Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.09.2006

OVG NRW: rechtliches gehör, eltern, familie, geschwister, russisch, gespräch, anhörung, ausnahme, park, bahnhof

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3439/05
Datum:
13.09.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 3439/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 9 K 5328/04
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 15.000 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die Annahme des Verwaltungsgerichts, die deutschen
Sprachkenntnisse der Klägerin beruhten nicht auf einer familiären Vermittlung i.S.d. § 6
Abs. 2 Satz 3 BVFG, nicht zu entkräften.
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Nach der vom Verwaltungsgericht auf der Grundlage der Angaben der Mutter sowie der
Geschwister K. , M. und H. der Klägerin und des im Aufnahmeverfahren ihrer Schwester
G. als Zeuge befragten Onkels väterlicherseits getroffenen Feststellung haben die Eltern
der Klägerin unterschiedliche deutsche Dialekte gesprochen, in denen sie sich nicht
verständigen konnten, so dass sie untereinander Russisch gesprochen haben. Wie das
Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, folgt hieraus, dass die familiäre
Umgangssprache im Wesentlichen Russisch gewesen ist.
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Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hinweist, den Antworten der
Geschwister der Klägerin fehle schon wegen der unklaren Fragestellung die
Aussagekraft, ist dies nicht geeignet, ernstliche Zweifel zu begründen. Die Frage,
welche Sprache innerhalb der Familie gesprochen worden sei, ist hinsichtlich der von
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der Fragestellung erfassten Sprachen (alle Sprachen, die in der Familie gesprochen
worden sind) als auch in Bezug auf den Kreis, innerhalb dessen die jeweilige Sprache
gesprochen worden ist (die Familie, d. h. insbesondere die Eltern, Großeltern und die
Geschwister) hinreichend konkret und ohne Weiteres verständlich. Soweit die
Geschwister übereinstimmend angegeben haben, im Elternhaus kein Deutsch, sondern
nur Russisch gesprochen zu haben, bedarf es auch keiner näheren zeitlichen
Bestimmung, in welchen Zeitraum denn nun kein Deutsch gesprochen worden ist.
Dass gleichwohl gegenüber der Klägerin eine familiäre Vermittlung der deutschen
Sprache in nennenswertem Umfang stattgefunden hat,
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vgl. zu diesem Kriterium: BVerwG, Urteil vom 4. Sep-tember 2003 - 5 C 33.02 -,
BVerwGE 119, 6; Be-schluss vom 29. August 2005 - 5 B 47.05 -; OVG NRW, Beschluss
vom 16. Oktober 2003 - 2 A 4116/02 -, rechtskräftig seit dem Beschluss des BVerwG
vom 20. August 2004 - 5 B 2.04 -; OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006 - 2 A 2926/04 -,
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ist - wie das Verwaltungsgericht festgestellt hat, ohne dass dies von der Klägerin
angegriffen worden ist - den im Erörterungstermin vom 12. November 2004 offenbarten
Sprachkenntnissen der Klägerin nicht zu entnehmen. Bei der ausgeprägten - wenn auch
stark unterschiedlichen - Dialektfärbung der Sprache ihrer Eltern wäre im Falle einer im
wesentlichen durch die Eltern vermittelten Sprachkompetenz zu erwarten gewesen,
dass die Klägerin zumindest im Ansatz die eine oder die andere Dialektfärbung oder
zumindest einzelne Dialektausdrücke verwandt hätte. Wie das Verwaltungsgericht
jedoch - unbestritten - festgestellt hat, waren solche dialektbezogenen Einfärbungen -
ebenso wie im Rahmen ihres Sprachtests in Moskau am 17. März 2003 - nicht zu
bemerken; stattdessen "sprach sie Schuldeutsch mit teilweise fremdsprachlicher
Wortstellung und russischem Akzent".
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Berücksichtigt man zudem die Angaben der Klägerin im Rahmen ihres Sprachtests in
Moskau, dass die Umgangssprache im Elternhaus überwiegend Russisch und "nur
ganz wenig Deutsch" gewesen sei und dass darüber hinaus lediglich die Großeltern
mütterlicherseits Deutsch gesprochen hätten, wenn sie aus Kasachstan zu Besuch
gekommen seien, wird offenkundig, dass seinerzeit deutsche Sprachkenntnisse
allenfalls in nicht nennenswertem Umfang vermittelt worden sein können.
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Bestätigt wird dieses Ergebnis durch den von der Klägerin am 17. März 2003 - im Alter
von 43 Jahren - in Moskau abgelegten Sprachtest. Auf die zutreffende Bewertung des
Verwaltungsgerichts wird gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen. Bezieht
man den Umstand mit ein, dass das unzureichende Ergebnis trotz eines zum damaligen
Zeitpunkt bereits 4 Monate andauernden Deutschkurses mit 6 Stunden in der Woche
(mithin nach immerhin rund 96 Stunden reinem Sprachun-terricht) "erzielt" worden ist,
wird auch hierdurch offenbar, dass der in diesem Sprachtest - wenn überhaupt - noch
zum Ausdruck gekommene Anteil deutscher Sprachkenntnisse, der auf familiärer
Vermittlung beruht, als nicht nennenswert, wenn nicht sogar als völlig unwesentlich
einzustufen ist.
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Der klägerische Hinweis auf die kurze Dauer der Anhörung und die seinerzeit zugrunde
gelegten Anforderungen stellt das Ergebnis des Sprachtests, bei dem die Klägerin von
19 gestellten, einfache Lebenssachverhalte im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG
betreffenden Fragen 12 Fragen (Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?, Gibt es
auch einen See im Park?, Haben Sie in Ihrem Garten schon die Kartoffeln gesteckt?,
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Wie viele Jahren wohnt Ihre Mutter schon in Deutschland?, Wann haben Sie Ihre Mutter
das letzte Mal gesehen?, Was haben Sie in Deutschland gemacht, als Sie dort waren?,
Was haben Sie in Deutschland alles gesehen?, Wo sind Sie in Deutschland überall
gewesen?, Welche Städte haben Sie besucht?, Wie lange dauert Ihr Arbeitstag dort?,
Müssen Sie am Wochenende auch arbeiten?, Ist Ihre Arbeitsstelle weit weg von Ihrer
Wohnung?) von vornherein nicht verstanden und auf die weiteren 7 Fragen (Wie
verbringen Sie denn den Sonntag?, Was gibt es dort bei Ihnen im Park alles zu sehen?,
Waren Sie schon einmal in Deutschland?, Wie gefällt es Ihren Verwandten in
Deutschland?, Was machen Sie beruflich?, Was konkret machen Sie dort?, Wann
stehen Sie morgens auf, wenn Sie zur Arbeit gehen?) bis auf eine Ausnahme jeweils
nur mit einzelnen Worten oder Satzfragmenten geantwortet hat. Diese zutage getretenen
Sprachkenntnisse sind auch unter Berücksichtigung der geringen Anforderung des § 6
Abs. 2 Satz 3 BVFG nicht zum Nachweis geeignet, dass die Klägerin in der Lage ist, ein
einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen.
Für die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, muss sich der
Antragsteller über einfache Lebenssachverhalte aus dem familiären Bereich (z. B.
Kindheit, Schule, Sitten und Gebräuche), über alltägliche Situationen und Bedürfnisse
(Wohnverhältnisse, Einkauf, Freizeit, Reisen, Wetter u. ä.) und die Ausübung eines
Berufs oder einer Beschäftigung - ohne dass es dabei auf exakte Fachbegriffe ankäme -
unterhalten können. In formeller Hinsicht genügt für ein einfaches Gespräch eine
einfache Gesprächsform. Erforderlich ist die Fähigkeit zu einem einigermaßen flüssigen
sprachlichen Austausch in Rede und Gegenrede und in grundsätzlich ganzen Sätzen
über die oben genannten Sachverhalte. Nicht ausreichend ist das Aneinanderreihen
einzelner Worte ohne Satzstruktur oder insgesamt nur stockende Äußerungen; ebenfalls
unzureichend ist ein nur punktuelles Sich-verständlich-Machen, wie z.B. die Frage nach
dem Bahnhof, oder nur eine punktuelle Antwort, wie z.B. die Wegweisung zum Bahnhof.
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Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. September 2003 - 5 C 33.02 - a.a.O. und - 5 C 11.03 -,
DVBl. 2004, 448; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2002 - 6 S 1066/01 -,
DÖV 2003, 38 ff.
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Gemessen hieran ist angesichts der offenbarten Sprachdefizite nicht einmal
ansatzweise erkennbar, dass die Klägerin in der Lage ist, sich über einfache
Lebenssachverhalte in einigermaßen flüssiger Rede und Gegenrede auszutauschen.
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Die kritisierte Kürze der Anhörung ist im wesentlichen dadurch bedingt, dass die
Klägerin, wie bereits dargelegt, den deutlich überwiegenden Teil der Fragen nicht
verstanden und die verstandenen Fragen "zeitsparend" bis auf eine Ausnahme nur mit
einzelnen Worten oder Satzfragmenten beantwortet hat.
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Das - wiederholte - Vorbringen, die Klägerin und ihre Mutter hätten geltend gemacht,
dass die deutsche Sprache innerhalb der Familie gebraucht worden sei, lässt den
Umfang der - vom Verwaltungsgericht im übrigen auch nicht vollständig verneinten -
familiären Vermittlung der deutschen Sprache nicht erkennen. Für das Vorbringen der
Klägerin, wonach bei der Feststellung der Sprachkenntnisse der gut zwei Jahre älteren
Schwester G. S. und des fast 4 Jahre älteren Bruders B. /K. G1. /G2. eine leichte
Dialektfärbung erkennbar geworden sei, finden sich in den diesbezüglichen Protokollen
keine nachvollziehbaren und substantiierten Anhaltspunkte. Abgesehen davon hat das
Verwaltungsgericht, wie oben dargelegt, eine familiäre Vermittlung rudimentärer
Deutschkenntnisse nicht ausgeschlossen, so dass innerhalb dieses Rahmens -
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insbesondere bei älteren Geschwistern - durchaus graduelle Unterschiede bestehen
können.
Dass neben der Mutter der Klägerin auch zwei Geschwistern der Klägerin eine
Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG erteilt worden ist, begründet angesichts der
Ergebnisse des Sprachtests und der Anhörung der Klägerin vor dem Verwaltungsgericht
sowie der eingangs in Bezug genommenen Angaben zum Umfang der Vermittlung der
deutschen Sprache in der Familie kein Indiz dafür, dass die Klägerin aufgrund dieser
Vermittlung in der Lage ist, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen; angesichts
der oben genannten Umstände drängt sich im Gegenteil der Eindruck auf, dass bei der
Erteilung der Bescheinigungen an die Geschwister der Klägerin die Frage der familiären
Vermittlung in den Hintergrund getreten sein dürfte.
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Die darüber hinaus erhobene Verfahrensrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) greift nicht
durch. Soweit die Klägerin die Versagung des rechtlichen Gehörs damit begründet, dass
das Verwaltungsgericht keine weiteren Beweise zum Umfang der familiären Vermittlung
erhoben habe, ist Rügeverlust eingetreten. Die anwaltlich vertretenen Kläger haben
nicht alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft, um sich insoweit rechtliches Gehör
zu verschaffen. Zu den verfahrensrechtlichen Befugnissen, von denen ein Rechtsanwalt
erforderlichenfalls Gebrauch machen muss, um den Anspruch der von ihm vertretenen
Beteiligten auf rechtliches Gehör durchzusetzen, zählt insbesondere auch die Stellung
eines unbedingten Beweisantrags in der mündlichen Verhandlung, der gemäß § 86
Abs. 2 VwGO nur durch einen Gerichtsbeschluss, der zu begründen ist, abgelehnt
werden kann. Die begründete Ablehnung des Beweisantrags ermöglicht es dem
Antragsteller zu ersehen, ob er neue, andere Beweisanträge stellen oder seinen Vortrag
ergänzen muss. Ausweislich des Terminsprotokolls haben die Kläger in der mündlichen
Verhandlung vom 13. Juli 2005 keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt.
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Hinsichtlich der des weiteren erhobenen Aufklärungsrüge fehlt es an der erforderlichen
Darlegung. Die Rüge der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1
VwGO) setzt unter anderem die Darlegung voraus, dass die Nichterhebung von
Beweisen vor dem Tatsachengericht rechtzeitig gerügt worden ist.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. August 1997
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- 8 B 165.97 -.
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Diesen Anforderungen genügt die Darlegung schon deshalb nicht, weil daraus nicht
ersichtlich ist, dass die anwaltlich vertretenen Kläger die Nichterhebung von Beweisen
in der mündlichen Verhandlung am 13. Juli 2005 gegenüber dem Verwaltungsgericht
angesprochen und gerügt haben. Dem insoweit maßgebenden Protokoll der
mündlichen Verhandlung ist eine derartige Rüge nicht zu entnehmen. Auch im
Zulassungsantrag ist hierzu nichts ausgeführt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3
Satz 3 GKG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4
VwGO).
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