Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.08.1997

OVG NRW (der rat, kläger, akteneinsicht, öffentliches interesse, stadt, 1995, erledigung des verfahrens, spielkasino, klageänderung, steuergeheimnis)

Oberverwaltungsgericht NRW, 15 A 3432/94
Datum:
28.08.1997
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 A 3432/94
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 4 K 4026/93
Tenor:
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlußberufung der Kläger wird der der Klage stattgebende
Teil des angefochtenen Urteils wie folgt geändert:
"Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger xxx als Mitglied des Rates der
Stadt xxx auf den Antrag der Kläger vom 20. März 1995 Einsicht in die
die Erhebung von Vergnügungssteuer für das Spielkasino am xxx in xxx
betreffenden Akten zu gewähren."
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Beschluß ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 8.000,-- DM
festgesetzt.
Gründe:
1
I.
2
In den 80er Jahren soll der Beklagte, damals Mitglied des Rates der Stadt xxx und
Bürgermeister, als Rechtsanwalt für xxx, die bis 1991 in xxx ein Spielkasino betrieb, mit
der Stadt xxx eine Vereinbarung über die pauschale Abgeltung der Vergnügungssteuer
geschlossen haben. Nachdem ein Bediensteter des Steueramts der Stadt errechnet
3
hatte, daß der Stadt xxx als Folge dieser pauschalierten Erhebung 333.750,-- DM
Vergnügungssteuer entgangen seien, erschien am 4. September 1992 in einer Zeitung
ein Bericht, in dem es heißt: "Eine interne Nachzahlungsberechnung über 333.750,--
DM versickerte zwischenzeitlich in den Verwaltungskanälen. Der Vorgang wird zur Zeit
geklärt. Es deutet sich an, daß die zuvor vereinbarten Pauschalzahlungen an die Stadt
xxx weit unter dem realen Casino-Umsatz lagen. Bleibt die Frage, wer die zu niedrigen
Steuerpauschbeträge ausgehandelt hat."
Mit Schreiben vom 4. September 1992 beantragte die xxx Fraktion im Rat der Stadt xxx
beim Beklagten, der seit 1989 ehrenamtlicher Oberbürgermeister der Stadt xxx war und
seit 1995 deren hauptamtlicher Oberbürgermeister ist, unter Bezugnahme auf den
Zeitungsbericht, folgende Fragen in der nächsten Ratssitzung beantworten zu lassen:
4
"- Ist es richtig, daß aufgrund einer internen Nachzahlungsberechnung 333 750,- - DM
Steuerschulden gegenüber xxx geltend gemacht werden?
5
- Ist es richtig, daß die zuvor vereinbarten Pauschalzahlungen an die Stadt xxx weit
unter dem realen Umsatz des Spielkasinos lagen?
6
- Wer hat die Pauschalzahlung mit dem Spielkasino beantragt bzw. mit der Stadt xxx
ausgehandelt?
7
- Wer hat diesen Pauschalzahlungen zugestimmt?
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- Hat vor der Zustimmung eine Prüfung des Spielkasinos bezüglich seiner tatsächlichen
Umsätze stattgefunden?"
9
Der Beklagte lehnte die Beantwortung dieser Anfrage unter Hinweis auf die
Notwendigkeit, das Steuergeheimnis der Kasinobetreiberin zu wahren, ab, nachdem
diese ihre Zustimmung zu einer Offenbarung der sie betreffenden Verhältnisse
verweigert hatte. Unter dem 18. Mai 1993 richtete die xxx Fraktion eine neue Anfrage an
den Beklagten, um zu erfahren, in welcher Höhe und für welche Zeit für das Spielkasino
nach dem Ende der Pauschalbesteuerung Vergnügungssteuer erhoben worden sei. Die
Beantwortung dieser Anfrage lehnte der Beklagte ebenfalls unter Hinweis auf das
Steuergeheimnis ab.
10
Am 6. Juli 1993 haben die damaligen Mitglieder der xxx Fraktion im Rat der Stadt xxx
Klage erhoben. Zur Begründung haben sie im wesentlichen vorgetragen: Ihr
Auskunftsrecht ergebe sich aus § 12 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Rates.
Die Allzuständigkeit des Rates und sein Kontrollrecht bezögen sich auf alle
Gemeindeangelegenheiten, auch auf Steuerangelegenheiten. Eine Beantwortung der
Anfragen jedenfalls in nichtöffentlicher Sitzung des Rates stelle kein unbefugtes
Offenbaren von durch das Steuergeheimnis geschützten Verhältnissen im Sinne von §
30 Abs. 2 AO dar.
11
Mit Schreiben vom 13. Januar 1994 beantragten 13 der (ehemaligen) Kläger beim
Beklagten, dem Kläger "Akteneinsicht gemäß § 40 Abs. 3 GO hinsichtlich der
Steuerakten betreffend das Spielkasino xxx zu gewähren." Diesen Antrag lehnte der
Beklagte unter dem 19. Januar 1994 ab, weil die Akteneinsicht in Steuerakten das
Recht auf Wahrung des Steuergeheimnisses beeinträchtige und diesem Recht Vorrang
vor dem Kontrollrecht des Rates einzuräumen sei.
12
Die früheren Kläger haben beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen die unter dem 4. September 1992 sowie unter dem 18. Mai
1993 in zwei Ratsanfragen an ihn gerichteten Fragen der Kläger zum Spielkasino am
xxx in nicht öffentlicher Sitzung zu beantworten,
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hilfsweise,
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den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger als Mitglied des Rates der Stadt xxx
Akteneinsicht im Umfange der Fragestellung des Hauptantrages bezüglich der
Erhebung von Vergnügungssteuer in die betreffenden Akten zu gewähren.
16
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
18
Er hat vorgetragen: Es bestehe die Gefahr, daß er und seine Bediensteten einem
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt würden, wenn sie die Anfragen der
Kläger beantworteten. Es habe bereits eine große Zahl von Indiskretionen gegeben, so
daß eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, daß bei einer Auskunft über
Steuerdaten diese wenig später in der xxx Tagespresse nachgelesen werden könnten.
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Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht der Klage mit dem Hilfsantrag
stattgegeben.
20
Dagegen richtet sich die Berufung des Beklagten.
21
Durch die Kommunalwahl 1994 erhielt die xxx Fraktion im Rat der Stadt xxx, der aus 59
Mitgliedern besteht, eine neue personelle Zusammensetzung. Mit Schreiben vom 20.
März 1995 beantragten die Kläger beim Beklagten die Gewährung von Akteneinsicht in
die das Spielkasino betreffenden Steuerakten durch den Kläger. Auch diesen Antrag
lehnte der Beklagte unter dem 5. April 1995 ab. Mit Schriftsatz vom 24. April 1995 haben
die Kläger, soweit sie nicht schon früher Verfahrensbeteiligte waren, ihren "Eintritt" in
den Rechtsstreit erklärt. Später haben sie klargestellt, daß mit der subjektiven
Klageänderung zugleich Anschlußberufung mit dem Ziel einer Klageänderung habe
eingelegt werden sollen.
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Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte im wesentlichen vor: Entgegen der
Auffassung des Verwaltungsgerichts seien die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Grundsätze über das Aktenvorlagerecht eines parlamentarischen
Untersuchungsausschusses und das Recht auf Wahrung des Steuergeheimnisses im
vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil der Rat kein Legislativorgan sei. Die Gefahr
von Indiskretionen bestehe auch bei der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts durch
ein einzelnes Ratsmitglied.
23
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
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Die Kläger beantragen sinngemäß,
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die Berufung zurückzuweisen und auf ihre Anschlußberufung den der Klage
stattgebenden Teil des angefochtenen Urteils dahingehend zu ändern, daß der
Beklagte verurteilt wird, dem Kläger xxx als Mitglied des Rates der Stadt xxx auf ihren
Antrag vom 20. März 1995 Einsicht in die die Erhebung von Vergnügungssteuer für das
Spielkasino am xxx in xxx betreffenden Akten zu gewähren.
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Zur Begründung tragen sie im wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht habe der
Klage mit dem Hilfsantrag im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die Akteneinsicht durch
ein Ratsmitglied sei kein "Offenbaren" von unter das Steuergeheimnis fallenden
Verhältnissen i.S.d. § 30 Abs. 2 AO, weil der Rat Bestandteil der Gemeindeverwaltung
sei. Jedenfalls sei ein etwaiges "Offenbaren" zulässig, weil es durch die Regelung des
Akteneinsichtsrechts in der Gemeindeordnung gesetzlich zugelassen, zumindest aber
durch ein zwingendes öffentliches Interesse an der Aufklärung der "Spielkasino-Affäre",
über die immer wieder in der Presse berichtet werde, gerechtfertigt sei.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug
genommen.
29
II.
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Die Berufung des Beklagten bleibt erfolglos. Demgegenüber hat die allein zum Zweck
einer Klageänderung eingelegte Anschlußberufung der Kläger Erfolg.
31
Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Das gilt auch für die Anschlußberufung der
Kläger. Daß diese durch den der Klage stattgebenden Teil des verwaltungsgerichtlichen
Urteils, das nur insoweit Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, nicht beschwert sind,
steht der Zulässigkeit der von ihnen eingelegten Anschlußberufung nicht entgegen. Die
Anschlußberufung setzt keine Beschwer des Anschlußberufungsführers voraus.
32
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1962 - IV C 164.59 -, VwRspr. 14 Nr. 214; Kopp,
VwGO, 10. Aufl. 1994, § 127 Rdnr. 6; Meyer-Ladewig; in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, 1996, § 127 Rdnr. 6; Redeker/von
Oertzen/Redeker, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl. 1997, § 127 Rdnr. 4.
33
Entscheidend ist, daß mit der Anschlußberufung mehr erstrebt wird als die bloße
Zurückweisung der Berufung.
34
Vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 7; Redeker/von Oertzen/Redeker, a.a.O., Rdnr. 3.
35
Das ist hier der Fall. Die Kläger streben neben der Zurückweisung der Berufung des
Beklagten eine subjektive und objektive Klageänderung an. Anstelle der früheren
Kläger xxx und xxx, die nicht mehr dem Rat der Stadt xxx angehören, klagen nunmehr
die neuen Ratsmitglieder xxx, xxx, xxx, xxx und xxx zusammen mit den übrigen neun
Klägern. Gegenstand dieser Klage ist der neue Antrag auf Akteneinsicht vom 20. März
1995.
36
Eine solche Klageänderung kann nach einem stattgebenden Urteil erster Instanz nur im
Wege der Anschlußberufung des obsiegenden Klägers erfolgen, weil das im
Berufungsverfahren verfolgte Klagebegehren von dem abweicht, was Gegenstand des
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erstinstanzlichen Verfahrens war.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1962, a.a.O.; OVG NW, Urteil vom 13. September
1988 - 8 A 1239/86 -, NWVBl. 1989, 175 (176); Redeker/von Oertzen/Redeker, a.a.O., §
91 Rdnr. 8; Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 7.
38
Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Die Anschlußberufung der Kläger ist
begründet; die subjektive und objektive Klageänderung ist zulässig.
39
Der Beklagte hat in die Änderung der Klage eingewilligt (vgl. § 91 Abs. 1, 1. Alternative
VwGO). Zwar liegt eine ausdrückliche Einwilligung des Beklagten nicht vor; er hat sich
aber rügelos in seinem Schriftsatz vom 15. November 1995 auf die geänderte Klage
eingelassen (vgl. § 91 Abs. 2 VwGO). Mit diesem Schriftsatz hat der Beklagte einen
Beschluß des Bundesfinanzhofs übersandt, dessen Begründung (ab Seite 18 des
Beschlusses) er dem von den (neuen) Klägern verfolgten Anspruch auf Akteneinsicht
entgegengehalten hat. In den beiden nach der Klageänderung eingegangenen früheren
Schriftsätzen vom 8. Mai und vom 11. Juli 1995 hatte der Beklagte der Klageänderung
ebenfalls nicht widersprochen. Diese Schriftsätze befassen sich nur mit der Klage der
ehemaligen Klägergemeinschaft. Im übrigen hat der Beklagte auch nicht die
Zurückweisung der Anschlußberufung beantragt.
40
Unabhängig von der Einwilligung des Beklagten durch schlüssiges Verhalten ist die
Klageänderung auch deshalb zulässig, weil sie sachdienlich ist. Der Streitstoff der
neuen Klage ist im wesentlichen derselbe wie der der alten Klage. Es kommt hinzu, daß
durch die Zulassung der Klageänderung ein weiterer sonst zu erwartender, von den
Klägern für den Fall der Unzulässigkeit der Klageänderung bereits angekündigter
Prozeß vermieden wird.
41
Die danach zulässigerweise geänderte Klage ist ihrerseits zulässig.
42
Es handelt sich um ein Kommunalverfassungsstreitverfahren, in dem die Kläger als
Mitglieder des Organs "Rat" und der Beklagte als Organ "Oberbürgermeister" über das
Bestehen eines organschaftlichen Akteneinsichtsrechts streiten. Da die Gewährung von
Akteneinsicht schlichtes Verwaltungshandeln darstellt, ist die darauf gerichtete Klage
als allgemeine Leistungsklage - im Rahmen eines
Kommunalverfassungsstreitverfahrens - zu qualifizieren.
43
Vgl. auch Urteil des Senats vom 22. September 1989 - 15 A 1657/87 -, NWVBl. 1991,
115; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10. Februar 1988 - 15 K 2419/87 -, NWVBl. 1989,
101.
44
Die Kläger sind auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog), weil sie geltend machen
können, durch die Weigerung des Beklagten, dem von ihnen benannten Ratsmitglied
Akteneinsicht zu gewähren, in eigenen Mitgliedschaftsrechten - hier aus § 55 Abs. 4
Satz 1, 2. Alternative GO NW - verletzt zu sein.
45
Für die Klage besteht ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Kläger haben unter dem 20. März
1995 beim Beklagten um Akteneinsicht durch den Kläger nachgesucht; diesen Antrag
hat der Beklagte unter dem 5. April 1995 abgelehnt.
46
Die Klage ist auch begründet. Der Beklagte ist gemäß § 55 Abs. 4 Satz 1, 2. Alternative
47
GO NW verpflichtet, dem Kläger Einsicht in die Akten zu gewähren, die die Erhebung
von Vergnügungssteuer bei der ehemaligen Spielkasinobetreiberin betreffen.
Die formellen Voraussetzungen des Akteneinsichtsrechts nach § 55 Abs. 4 Satz 1, 2.
Alternative GO NW liegen vor. Die 14 Kläger sind mehr als ein Fünftel des 59 Mitglieder
umfassenden Rates der Stadt xxx. Sie haben in einem Einzelfall, nämlich dem der
Erhebung von Vergnügungssteuer für das Spielkasino in xxx, beim Beklagten
Akteneinsicht verlangt und dafür das Ratsmitglied xxx benannt.
48
Auch die materiellen Voraussetzungen des Akteneinsichtsrechts sind gegeben.
49
Das Gesetz sieht keine besonderen materiellen Voraussetzungen für die Akteneinsicht
vor. Allerdings kann das Akteneinsichtsrecht durch zumindest gleichrangige gesetzliche
Regelungen über den Schutz von Daten beschränkt oder sogar ausgeschlossen sein.
50
Vgl. Kirchhoff, in: Held u.a., Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, Stand:
Januar 1997, § 55 GO Anm. 4.2 und 6.1; Rehn/Cronauge, Gemeindeordnung Nordrhein-
Westfalen, Stand: November 1995, § 40 Anm. V 4; Roters, in:
Rauball/Pappermann/Roters, Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 1981,
§ 40 Rdnr. 7.
51
Im vorliegenden Fall kommt eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts nur durch das
Steuergeheimnis, § 30 AO, in Betracht, das über § 23 VStG i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c
KAG hier - als Landesrecht - anwendbar ist.
52
Das Steuergeheimnis wird nicht verletzt, wenn der Beklagte dem Kläger die von den
Klägern begehrte Akteneinsicht gewährt. In der Gewährung dieser Akteneinsicht liegt
kein unbefugtes Offenbaren von Verhältnissen eines anderen, die dem Beklagten in
einem Verwaltungsverfahren in Steuersachen bekannt geworden sind (vgl. § 30 Abs. 2
AO).
53
Es ist bereits fraglich, ob die nachgesuchte Akteneinsicht überhaupt "Verhältnisse eines
anderen" im Sinne des Steuergeheimnisses betrifft. Zwar wird dieser Betriff weit
ausgelegt; er soll alle persönlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen, öffentlichen und
privaten Verhältnisse einer Person umfassen.
54
Vgl. OLG Hamm, Beschluß vom 14. Juli 1980 - 1 VAs 7/80 -, NJW 1981, 356 (358);
Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Aufl. 1991, § 355 Rdnr. 4;
Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 46. Aufl. 1993, § 355 Rdnr. 7.
55
Allerdings unterliegen dem Steuergeheimnis nur solche Verhältnisse, an denen ein
Geheimhaltungsinteresse besteht. Diese Einschränkung ergibt sich nicht nur aus Sinn
und Zweck des Steuergeheimnisses, sondern auch aus vergleichbaren Normen wie
etwa der Beschränkung der Vorlage- und Auskunftspflicht von Behörden im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 99 Abs. 1 VwGO) oder der Befugnis der Behörde,
Beteiligten eines Verwaltungsverfahrens Akteneinsicht zu versagen (§ 29 Abs. 2
VwVfG), in denen ausdrücklich die Geheimhaltungsnotwendigkeit zur Voraussetzung für
die ausnahmsweise mögliche Einschränkung des jeweiligen Informationsrechts
gemacht wird.
56
Ob die Akten, in die das Ratsmitglied xxx Einsicht nehmen soll, überhaupt Schriftstücke
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mit geheimzuhaltenden Tatsachen enthalten, ist ungewiß. Der Beklagte hat es
versäumt, den Klägern im einzelnen nachvollziehbar die seiner Meinung nach
bestehende Geheimhaltungsbedürftigkeit darzulegen, etwa die geheimen Daten ihrer
Art nach zu beschreiben, um auf diese Weise die Notwendigkeit der Geheimhaltung und
den Grad der Geheimhaltungsbedürftigkeit zu belegen.
Vgl. auch BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984 - 2 BvE 11 und 15/83 -, DÖV 1984, 754 (757);
BVerwG, Beschluß vom 29. Oktober 1982 - 4 B 172/82 -, NVwZ 1983, 407.
58
Stattdessen hat der Beklagte die Akteneinsicht verweigert mit dem pauschalen Hinweis
auf die Verpflichtung, das Steuergeheimnis zu wahren, und die Gefahr, bei Gewährung
von Akteneinsicht einem Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des
Steuergeheimnisses, § 355 StGB, ausgesetzt zu werden.
59
Welche Rechtsfolge dieses Versäumnis des Beklagten hat, ob es ihn - endgültig -
hindert, sich auf die Pflicht zur Wahrung des Steuergeheimnisses zu berufen, oder ob es
ihn lediglich zu einer "Neubescheidung" der Kläger verpflichtet, braucht nicht
entschieden zu werden. Durch die von den Klägern begehrte Akteneinsicht wird das
Steuergeheimnis schon aus anderen Gründen nicht verletzt, so daß unterstellt werden
kann, daß die Akten geheimhaltungsbedürftige Daten enthalten.
60
Die Gewährung von Akteneinsicht durch ein Ratsmitglied nach § 55 Abs. 4 Satz 1 GO
NW stellt jedenfalls kein "Offenbaren" i.S.d. § 30 Abs. 2 AO bzw. des § 355 Abs. 1 StGB
dar. "Offenbaren" ist jede Mitteilung, auch in Form von Akteneinsicht, über die
geheimzuhaltende Tatsache an einen Dritten, der das Geheimnis noch nicht oder noch
nicht sicher kennt und der nicht zum Kreis der Wissenden oder zum Wissen Berufenen
zählt.
61
Vgl. Lackner, Strafgesetzbuch, 20. Aufl. 1993, § 203 Rdnr. 17; Jähnke, in:
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1989, § 203 Rdnr. 39; Lenkner, a.a.O.,
§ 203 Rdnr. 19, § 355 Rdnr., 14; teilweise a.A. Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 30
Rdnr. 31 m.w.N. und Kühn/Kutter, Abgabenordnung, 16. Aufl. 1990, § 30 Anm. 3.b, die
den letztgenannten Gesichtspunkt beim Merkmal der Befugnis zur Offenbarung prüfen.
62
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Das Ratsmitglied xxx, das nach dem
Willen der Kläger Akteneinsicht nehmen soll, ist "zum Wissen berufen".
63
In der strafrechtlichen Literatur ist anerkannt, daß die Weitergabe an sich durch das
Steuergeheimnis geschützter Daten innerhalb der funktional damit befaßten Verwaltung
(zuständiges Amt einer Behörde einschließlich der Aufsichtsbehörde) kein Offenbaren
steuerlicher Verhältnisse darstellt. Durch Mitteilungen innerhalb derselben Behörde, mit
denen die Angelegenheit zwecks ordnungsgemäßer Erledigung des Verfahrens, in dem
die fraglichen Daten bekannt geworden sind, auf dem dafür vorgesehenen Weg
weiteren Personen zur Kenntnis gebracht wird, wird nicht im Sinne von § 355 Abs. 1
StGB bzw. § 30 Abs. 2 AO offenbart.
64
Vgl. Jähnke, a.a.O., Rdnr. 42; Lenkner, a.a.O., § 203 Rdnr. 45 und § 355 Rdnr. 14
m.w.N.
65
Zur Begründung dieser Auffassung wird zu Recht darauf hingewiesen, daß im Verkehr
mit Behörden Angaben, die Geheimnisse enthalten, grundsätzlich der Behörde und
66
nicht einem bestimmten Amtsträger gegenüber gemacht werden und daß auch dort, wo
letzteres der Fall ist, das Vertrauen regelmäßig nicht dem Amtsträger als Person,
sondern als Vertreter seiner Behörde entgegengebracht wird.
Dementsprechend geht auch die kommunalrechtliche Literatur mit Rücksicht darauf, daß
der Rat Teil der Verwaltung der Gemeinde (§§ 40, 41 Abs. 1GO NW) und berechtigt ist,
die Verwaltung grundsätzlich in allen gemeindlichen Angelegenheiten zu übernehmen
(§ 41 GO NW) bzw. zu kontrollieren (§ 55 GO NW), davon aus, daß das
Akteneinsichtsrecht nach § 55 GO NW sich auch auf alle Steuersachen erstreckt.
67
Vgl. Kirchhoff, a.a.O., Anm. 6.1; Rehn/Cronauge, a.a.O., Anm. IV.4.; Roters, a.a.O., Rdnr.
7.
68
Das gilt nicht nur für das Akteneinsichtsrecht, das der Rat mehrheitlich nach § 55 Abs. 3
Satz 2 GO NW oder nach § 55 Abs. 4 Satz 1, 1. Alternative GO NW geltend machen
kann, sondern auch für das Akteneinsichtsrecht, das nach § 55 Abs. 4 Satz 1, 2.
Alternative GO NW einer Ratsminderheit von mindestens einem Fünftel der
Ratsmitglieder zusteht.
69
Der Senat hat bereits früher entschieden, daß grundsätzlich nur der Rat in seiner
Gesamtheit, ausnahmsweise im Interesse des Minderheitenschutzes aber auch eine
Ratsminderheit von mindestens einem Fünftel der Ratsmitglieder berechtigt ist, die
Verwaltung der Gemeinde zu überwachen und dafür das Akteneinsichtsrecht nach § 55
Abs. 4 Satz 1 GO NW (§ 40 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative GO NW a.F.) in Anspruch zu
nehmen.
70
Vgl. Urteil vom 22. September 1989, a.a.O., S. 116.
71
Die Ratsminderheit nimmt damit dasselbe ansonsten nur dem Rat in seiner Gesamtheit
zustehende Kontrollrecht wahr. Deshalb hat sie die gleichen Rechte, die der Rat bei
einem von ihm mehrheitlich beschlossenen Akteneinsichtsverlangen hat. Kann der Rat -
in Einzelfällen durch ein einzelnes Ratsmitglied - Einsicht in gemeindliche Steuerakten
nehmen, kann dies - ebenfalls durch ein einzelnes Ratsmitglied - auch eine
Ratsminderheit, wenn sie das Quorum von einem Fünftel der Ratsmitglieder erreicht.
72
Selbst wenn man mit einem Teil der steuerrechtlichen Literatur davon ausgeht, daß die
Weitergabe der amtlich bekannt gewordenen steuerlichen Verhältnisse innerhalb des
Kreises der damit dienstlich befaßten Personen ein Offenbaren i.S.d. § 30 Abs. 2 AO
darstellt,
73
vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., Rdnr. 31; Kühn/Kutter, a.a.O., Anm. 3.b,
74
läge in der von den Klägern begehrten Akteneinsicht keine Verletzung des
Steuergeheimnisses, weil für die Offenbarung ein zwingendes öffentliches Interesse
besteht (§ 30 Abs. 4 Nr. 5 AO) und dieses die Offenbarung rechtfertigt.
75
Das öffentliche Interesse ist hier in mehrfacher Hinsicht berührt. Zum einen geht es
darum, dem in der Tagespresse und damit in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwurf
nachzugehen, die Stadt xxx habe unter Mitwirkung ihres jetzigen Oberbürgermeisters in
seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt eine für sie nachteilige Vereinbarung über die
pauschale Entrichtung von Vergnügungssteuer für ein Spielkasino getroffen; auf diese
76
Weise seien ihr aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen Steuereinnahmen in
beträchtlichem Umfang entgangen. Zum anderen besteht ein öffentliches finanzielles
Interesse. Auch finanzielle Interessen können öffentliche Interessen i.S.d. § 30 Abs. 4
Nr. 5 AO sein.
Vgl. Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 4. Aufl. 1993, § 30 Rdnr. 25; Klein/Orlopp,
Abgabenordnung, 5. Aufl. 1995, Anm. 4e; Lenkner, a.a.O., § 355 Rdnr. 32.
77
Ohne Kenntnis von Einzelheiten der Erhebung von Vergnügungssteuer für den Betrieb
des Spielkasinos besteht die Gefahr, daß Steuern in größerem Umfang nicht mehr
erhoben werden bzw., wenn dies wegen der Pauschalsteuervereinbarung oder wegen
Zeitablaufs nicht mehr möglich ist, ein Regreß bei den städtischen Bediensteten
unterbleibt, die die angeblich für die Stadt xxx ungünstige Pauschalsteuervereinbarung
geschlossen haben. Schließlich besteht ein öffentliches Interesse auch daran, daß der
Rat bzw. die dazu befugte Ratsminderheit ihre Kontrollbefugnis gegenüber der
Gemeindeverwaltung wirksam wahrnimmt. Die gesetzlich vorgesehene Kontrollbefugnis
würde weitgehend leerlaufen, wenn die Verwaltung unter Hinweis auf das
Steuergeheimnis eine Akteneinsicht verweigern könnte.
78
Vgl. Kühn/Kutter, a.a.O., Anm. 4e;. Klein/Orlopp, a.a.O., Anm. 4e, S. 122.
79
Das - jeweils betroffene - öffentliche Interesse ist zwingend, wenn nicht auf andere -
schonendere - Weise die begehrte Auskunft über die steuerlichen Verhältnisse zu
erhalten ist und eine Abwägung zwischen dem Interesse des Steuerpflichtigen an der
Geheimhaltung und dem öffentlichen Interesse an der Offenbarung ergibt, daß letzteres
überwiegt.
80
Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Juli 1984, a.a.O., S. 758; BVerwG, Urteil vom 29. April 1968 -
VIII C 61.64 -, DVBl. 1968, 794 (796); Tipke/Kruse, a.a.O., Rdnr. 61 m.w.N.;
Koch/Scholtz, a.a.O., Rdnr. 24; Schäfer, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, §
355 Rdnr. 48 und 50; Lenkner, a.a.O., § 355 Rdnr. 27.
81
Dabei ist auch von Bedeutung, ob bestimmte verfahrensrechtliche Vorkehrungen die
Belange des Steuerpflichtigen wahren.
82
Vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 26. Mai 1981 - 2 BvR 215/81 -, BVerfGE 57, 250 (286).
83
Nach diesen Grundsätzen sind die im vorliegenden Fall betroffenen öffentlichen
Interessen zwingend. Da die Steuerpflichtige ihre Zustimmung zu einer Offenbarung
ihrer steuerlichen Verhältnisse verweigert hat, gibt es nur die Möglichkeit, sich über
diese Weigerung hinwegzusetzen. Die genannten öffentlichen Interessen haben ein
erhebliches Gewicht. Es geht um die gleichmäßige und vollständige Erhebung von
Kommunalsteuern, um das Vertrauen der Bevölkerung in eine entsprechende
Handlungsweise der Verwaltung und um die Wahrnehmung demokratischer
Kontrollrechte. Den Belangen der Steuerpflichtigen, deren Berechtigung mangels
Angaben des Beklagten zur Art der angeblich schützenswerten steuerlichen Daten nur
unterstellt werden kann, wird durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen Rechnung
getragen. Die Akteneinsicht wird nur durch ein einzelnes Ratsmitglied wahrgenommen,
das wegen seiner Verschwiegenheitspflicht nach § 43 Abs. 2 GO NW i.V.m. § 30 Abs. 1
GO NW und durch die auch ihn treffende Pflicht zur Wahrung des Steuergeheimnisses
nach § 30 AO rechtlich gehindert ist, seine im Wege der Akteneinsicht gewonnenen
84
Kenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen. Eine Weitergabe dieser Kenntnisse an andere
Ratsmitglieder ist angesichts des Umstands, daß auch diese zur Verschwiegenheit und
zur Wahrung des Steuergeheimnisses verpflichtet sind, grundsätzlich rechtlich
unbedenklich.
Vgl. auch Rehn/Cronauge, a.a.O., Anm. IV.4.
85
Sollte allerdings die Gefahr bestehen, daß die Ratsmitglieder ihre so gewonnenen
Kenntnisse ihrerseits nach außen weitergeben, muß das Ratsmitglied xxx, dem
Akteneinsicht gewährt wurde, Art und Umfang seiner Information der anderen
Ratsmitglieder entsprechend einrichten.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über
ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 ZPO.
87
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
88
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 3 GKG.
89
90