Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.11.2005
OVG NRW: öffentliche urkunde, rechtliches gehör, gespräch, aussiedler, belastung, verarbeitung, initiative, form, erwerb, kompetenz
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3678/04
Datum:
23.11.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 3678/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 2 K 4381/03
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird für das Zulasssungsverfahren auf 20.000 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht begründet. Der von den
Klägern allein geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt
nicht vor.
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Das Zulassungsvorbringen vermag nicht die entscheidungstragende Annahme des
Verwaltungsgerichts zu erschüttern, die Sprachkenntnisse der Klägerin zu 1. reichten
nicht aus, um ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen. Die insoweit für die Rü-ge
einer fehlerhaften Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Gerichts angeführten
Gründe reichen nicht aus, die vom Verwaltungsgericht nach Maßgabe von § 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO gewonnene Überzeugung in dem für die Annahme ernstlicher Zweifel
erforderlichen Maß (vgl. BT-Drucks. 13/3993, S. 13) in Frage zu stellen.
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Der Annahme, die Klägerin zu 1. verfüge inzwischen über deutsche Sprachkenntnisse,
die sie in die Lage versetzten, nahezu alle Sätze bzw. Fragen in deutscher Sprache zu
verstehen und auf Deutsch in meist formal vollständigen Sätzen zu beantworten, hat das
Verwaltungsgericht in zulässiger Weise entgegengesetzt, dass der Austausch von
mündlichen Informationen, wie er sich bei der Anhörung der Klägerin zu 1. in der
mündlichen Verhandlung dargestellt hat, andererseits so langsam und an einer anderen
Sprache orientiert stattgefunden hat, dass dennoch nicht von einem Gespräch im Sinne
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des § 6 Abs. 2 BVFG ausgegangen werden könne. Für die Fähigkeit nach § 6 Abs. 2
Satz 3 BVFG, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, ist nämlich ein
einigermaßen flüssiger Austausch in Rede und Gegenrede und grundsätzlich in ganzen
Sätzen erforderlich.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2003
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- 5 C 33.02 -, BVerwGE 119, 6.
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Das Verwaltungsgericht stellt - anders als die Kläger anzunehmen scheinen - nicht etwa
auf irgendwelche inhaltlichen Mängel der von der Klägerin zu 1. gegebenen Antworten
ab, sondern auf die Art und Weise ihres Zustandekommens. Insoweit sind die
Ausführungen in der Zulassungsschrift dazu, inwieweit die Klägerin zu 1. die ihr
gestellten Fragen vollständig und ausreichend beantwortet hat, unergiebig.
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Wenn behauptet wird, die Klägerin zu 1. habe in vollständigen Sätzen geantwortet und
sei vom Richter ohne Probleme verstanden worden, gilt Entsprechendes. Ebensowenig
hat das Verwaltungsgericht behauptet, dass Fragen hätten wiederholt oder umformuliert
werden müssen. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr entscheidend darauf abgestellt,
dass - sobald die Fragen Themen betrafen, die nicht zu dem Standardrepertoire aller
Sprachtests gehören, das den Aufnahmebewerbern den Einstieg leicht machen soll -
deutlich der Eindruck entstanden sei, die Klägerin zu 1. übersetze die Fragen innerlich
in die russische Sprache und die Antworten aus dem Russischen umgekehrt zurück. Die
Antworten seien sehr sehr zögerlich und von Pausen unterbrochen gekommen, in
denen die Klägerin zu 1. nach Worten gesucht habe.
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Zwar trifft es zu, dass der vom Verwaltungsgericht gewonnene Eindruck - mit Ausnahme
der Feststellung, es sei deutlich zu bemerken, wie die Klägerin zu 1. nach Worten suche
- nicht in der Sitzungsniederschrift wiedergegeben ist. Nach § 108 Abs. 1 VwGO hat das
Gericht seine Überzeugung jedoch ausschließlich aus dem Gesamtergebnis des
Verfahrens zu gewinnen. Dazu zählt auch ein in Bezug auf die Sprachkompentenz
Beteiligter in der mündlichen Verhandlung gewonnener Eindruck, der gerade nicht in
dem Protokoll festgehalten sein muss. Da es sich um innere oder sonstwie der
reproduzierenden Wiedergabe beim Diktat des Protokolls weitgehend entzogene
Vorgänge handelt, kann der Sitzungsniederschrift schon deshalb auch keine negative
Publizität zukommen.
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Vgl. zur eingeschränkten Beweiskraft des Sitzungsprotokolls als öffentliche Urkunde in
Hinblick auf den Inhalt von Zeugenaussagen: OLG Stuttgart, Beschluss vom 12.
November 2003 - 1 Ws 248/03 -, Justiz 2004, 213.
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Der Anspruch der Klägerin zu 1. auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) begründet
keine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab - durch Aufnahme in das Protokoll - auf
die mögliche Würdigung des in der mündlichen Verhandlung festgestellten
Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung
regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der
mündlichen Verhandlung ergibt.
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Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1999
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- 9 B 1067.98 -, juris.
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Dass die Wahrnehmungen des Verwaltungsgerichts als solche zutreffen, hat die
Prozessbevollmächtigte der Kläger mit dem Zulassungsantrag nicht substantiiert in
Frage gestellt und kann sie aus eigenem Wissen mangels Anwesenheit in der
mündlichen Verhandlung vom 3. August 2004 auch nicht bestreiten. Allein aus einer
Gegenüberstellung der Verhandlungsdauer mit den in dieser Zeit bewältigten Aufgaben
kann insbesondere nicht schon mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit darauf
geschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei der der Klägerin
zuzugestehenden Zeit für die Verarbeitung und Beantwortung der ihr gestellten Fragen
nicht die wohlwollende Betrachtung an den Tag gelegt habe, die angesichts eines
bisherigen Lebens im nicht deutschsprachigen Ausland und unter Berücksichtigung der
psychischen Belastung in solcher Art Prüfungssituation geboten ist. Angesichts der
ausdrücklichen Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes ist ebenso wenig greifbar, dass das Verwaltungsgericht
bei seinen Anforderungen stockende Äußerungen, die einem „einigermaßen flüssigen
Austausch in Rede und Gegenrede" entgegenstehen, nicht von einem solchen - für das
Verstehen und Reden nicht zwischen Deutschen aufgewachsener Aussiedler typischen
- Suchen nach Worten und stockende Sprechen unterschieden haben soll, bei dem
noch nicht „Rede und Gegenrede soweit oder sooft auseinander liegen, dass von einem
Gespräch als mündlicher Interaktion nicht mehr gesprochen werden kann". Ferner hat
das Verwaltungsgericht insbesondere nicht - wie die Kläger meinen - als
Bewertungskriterium darauf abgestellt, dass die Klägerin zu 1. zu keiner Zeit die
Initiative ergriffen habe, mehr zu sagen, als die Beantwortung der jeweils gestellten
Frage jeweils unbedingt erfordert hätte; aus der Kürze und Einfachheit der Antworten
der Klägerin zu 1. schließt das Gericht gerade noch nicht auf eine mangelnde
Sprachkompetenz.
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Dass dem Bericht über die private „Sprachprüfung vom 26. August 2003" keine
Angaben zur Fähigkeit der Klägerin zu 1. zu entnehmen sind, im Dialog - also spontan -
sich in einigermaßen flüssiger Form über Themen aus dem täglichen Leben, dem
familiären Umfeld oder dem Arbeitsalltag auf Deutsch auszutauschen, wird durch die
Angaben in der Zulassungsschrift zur Qualifikation, Kompetenz sowie behutsamen,
einfühlsamen und sorgfältigen Vorgehensweise der Prüferin B. S. gleichermaßen nicht
in Frage gestellt. Wenn die Prüferin feststellt, dass Hörverständnis und Wortschatz der
Klägerin zu 1. für übliche Alltagsthemen völlig ausreichend sind und eine gute Basis für
den Erwerb weiterer Kenntnisse darstellen, verhält sich das ebenso wenig zur zeitlichen
Komponente der mündlichen Interaktion wie die Einschätzung ihrer Aussprache als
deutlich und gut verständlich oder die Beschreibung ihres Lernvermögens. Es bleibt
vielmehr dabei, dass der Prüfungsbericht an verschiedenen Stellen insoweit allenfalls
unspezifisch von zögernden Antworten der Klägerin zu 1. spricht. Besitzt das Ergebnis
der privaten Sprachprüfung mithin keinen nachhaltbaren positiven Aussagewert dazu,
dass die Klägerin zu 1. auch die Fähigkeit zu einem einigermaßen flüssigen Austausch
in Rede und Gegenrede besitzt, ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht
zur Beurteilung der erforderlichen Sprachkompetenz letztendlich nicht ausschlaggebend
auf diesen privaten Sprachtest abgestellt hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 und 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 4, 66 Abs. 3
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Satz 3 GKG).
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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