Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 05.09.2005
OVG NRW: absehen von strafe, unfall, fahrrad, ordnungswidrigkeit, sachschaden, straftat, fahrzeughalter, vergleich, personenschaden, ausnahme
Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 1893/05
Datum:
05.09.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 A 1893/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 11 K 6599/04
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die
mündliche Verhandlung vom 21. März 2005 ergangene Urteil des
Verwaltungsgerichts Köln wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens, mit Ausnahme
etwaiger außergerichtlicher Kosten der Beigeladenen, die diese selbst
zu tragen hat.
Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 14.400,-- EUR
festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Die Antragsschrift zeigt keine - sinngemäß geltend gemachten - ernstlichen Zweifel
an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
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Die Darlegungen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel daran, dass die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 a Abs. 1 Satz 1 StVZO vorgelegen haben.
Die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage setzt nach § 31 a Abs. 1 Satz 1 StVZO
lediglich voraus, dass nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften die
Feststellung des Fahrzeugführers nicht möglich war.
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Die Antragsbegründung zeigt keine ernstlichen Zweifel daran auf, dass im Juni 2003 mit
dem Fahrzeug des Klägers der objektive Tatbestand der Verkehrsunfallflucht und damit
des strafrechtlichen Vergehens nach § 142 StGB erfüllt worden ist. Auf Feststellungen
zum Vorsatz kommt es im Zusammenhang mit einer Fahrtenbuchauflage nicht an, weil
derartige Feststellungen die Ermittlung des Täters voraussetzen und die
Fahrtenbuchauflage gerade dazu dienen soll, diese Voraussetzung in künftigen Fällen
zu erfüllen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 1980 - 7 B 179.79 -, Buchholz 442.16 § 31 a
StVZO Nr. 6.
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Nach § 142 Abs. 1 StGB wird ein Unfallbeteiligter, der sich nach einem Unfall im
Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er 1. zugunsten der anderen
Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines
Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die
Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat oder 2. eine nach den
Umständen angemessene Zeit gewartet hat, ohne dass jemand bereit war, die
Feststellungen zu treffen, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
bestraft. Ein Unfall im Sinne des § 142 StGB ist jedes mit dem Straßenverkehr und
seinen Gefahren ursächlich zusammenhängende Ereignis, durch das ein Mensch zu
Schaden kommt oder ein nicht ganz belangloser Sachschaden verursacht wird.
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Vgl. BGH, Urteile vom 27. Juli 1972 - 4 StR 287/72 -, BGHSt 24, 382 (383), und vom 26.
Mai 1955 - 4 StR 148/55 -, BGHSt 8, 263 (264 f.); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.
Dezember 1996 - 5 Ss 348/96 - 103/96 I -, VRS 93, 165; OLG Hamm, Urteil vom 9.
September 1981 - 6 Ss 1017/81 -, VRS 61, 430.
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Ob ein Sachschaden ganz belanglos ist, ist nach objektiven Maßstäben zu beurteilen.
Insbesondere ist nicht darauf abzustellen, wie sich der Schaden aus rückschauender
Sicht nach seiner Behebung oder Hinnahme durch den Geschädigten ausnimmt,
sondern wie er sich für einen objektiven Beobachter unter Berücksichtigung der
Anschauungen und Gegebenheiten des täglichen Lebens im Augenblick des
schadensstiftenden Verkehrsgeschehens darstellt. Damit sind für die Bedeutsamkeit
des Schadens die Reparaturkosten maßgeblich, die sich im Unfallzeitpunkt unter
Berücksichtigung der Verkehrsanschauung und gewöhnlicher Umstände objektiv als
Folge der Beschädigung abzeichneten.
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Vgl. OLG Hamm, Urteil vom 9. September 1981, a.a.O.; BGH, Urteil vom 17. September
1958 - 4 StR 165/58 -, BGHSt 12, 253 (258); BayObLG, Urteil vom 30. Dezember 1959 -
1 St 656/59 -, VRS 18, 196 (197); OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. Oktober 1965 - 2 Ss
458/65 -, VRS 30, 446.
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Ab einer so bestimmten Schadenshöhe von etwa 20,- bis 25,- EUR kann auch unter
Berücksichtigung der allgemeinen Preissteigerung nicht mehr von einem völlig
belanglosen Schaden gesprochen werden.
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Vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Dezember 1996, a.a.O.; OLG Köln, Beschluss
vom 3. September 1993 - Ss 329 bis 330/93 - VRS 86, 279 (281); Tröndle/Fischer,
StGB, 52. Aufl. 2004, § 142 Rn. 11 Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. 2005, §
142 StGB Rn. 27 f. m.w.N. (25,- EUR nicht mehr belanglos); a. A. Cramer/Sternberg-
Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, § 142 Rn. 9 f. (300,- DM).
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Der Zusammenstoß des Fahrzeugs des Klägers mit dem Fahrrad des Geschädigten, der
in der Antragsbegründung ausdrücklich eingeräumt wird, hat zu einem Schaden am
Fahrrad geführt, der nicht mehr als völlig belanglos anzusehen ist. Bei der fotografisch
dokumentierten vollständigen Verformung des Vorderrades kann nach objektiven
Maßstäben nicht mehr davon ausgegangen werden, dass mit der Geltendmachung von
Ersatzansprüchen vernünftigerweise nicht zu rechnen war. Ein derartiger Schaden, der
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das Fahrrad unbenutzbar werden lässt, wird auch bei einem über drei Jahre alten
Fahrrad vom Eigentümer üblicherweise nicht mehr hingenommen und ist auch
tatsächlich von der Versicherung mit einem pauschalen Entschädigungsbetrag von
100,- EUR ausgeglichen worden. Zu seiner Beseitigung bedarf es einer fachgerechten
Reparatur mit vollständigem Austausch der vorderen eingespeichten Felge. Eine solche
erfordert im Allgemeinen bei den gerichtsbekannten aktuellen Stundensätzen in
Fachwerkstätten und den Materialkosten für Felge und Speichen Kosten in der
Größenordnung von jedenfalls deutlich mehr als 25,- EUR.
Im Hinblick darauf, dass von den Kosten auszugehen ist, die sich im Unfallzeitpunkt
objektiv abzeichneten, kommt es entgegen der Ansicht des Klägers auf eine spezifische
Darlegung des tatsächlich entstandenen Schadens nicht an. Ebenfalls unerheblich ist
danach, ob der Ersatzberechtigte später seine Rechte nach § 15 StVG verliert. Von der
sich objektiv abzeichnenden Schadenshöhe ist wegen der Maßgeblichkeit der bereits
im Unfallzeitpunkt erkennbaren Umstände auch kein Abzug "neu für alt" vorzunehmen.
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Vgl. BayObLG, Urteil vom 30. Dezember 1959, a.a.O.
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Abgesehen davon ist ein solcher Abzug auch im Schadensersatzrecht nur dann
gerechtfertigt, wenn die Reparatur zu einer Vermögensmehrung beim Geschädigten
führt, weil er durch sie Aufwendungen erspart, die er später doch hätte erbringen
müssen. Er ist deshalb nicht vorzunehmen, wenn Teile ersetzt werden, die im
Allgemeinen die Lebensdauer des Fahrzeugs erreichen.
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Vgl. KG, Urteil vom 5. November 1970 - 12 U 724/70 -, NJW 1971, 142 (144); Heinrichs,
in: Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, Vorb vor § 249 Rn. 146 sowie § 249 Rn. 26; Jauernig,
BGB, 11. Aufl. 2004, Vor §§ 249-253 Rn. 40.
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Eine Fahrradfelge ist kein Verschleißteil und muss im Allgemeinen nur ausgetauscht
werden, wenn sie durch einen Unfall oder durch Gewalteinwirkung beschädigt wird. Bei
normalem Gebrauch eines Fahrrades bedarf es grundsätzlich keines Austauschs, so
dass sich die Wertverbesserung für den Geschädigten nicht auswirkt.
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Die Fahrtenbuchauflage erweist sich auch hinsichtlich ihrer Dauer von drei Jahren nicht
als unverhältnismäßig. Zu Recht verweist das Verwaltungsgericht auf die
Rechtsprechung des beschließenden Senats, der für die Frage der Verhältnismäßigkeit
einer Fahrtenbuchauflage auf die Einstufung der Schwere des zugrunde liegenden
Verkehrsverstoßes durch das Punktesystem in der Anlage 13 zur
Fahrerlaubnisverordnung zurückgreift und die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage
schon bei erstmaliger Begehung eines mit einem Punkt bewerteten Verkehrsverstoßes
für gerechtfertigt erachtet.
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OVG NRW, Urteil vom 29. April 1999 - 8 A 699/97 -, NJW 1999, 3279.
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Danach begegnet die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage für eine Dauer von drei
Jahren für einen ganz erheblichen, mit sieben Punkten mit der Höchstpunktzahl zu
bewertenden Verkehrsverstoß, der nicht mehr als Ordnungswidrigkeit, sondern schon
als Straftat mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht ist, im Hinblick auf die
Verhältnismäßigkeit keinen Bedenken.
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Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 10 S 1408/01 -, NZV
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2002, 431 (zwei Jahre bereits bei einem als Ordnungswidrigkeit zu bewertenden
Rotlichtverstoß, für den ein Fahrverbot in Betracht kam).
Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass auch bei einem vergleichsweise
geringen Sachschaden pauschalierend die Punktebewertung nach Anlage 13 zur
Fahrerlaubnisverordnung herangezogen wird. Diese berücksichtigt die unterschiedliche
Schwere von Verkehrsordnungswidrigkeiten und Verkehrsstraftaten und trägt zudem
bereits dem Umstand Rechnung, ob eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe
nach § 142 Abs. 4 StGB erfolgt, indem für derartige Fälle nur sechs Punkte vorgesehen
sind. Die Voraussetzungen hierfür lagen entgegen der Annahme des Klägers bei dem
Verkehrsverstoß im Juni 2003 schon deshalb nicht vor, weil es sich nicht um einen
Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs handelte.
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Vgl. OLG Köln, Urteil vom 28. September 1999 - Ss 390/99 -.
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Die Antragsschrift lässt nicht erkennen, weshalb die Bewertung des als Straftat
anzusehenden Verkehrsverstoßes mit sieben Punkten unzutreffend erfolgt und statt
dessen von der Punktbewertung einer Ordnungswidrigkeit auszugehen sein sollte, nur
weil es nicht zu einem Personenschaden gekommen ist. Im Vergleich zu schweren
Verkehrsordnungswidrigkeiten wiegt eine Verkehrsstraftat wie die Verkehrsunfallflucht
auch dann deutlich schwerer, wenn nur ein vergleichsweise geringer Schaden
entstanden ist.
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Die Ausrichtung an der Punktebewertung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der
Fahrzeughalter, gegenüber dem die Fahrtenbuchauflage ergeht, nicht selbst den
Verkehrsverstoß begangen hat und auch bisher nicht auffällig geworden ist. In einer
Fahrtenbuchauflage liegt insbesondere nicht selbst eine Sanktion. Sie soll nur
sicherstellen, dass künftige Verkehrsverstöße geahndet werden können. Es ist
höchstrichterlich geklärt, dass mit der Auferlegung der Führung eines Fahrtenbuches
das Recht des Betroffenen gewahrt bleibt, sich im Ordnungswidrigkeitenverfahren auf
sein Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen. Das mit der Ausübung dieses Rechts
verbundene Risiko, dass auch zukünftige Verkehrsverstöße ungeahndet bleiben, muss
die Rechtsordnung allerdings nicht von Verfassungs wegen hinnehmen, weil sie sich
damit für einen nicht unbeträchtlichen Teilbereich von vornherein der Möglichkeit
begäbe, durch die Androhung von Sanktionen Verkehrsverstößen und den damit
verbundenen Gefahren namentlich für die anderen Verkehrsteilnehmer im allgemeinen
Interesse vorzubeugen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 1995 - 11 B 7.95 -, Buchholz 442.16 § 31 a
StVZO Nr. 22 = VRS 90, 70; BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 1981 - 2 BvR 1172/81
-, NJW 1982, 568.
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2. Die Berufung ist nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine
Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im
Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von
allgemeiner Bedeutung aufwirft. Eine solche Frage legt die Antragsschrift nicht
ansatzweise dar, indem sie ausführt, "die Verwaltungsbehörden verhängen derartige
Fahrtenbuchauflagen immer häufiger, ohne eigene Ermächtigungsgrundlage für die
Dauer des Fahrverbotes [gemeint ist offensichtlich: Fahrtenbuches] zu besitzen." Im
Übrigen ist in der Rechtsprechung des Senats hinreichend geklärt, dass das in § 31 a
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StVZO eingeräumte Ermessen unter Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen am
Punktesystem nach Anlage 13 der Fahrerlaubnisverordnung auszurichten ist.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. April 1999, a.a.O.
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Einen darüber hinaus gehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Antragsschrift
nicht auf.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 47 Abs. 3 GKG und erfolgt in
Anlehnung an den Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung
von Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327 = DVBl. 2004, 1525).
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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