurechnen" seien. Vielmehr folgt aus der vom Antragsteller
und seiner Krankenversicherung angezogenen Entscheidung des Bundessozialgerichts
- Urteil vom 28. Januar 1999 - B 3 KR 4/98 R -, aaO. -,
daß die "Herausrechnung" gerade nicht zeitbezogen zu erfolgen hat, sondern
wertbezogen. Das Bundessozialgericht hat dargelegt, es lasse sich ermitteln, welche
Kosten für die Grundpflege (und für die hauswirtschaftliche Versorgung) anfielen, wenn die
Pflegekasse eine gesonderte Kraft mit der Erledigung dieser Aufgaben beauftragen müßte.
Diese Kosten müßten von der Pflegekasse (und erforderlichenfalls der Sozialhilfe)
getragen werden, wobei sich diese Verpflichtung jedoch auf den dem Pflegebedürftigen
zustehenden Wert der Pflegesachleistungen beschränke. Dieser wertbezogenen
Betrachtungsweise dürfte nach Auffassung des Senats zu folgen sein. Denn bei einer
zeitbezogenen Trennung des Behandlungspflege- und des Grundpflegebedarfs wäre der
Versicherte bzw. an seiner Stelle der Sozialhilfeträger gehalten, die im Vergleich zur
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Behandlungspflege geringere Anforderungen stellende Grundpflege zu dem besonders
hohen Stundensatz Behandlungspflege zu übernehmen.
Schließlich kann ein im Wege der einstweiligen Anordnung zu deckender
sozialhilferechtlicher Bedarf auch nicht darauf gestützt werden, daß der Antragsteller an
einer Durchsetzung seiner Ansprüche gegen den Krankenversicherungsträger gehindert
ist, weil sowohl der Krankenversicherungsträger als auch das Sozialgericht generell von
einer vorläufigen "Auffangzuständigkeit" des Sozialhilfeträgers ausgehen. Ungeachtet des
Umstandes, daß wegen des Vergleichabschlusses offen geblieben ist, ob das
Sozialgericht Dortmund im Falle einer streitigen Entscheidung der Auffassung des
Krankenversicherungsträgers gefolgt wäre und ohne materiellrechtliche Prüfung schon
wegen der Möglichkeit der Sozialhilfebeantragung einen Anordnungsgrund verneint hätte,
wäre eine solche Vorgehensweise nach Auffassung des Senats auch nicht frei von
rechtlichen Bedenken.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 und 188 Satz 2 VwGO.
Dieser Beschluß ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.