Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.02.2000
OVG NRW: aufschiebende wirkung, vaterschaft, diabetes mellitus, urkunde, eltern, kasachstan, abstammung, familie, gleichstellung, vollzug
Oberverwaltungsgericht NRW, 2 B 2036/99
Datum:
24.02.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 B 2036/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 7 L 1322/99
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Den Antragstellern wird für das Verfahren erster Instanz
Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt K. , H. , beigeordnet.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen
den Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. Mai 1999 wird
wiederhergestellt.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt die
Antragsgegnerin.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 8.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die vom Senat zugelassene Beschwerde ist begründet. Den Antragstellern ist gemäß §
166 VwGO iVm §§ 114 ff ZPO Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz zu
bewilligen, da die erforderliche Aussicht auf Erfolg gegeben ist. Insoweit wird auf die
folgenden Ausführungen verwiesen.
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Der von den Antragstellern sinngemäß gestellte Antrag,
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unter Änderung des angefochtenen Beschlusses die aufschiebende Wirkung ihres
Widerspruchs gegen den Rücknahmebescheid vom 4. Mai 1999 wiederherzustellen,
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hat Erfolg. Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem
öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Rücknahmebescheides und
dem privaten Interesse der Antragsteller fällt zu Gunsten der Antragsteller aus, weil mehr
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dafür spricht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Aufnahmebescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1
VwVfG. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem
er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für
die Vergangenheit zurückgenommen werden. In dem vorliegenden Verfahren ist
zweifelhaft, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift vorliegen, weil einiges dafür
spricht, dass der zurückgenommene Bescheid, nämlich der der Antragstellerin zu 1)
erteilte Einbeziehungsbescheid vom 9. November 1998, entgegen der Ansicht des
Antragsgegnerin rechtmäßig ist.
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Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass der Einbeziehungsbescheid rechtswidrig sei,
weil die Antragstellerin nicht Abkömmling des Herrn M. i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG
sei. Denn die Antragstellerin habe bei ihrer Anhörung im April 1999 in der Außenstelle
des Bundesverwaltungsamtes in F. angegeben, dass sie nicht von Herrn M. abstamme,
vielmehr sei ihr tatsächlicher leiblicher Vater ein ihr unbekannter russischer
Volkszugehöriger. Soweit die Antragstellerin zu 1) sich darauf berufe, dass sie in 1996,
also als Volljährige, von Herrn M. adoptiert worden sei, beständen dafür keine
Anhaltspunkte, da Nachweise für eine Adoption nicht vorgelegt worden seien. Die
vorgelegte Urkunde verhalte sich vielmehr über die Feststellung der Vaterschaft des
Herrn M. , diese sei aber inhaltlich unrichtig.
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Es spricht einiges dafür, dass die Antragstellerin zu 1) Abkömmling des Herrn M. i.S.d. §
27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ist. Abkömmlinge im Sinne dieser Vorschrift sind leibliche
Kinder und Adoptivkinder, zumindest wenn sie als Minderjährige adoptiert worden sind.
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Vgl. Urteil des Senats vom 10. März 1997 - 2 A 86/94 -.
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Zwar ist die Antragstellerin zu 1) nicht biologisch die leibliche Tochter des Herrn M. .
Dennoch dürfte sie aber Abkömmling des Herrn M. i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG sein,
da sie wohl rechtlich als dessen leibliche Tochter anzusehen ist. Die Antragstellerin hat
die Ablichtung einer "Urkunde über die Feststellung der Vaterschaft", ausgestellt am 14.
Mai 1996, vorgelegt. Danach wurde der Bürger M. , W. B. , als Vater des Kindes C. , E.
G. , geboren am 25.11.1973 von der Bürgerin C. , V. A. , festgestellt. Ferner heißt es
darin "Darüber wurde im Buch über Registrierung von Vorgängen über Feststellung der
Vaterschaft am 14.05.1996 eine entsprechende Eintragung unter Nr. 87 vorgenommen."
Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Urkunde sind nicht ersichtlich. Auch die
Antragsgegnerin hat sich nicht darauf berufen, dass die Urkunde gefälscht sei und eine
Vaterschaftsfeststellung gar nicht stattgefunden habe.
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Dieser Urkunde liegen offensichtlich die Art. 50 und 52 des Gesetzbuches der Republik
Kasachstan über Ehe und Familie, Familiengesetzbuch - FamGB - vom 6. August 1969
in der Fassung vom 22. Oktober 1993, abgedruckt bei Bergmann/Ferid, Internationales
Ehe- und Kindschaftsrecht, Loseblatt Stand Juli 1997, Land Kasachstan, S. 66 ff.,
zugrunde. Art. 50 FamGB, der die Feststellung der Abstammung der Kinder von Eltern,
die nicht miteinander verheiratet sind, regelt, bestimmt: "Die Abstammung eines Kindes
von Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind, wird durch gemeinsame Erklärung des
Vaters und der Mutter des Kindes bei den Organen des Standesamtes festgestellt." In
Art. 52 FamGB (Rechte der Kinder, deren Abstammung auf gemeinsamen Antrag der
Eltern festgestellt wurde) heißt es: "Liegt eine Feststellung der Vaterschaft gemäß Art.
50 und 51 des vorliegenden Gesetzbuches vor, haben die Kinder gleiche Rechte und
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Pflichten gegenüber beiden Elternteilen, wie Kinder, die von Personen abstammen, die
miteinander die Ehe geschlossen haben." Danach spricht viel dafür, dass aufgrund der
von dem Vater der Antragstellerin zu 1) vor dem Standesamt abgegebenen Erklärung,
die Antragstellerin sei seine leibliche Tochter, diese nach kasachischem Recht den
Status eines leiblichen ehelichen Kindes erworben haben dürfte. Dieser Status dürfte
auch verbindlich sein, unabhängig davon, ob die der Feststellung zugrunde liegende
Erklärung inhaltlich richtig ist oder nicht. Denn Art. 54 FamGB bestimmt in Satz 4: "Wer
als Vater des Kindes auf seinen Antrag oder auf gemeinsamen Antrag mit der Mutter des
Kindes, eingetragen ist, kann die Vaterschaft nicht bestreiten, wenn im Zeitpunkt der
Antragstellung bekannt war, dass er nicht der physische Vater des Kindes ist." Dies
dürfte bedeuten, dass, sobald die Vaterschaft gemäß Art. 50 durch Anerkenntnis in Form
der Erklärung beim Standesamt festgestellt ist, das Kind gemäß Art. 52 FamGB
gegenüber beiden Eltern die gleichen Rechte und Pflichten wie eheliche Kinder hat.
Das freiwillige Anerkenntnis durch den Vater, welches dem Kind die Gleichstellung mit
einem ehelich geborenen Nachkommen verschafft, stellt somit ein Anerkenntnis mit
Statusfolge dar.
Vgl. Bergmann/Ferid, a.a.O., Kasachstan, S. 44.
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Daraus dürfte sich ergeben, dass die aufgrund der Erklärung vorgenommene
Feststellung der Vaterschaft für die Antragstellerin zu 1) rechtlich allgemein verbindlich
ist, auch wenn feststehen sollte, dass die tatsächlichen Grundlagen für diese Erklärung
nicht vorhanden waren. Infolgedessen spricht vieles dafür, dass die Antragstellerin zu 1)
als Abkömmling des Herrn M. i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG anzusehen ist und der ihr
erteilte Einziehungsbescheid rechtmäßig und der Rücknahmebescheid rechtswidrig ist.
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Diesen Regelungen liegt der gleiche Grundgedanke zu Grunde wie den §§ 1592 ff.
BGB, insbesondere den §§ 1598, 1600 c BGB, wonach ein Vaterschaftsanerkenntnis
nur unter engen, genau bezeichneten Voraussetzungen von bestimmten Personen
angefochten werden kann. Erfolgt dies nicht, gilt das Kind als von dem Manne
abstammend, der die Vaterschaft anerkannt hat. Es ist somit nicht ersichtlich, dass die
Anwendung der Regelungen des kasachischen Rechts über die Anerkennung der
Vaterschaft zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen
Rechts offensichtlich unvereinbar ist (vgl. Art. 6 EGBGB).
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Die danach gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Abwägung zwischen dem privaten
Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs und
dem öffentlichen Interesse der Antragsgegnerin am sofortigen Vollzug der Entscheidung
fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Diese hat nach Erhalt eines
Aufnahmebescheides ihre gesamte Lebensgrundlage im Aussiedlungsgebiet
aufgegeben und ist in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Hinzukommt hier,
dass die Antragstellerin zu 1), die an Diabetes Mellitus leidet, zur Zeit ein Kind erwartet.
Danach erscheint eine Rückkehr in das Aussiedlungsgebiet nicht zumutbar.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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