Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 26.11.1998

OVG NRW (bundesrepublik deutschland, aufschiebende wirkung, antragsteller, privates interesse, überwiegendes interesse, interesse, wirkung, deutschland, prüfung, rücknahme)

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 B 1579/98
Datum:
26.11.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 B 1579/98
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 9 L 939/98
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen
den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Oktober 1997 wird
wiederhergestellt.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt die
Antragsgegnerin.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 16.000,00 DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die vom Senat zugelassene Beschwerde ist begründet. Der von den Antragstellern
(sinngemäß) gestellte Antrag,
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unter Änderung des angefochtenen Beschlusses die aufschiebende Wirkung ihres
Widerspruchs gegen den Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 22. Oktober
1997 wiederherzustellen,
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hat Erfolg. Denn die gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
gebotene Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen an der
sofortigen Vollziehung des Rücknahmebescheides fällt zugunsten der Antragsteller aus.
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Zwar kann nach der im vorliegenden Verfahren allein durchzuführenden summarischen
Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht festgestellt werden, daß der angefochtene
Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Rechtsgrundlage für den Rücknahmebescheid
ist § 48 Abs. 1 und Abs. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), da dieser
Bescheid nicht eine Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür
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Voraussetzung ist (§ 48 Abs. 2 VwVfG ). Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG steht die
Rücknahme eines rechtswidrigen, begünstigenden Verwaltungsaktes grundsätzlich im
Ermessen der Behörde, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist.
Hinsichtlich des Antragstellers zu 1) kann nicht festgestellt werden, daß der ihm erteilte
Aufnahmebescheid vom 6. Dezember 1996, den die Antragsgegnerin durch den
angefochtenen Bescheid vom 22. Oktober 1997 zurückgenommen hat, im Umfang der
erfolgten Rücknahme rechtswidrig ist. Der dem Antragsteller zu 1) gemäß § 27 Abs. 1
Satz 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung
vom 2. Juni 1993, BGBl. I 829, geändert durch das Gesetz zur sozialen Absicherung des
Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz - PflegeVG) vom 26. Mai
1994, BGBl. I 1014 (BVFG), erteilte Aufnahmebescheid gab ihm das Recht auf Einreise
und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Diesen Bescheid hat die
Antragsgegnerin durch den Bescheid vom 22. Dezember 1995 insgesamt
zurückgenommen mit der Begründung, der Antragsteller zu 1) habe keinen Anspruch
auf einen Aufnahmebescheid, der deshalb rechtswidrig sei. Ob die umfassende
Rücknahme des Aufnahmebescheides in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eine Stütze findet,
ist jedoch fraglich. Denn selbst wenn davon ausgegangen wird, daß der Antragsteller zu
1) wegen der fehlenden Vermittlung bestätigender Merkmale im Sinne des § 6 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 BVFG kein deutscher Volkszugehöriger ist und ihm deshalb ein
Aufnahmeanspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG nicht zusteht, steht gleichwohl nicht
fest, daß der ihm aufgrund dieser Vorschrift erteilte Aufnahmebescheid insgesamt
ersatzlos zurückgenommen werden kann. Denn es kann nach der hier allein gebotenen
summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht ausgeschlossen werden, daß
dem Antragsteller zu 1) aus anderen Gründen ein Aufnahmeanspruch zusteht, der ihm
jedenfalls das Recht gibt, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und dort
ständigen Aufenthalt zu nehmen. Die sich im vorliegenden Verfahren stellende Frage,
ob der Antragsteller zu 1) entsprechend seinem Antrag vom 26. September 1994 gemäß
§ 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG einen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides in
Form der Einbeziehung in den Aufnahmebescheid seines mit dem Aufnahmebescheid
vom 4. August 1993 am 22. Dezember 1993 und damit als Spätaussiedler in die
Bundesrepublik Deutschland eingereisten Vaters auch noch nach dessen Anerkennung
als Spätaussiedler durch Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung am 3. März 1994
hat, ist eine schwierige Rechtsfrage, zu deren Beantwortung weder höchstrichterliche
Rechtsprechung noch eine Entscheidung des Senates vorliegt, die der Klärung im
Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muß.
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Die danach gebotene allgemeine Interessenabwägung fällt aber zugunsten des
Antragstellers zu 1) aus.
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Wesentliches Interesse des Antragstellers zu 1) an der Aufrechterhaltung des
Aufnahmebescheides ist, daß dieser Bescheid die rechtliche Grundlage für seinen
weiteren (vorläufigen) Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland darstellen und er
deshalb durch ausländerrechtliche Maßnahmen nicht gezwungen werden kann, in das
Herkunftsgebiet zurückzukehren. Seine (möglicher-weise nur vorübergehende)
Rückkehr in das Herkunftsgebiet ist mit hohem persönlichen, finanziellen und
organisatorischen Aufwand verbunden, weil er das Herkunftsgebiet mit
Aufnahmebescheid unter endgültiger Aufgabe seines dortigen Lebensmittelpunktes
verlassen hat. Da sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister auf Dauer in der
Bundesrepublik Deutschland leben, hat er darüber hinaus auch ein Interesse an einer
Familienzusammenführung im Bundesgebiet. Aus diesen Gründen folgt ein gewichtiges
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privates Interesse des Antragstellers zu 1), den Ausgang des Hauptsacheverfahrens im
Bundesgebiet abwarten zu können.
Hinter diesem privaten Interesse des Antragstellers zu 1) an der aufschiebenden
Wirkung seines Widerspruchs tritt das von der Antragsgegnerin geltend gemachte
öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen
Rücknahmebescheides zurück. Die Antragsgegnerin hat dieses Interesse vor allem
damit begründet, daß der Aufnahmebescheid Wirksamkeit gegenüber anderen
Behörden entfalte und insbesondere der Aufenthalt eines abgelehnten
Aufnahmebewerbers während eines zeitlich nicht absehbaren Rechtsbehelfs- oder
Klageverfahrens zu unzumutbaren finanziellen Belastungen der Kommunen im Bereich
der Sozialhilfe führe. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, daß umfassend gewährte
Eingliederungsmaßnahmen wie z.B. Leistungen bei Krankheit gemäß § 11 BVFG später
nicht mehr zurückgefordert werden könnten. Schließlich könnten aufenthaltsbeendende
Maßnahmen nach Abschluß des Verfahrens nicht mehr zumutbar sein.
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Dieses Vollziehungsinteresse ist jedoch hier unter Berücksichtigung des Charakters des
Aussiedleraufnahmeverfahrens nur von geringem Gewicht. Da auch im Hinblick auf die
mit der Aufnahme verbundenen innerstaatlichen Belastungen vor der Erteilung des
Aufnahmebescheides keine abschließende, sondern lediglich eine "vorläufige Prüfung"
der Spätaussiedlereigenschaft stattfindet,
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, DVBl 1994, 938,
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schließt diese konkrete gesetzliche Ausgestaltung des Aufnahmeverfahrens nicht aus,
daß eine solche Prüfung sich - wie hier durch die Einleitung eines Verfahrens zur
Rücknahme des Aufnahmebescheides - auch nach der Einreise des
Aufnahmebewerbers ins Bundesgebiet noch fortsetzen kann mit der Folge, daß die mit
der Fortführung des Aufnahmeverfahrens im Bundesgebiet unmittelbar verbundenen
Belastungen auch grundsätzlich vom Staat zu tragen sind. Darüber hinaus besteht die
von der Antragsgegnerin genannte Gefahr, gewährte Eingliederungsmaßnahmen
könnten nicht zurückgefordert werden, im vorliegenden Verfahren nicht, da diese
Leistungen nicht von dem Vorliegen eines Aufnahmebescheides abhängig sind,
sondern voraussetzen, daß der Anspruchsberechtigte Spätaussiedler ist. Insoweit
haben die Behörden eine eigene Prüfung durchzuführen oder eine
Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 BVFG zu verlangen.
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Vgl. insoweit Urteil des Senats vom 24. Mai 1995 - 2 A 1461/94 -.
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Abgesehen davon kommen die von der Antragsgegnerin ausdrücklich angeführten
Leistungen gemäß § 11 BVFG im Falle des Antragstellers zu 1) schon deswegen nicht
in Betracht, weil diese nur bei Krankheitsfällen innerhalb der ersten drei Monate nach
der Einreise gewährt werden. Dieser Zeitraum ist inzwischen jedoch längst abgelaufen.
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Weitere Gründe, die ein Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin begründen könnten, das
ein Absehen von der generellen Regelung des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach
Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, rechtfertigt, sind von
der Antragsgegnerin nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich.
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Auch die Antragsteller zu 2) bis 4) haben ein überwiegendes Interesse an der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs. Da dem Widerspruch des Antragstellers
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zu 1) - wie oben dargelegt - gegen den Rücknahmebescheid aufschiebende Wirkung
zukommt, ist er weiterhin im Besitz eines Aufnahmebescheides gemäß § 27 Abs. 1 Satz
1 BVFG, in den seine Angehörigen einbezogen werden können. Gründe, die ihrer
Einbeziehung entgegenstünden, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtskostengesetzes.
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Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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