Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 30.07.1998

OVG NRW (kläger, höhe, zahnbehandlung, träger, zahnärztliche behandlung, örtliche zuständigkeit, eigene mittel, sozialhilfe, anstaltsleitung, 1995)

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 2820/95
Datum:
30.07.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 A 2820/95
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 9 K 4184/94
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens, für das keine Gerichtskosten
erhoben werden, trägt der Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in
Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht
der Beklagte vor der Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit
leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
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Der 1967 geborene Kläger beantragte mit einem am 19. Februar 1993 beim Beklagten
eingegangenen Schreiben die Übernahme der Kosten für eine Zahnbehandlung. Er gab
an, zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA) W. einzusitzen. Die Anstaltsleitung habe
die Kostenübernahme mündlich abgelehnt.
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Nachdem der Beklagte seine örtliche Zuständigkeit mit Hinweis darauf in Zweifel
gezogen hatte, daß der Kläger bereits am 15. Oktober 1991 seinen Wohnsitz in W. ohne
Abmeldung aufgegeben habe, teilte der Kläger mit weiterem Schreiben vom 1. März
1993 ergänzend mit, er sei bereits am 25. September 1991 "von der Straße weg"
verhaftet worden, so daß ihm eine ordnungsgemäße Abmeldung nicht möglich gewesen
sei.
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In der Folgezeit forderte der Beklagte den Kläger unter anderem dazu auf, sich vorab mit
dem Sozialdienst der JVA in Verbindung zu setzen; falls dort die Übernahme des
Zahnersatzes abgelehnt werde, müsse der schriftliche Ablehnungsbescheid vorgelegt
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werden. Der Kläger teilte daraufhin unter dem 6. April 1993 dem Beklagten mit, die
Anstaltsleitung sei lediglich zur Übernahme des Mindestsatzes von 60% der Kosten
bereit; vom Beklagten begehre er die restlichen 40%. Ablehnungsbescheide oder
schriftliche Begründungen würden ihm von der Anstaltsleitung grundsätzlich nicht
ausgehändigt.
Unter dem Datum vom 5. April 1993 wies der Beklagte den Kläger in einem als
"Kurzmitteilung" bezeichneten formularmäßigen Schreiben mit handschriftlichen
Zusatzbemerkungen darauf hin, daß eine Rücksprache bei der JVA stattgefunden habe.
Diese habe ergeben, daß die Behandlungskosten zu 100% und die Sachkosten zu 60%
von der freien Heilfürsorge abgedeckt würden. Die restlichen 40% der Sachkosten
könne er, der Kläger, nach Auffassung der Anstaltsleitung selbst tragen. Er möge sich in
dieser Angelegenheit mit der zuständigen Sachbearbeiterin bei der JVA in Verbindung
setzen; eine Kostenübernahme seitens des Sozialamtes sei mangels Zuständigkeit
nicht möglich.
5
Am 27. April 1994 (Az.: VG Arnsberg 9 L 1141/94; OVG 8 B 1587/94) sowie am 7.
September 1994 (Az.: VG Arnsberg 9 L 2071/94; OVG 8 B 2553/94) beantragte der
Kläger, im Ergebnis erfolglos, den Erlaß einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, den
Beklagten vorläufig zur Übernahme der nicht von der freien Heilfürsorge umfaßten
Kosten der beabsichtigten Zahnbehandlung in Höhe von 1.120,00 DM zu verpflichten.
Im Rahmen dieser Verfahren trug der Kläger zusätzlich vor, das Sozialamt des
Beklagten habe von der Justizvollzugsanstalt W. einen schriftlichen
Ablehnungsbescheid angefordert und auch erhalten. Ein für die Überkronung
vorgesehener und entsprechend präparierter Zahn habe inzwischen gezogen werden
müssen, ein weiterer sei gefährdet. Es könne ihm, auch unter dem Blickwinkel der
Resozialisierung, nicht zugemutet werden, sich zur Ermöglichung der Behandlung zu
verschulden, zumal er ohnehin Schulden habe und schon drei Pfändungs- und
Überweisungsbeschlüsse gegen ihn ergangen seien.
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Am 21. Juni 1994 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Nachfolgend wandte er sich
mit Schreiben vom 18. Oktober 1994 nochmals an den Beklagten mit der Aufforderung,
auf der Grundlage des übersandten Heil- und Kostenplanes die beantragten Kosten in
Höhe von rund 1.200 DM zu bewilligen oder zumindest einen förmlichen Bescheid zu
erlassen. Da das Arbeitsentgelt in der Strafanstalt monatlich etwa 200 DM betrage,
könne ihm nicht zugemutet werden, ein halbes Jahr ausschließlich für eine
medizinische Leistung zu arbeiten. Im übrigen sei das Arbeitsentgelt zweckbestimmt
und daher gemäß § 77 des Bundessozialhilfegesetzes nicht zu berücksichtigen.
Dasselbe gelte für das dem Schonbetrag zuzurechnende zweckgebundene
Überbrückungs- und Eigengeld. Soweit ihm der Nachrang der Sozialhilfe
entgegengehalten werde, sei auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
zu verweisen, wonach es nicht auf das Bestehen eines Rechtsanspruches gegen einen
Dritten ankomme, sondern darauf, ob die benötigte Hilfe von dem Dritten auch
tatsächlich erlangt werde oder erlangt werden könne. Der Beklagte hat dieses
Schreiben als Widerspruch gegen seine Entscheidung vom 5. April 1993 bewertet; ein
Widerspruchsbescheid liegt bislang nicht vor.
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Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, der Beklagte sei sowohl
örtlich als auch, unter Berücksichtigung seines vergeblichen Bemühens um eine
Hilfeleistung nach § 62 des Strafvollzugsgesetzes, sachlich für seinen Hilfeanspruch
zuständig. Er, der Kläger, könne die Kosten für die Zahnbehandlung weder
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zumutbarerweise aus eigenen Mitteln noch mit Hilfe von Verwandten oder sozialer
Stellen erlangen. Der Beklagte koppele die Frage seiner, des Klägers,
sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit unzutreffenderweise an die Maßstäbe des
Strafvollzugsgesetzes. Die in der Justizvollzugsanstalt erzielten Einkünfte seien wegen
ihrer geringen Höhe in vollem Umfang zweckgebunden und dürften somit gemäß § 77
Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes nicht zu seinem Nachteil angerechnet werden.
Außerdem seien die ihm zustehenden Gelder gemäß § 88 Abs. 2 Nr. 8
Bundessozialhilfegesetz in Verbindung mit der dazu erlassenen Verordnung seinem
Schonvermögen zuzuordnen.
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, im Wege der Krankenhilfe die von der freien Heilfürsorge
nicht gedeckten Sachkosten für die prothetische Versorgung mit Zahnersatz in Höhe
von 1.120,00 DM zu übernehmen.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte hat zunächst geltend gemacht, die Untätigkeitsklage sei unzulässig, weil
der Kläger gegen den ablehnenden Bescheid vom 5. April 1994 keinen Widerspruch
erhoben habe. Außerdem sei die Klage sachlich unbegründet, weil der Kläger keinen
Anspruch auf - ergänzende - Krankenhilfe nach den §§ 27 Nr. 3 und 37 des
Bundessozialhilfegesetzes habe. Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe schließe zwar
Sozialhilfeleistungen nicht grundsätzlich aus, wegen des Vorranges von Hilfeleistungen
nach dem Strafvollzugsgesetz sei aber die Sozialhilfe auf Fälle beschränkt, in denen
Lücken in der Versorgung vorliegen. Eine solche Lücke bestehe vorliegend nicht. Der
Kläger habe grundsätzlich einen Anspruch auf einen Zuschuß zu einem medizinisch
notwendigen Zahnersatz gegen den Träger der Justizvollzugsanstalt. Soweit ihm das
Strafvollzugsgesetz die Tragung eines Eigenanteils zumute, könne das sog. Hausgeld
oder auch als Überbrückungsgeld zweckgebundenes Eigengeld eingesetzt werden;
auch eine fortdauernde Abzahlung nach der Haftentlassung sei möglich. Eine generelle
Zweckbindung der Bezüge von Strafgefangenen gebe es nicht. Falls hingegen von
einer Bedürftigkeit des Klägers im Sinne von § 60 Abs. 3 der Dienstanordnung für das
Gesundheitswesen in den Vollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen (DOG)
auszugehen sei, habe der Kläger einen gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen
Anspruch auf eine umfassende Heilfürsorge, der gegen den Träger der
Justizvollzugsanstalt gerichtet werden müsse.
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Mit Gerichtsbescheid vom 30. März 1995, dem Kläger zugestellt am 6. April 1995, hat
das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen; auf die Gründe des Gerichtsbescheides
wird Bezug genommen.
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Am 10. April 1995 hat der Kläger unter Wiederholung und Vertiefung seiner bisherigen
Rechtsausführungen Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts
eingelegt. Er trägt noch vor, die Zahnbehandlung sei inzwischen durchgeführt und im
April 1995 abgeschlossen worden. Es sei eine Ratenzahlungsvereinbarung getroffen
worden, nach der er während seiner restlichen Haftzeit monatlich 25,00 DM und nach
seiner Entlassung 100,00 DM zurückzuzahlen habe. Wegen seiner bereits bestehenden
Verbindlichkeiten müsse er damit rechnen, daß die Darlehensvereinbarung alsbald zu
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weiteren Pfändungsmaßnahmen gegen ihn führen werde. Einen Rechtsbehelf gegen
den Träger der Justizvollzugsanstalt habe er nicht geltend gemacht; nach seinen
Informationen reiche der normale Antrag.
Der Kläger beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und nach seinem in erster Instanz gestellten Antrag
zu erkennen.
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Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf sein bisheriges Vorbringen,
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die Berufung zurückzuweisen.
19
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch
den Berichterstatter anstelle des Senats einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
einschließlich der Verfahrensakten VG Arnsberg 9 L 1141/94 (OVG 8 B 1587/94) und
VG Arnsberg 9 L 2071/94 (OVG 8 B 2553/94) sowie auf die Verwaltungsvorgänge des
Beklagten (2 Hefte) Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Der Senat kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101
Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) und durch den Berichterstatter anstelle
des Senats (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO) entscheiden.
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Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen
Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung aufgewandter Zahnbehandlungskosten
in Höhe von 1.120,00 DM.
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Als sozialhilferechtliche Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren des Klägers
kommt lediglich § 37 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in Betracht. Dort ist
bestimmt, daß (hilfebedürftigen) Kranken Krankenhilfe zu gewähren ist (§ 37 Abs. 1
BSHG). Die Krankenhilfe erstreckt sich nach § 37 Abs. 2 Satz 1 BSHG auch auf die
zahnärztliche Behandlung und die Versorgung mit Zahnersatz. Dabei sollen die
Leistungen in der Regel den Leistungen entsprechen, die nach den Vorschriften über
die gesetzliche Krankenversicherung gewährt werden (§ 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG).
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Vorliegend kann offen bleiben, ob - und gegebenenfalls in welchem Umfang -
Strafgefangenen Leistungsansprüche nach dem Bundessozialhilfegesetz zustehen
können, wenn die auf der Grundlage von § 62 des Gesetzes über den Vollzug der
Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung
(Strafvollzugsgesetz - StVollzG -) gewährten Zuschüsse zu den Kosten zahnärztlicher
Behandlungen und zahntechnischer Leistungen bei der Versorgung mit Zahnersatz im
Einzelfall den gesamten Bedarf an zahnmedizinischer Krankenhilfe nicht abdecken,
oder ob die Regelungen des Strafvollzugsgesetzes in Verbindung mit den hierzu
ergangenen Verwaltungsvorschriften der Landesjustizverwaltungen (vgl. Nr. 60 der
Dienstordnung für das Gesundheitswesen in den Justizvollzugsanstalten des Landes
Nordrhein-Westfalen (DOG) vom 7. Dezember 1976 in der Fassung vom 11. Februar
1983 - Justizministerialblatt Nordrhein- Westfalen (JMBl. NW) 1983, 61 -) ein
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geschlossenes Regelungswerk bilden, das auch Fällen besonderer Bedürftigkeit
Rechnung trägt und daher die - subsidiäre - Sozialhilfe insgesamt verdrängt. Denn auch
dann, wenn im Grundsatz eine Verpflichtung des zuständigen Sozialhilfeträgers zu
bejahen wäre, einen von der sog. freien Heilfürsorge im Rahmen des Strafvollzugs nicht
erfaßten Bedarf des Strafgefangenen zu decken, stünde dem Begehren des Klägers der
Ausschlußgrund nach § 2 Abs. 1 BSHG entgegen.
§ 2 Abs. 1 BSHG schließt einen Sozialhilfeanspruch desjenigen aus, der sich selbst
helfen kann oder der die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen
oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Sofern die Erlangung der
erforderlichen Hilfe von anderen (auch) von der Initiative des Hilfesuchenden abhängt,
reicht zur Begründung einer gleichsam ersatzweisen Einstandspflicht des
Sozialhilfeträgers nicht aus, daß diese Hilfe Dritter (bislang) nicht erbracht worden ist.
Vielmehr schließt der Nachranggrundsatz, wie er in § 2 Abs. 1 BSHG zum Ausdruck
gelangt, einen Sozialhilfeanspruch aus, wenn und solange der Hilfesuchende eine
hinreichend erfolgversprechende und ihm konkret zumutbare Bemühung zur
Realisierung der Dritthilfe nicht unternommen hat. Anderenfalls wäre es in einer dem
Nachranggrundsatz widersprechenden Weise dem Hilfesuchenden anheimgestellt, sich
ohne Rücksicht auf vorrangige Hilfspflichten anderer, insbesondere sonstiger
Sozialleistungsträger, sofort an den jeweiligen Träger der Sozialhilfe zu wenden und
diesen auf etwaige Erstattungsansprüche gegen den vorrangig Verpflichteten zu
verweisen.
27
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 29. September 1971 - V C 2.71 -,
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 38, 307 =
Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte (FEVS) 19, 43;
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NW), Urteil vom 5.
Oktober 1992 - 8 A 2622/89 -.
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Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob der jeweilige Hilfesuchende einen
Rechtsanspruch gegen einen Dritten hat. Vielmehr muß sich der Anspruch als bereites
Mittel zur Beseitigung der Notlage gleichsam in der Hand des Hilfesuchenden befinden;
das setzt voraus, daß der Anspruch gegen den Dritten rechtzeitig durchzusetzen ist.
29
Vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Mai 1983 - 5 C 112.81 -, BVerwGE 67, 163 = FEVS 33, 5,
und vom 12. Oktober 1993 - 5 C 38.92 -, FEVS 44, 225 = Nachrichtendienst des
Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV) 1994, 152.
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Daran fehlt es, wenn der Erfolg einer gegebenenfalls die Inanspruchnahme
gerichtlichen Rechtsschutzes einschließenden Geltendmachung des Hilfeanspruches
gegen den vorrangigen Leistungsträger ernstlichen Zweifeln ausgesetzt ist oder
jedenfalls, gemessen an der Dringlichkeit der Hilfeerlangung im Einzelfall, mit einer die
Wirksamkeit der erstrebten Hilfe in Frage stellenden zeitlichen Verzögerung verbunden
wäre.
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Vorliegend hat der Kläger ihm mögliche, zumutbare und hinlänglich
erfolgversprechende Bemühungen unterlassen, um die vollständige Übernahme seiner
Zahnersatzkosten durch den Träger der Justizvollzugsanstalt zu erreichen. Als
Maßnahme der Selbsthilfe kam für ihn in Betracht, den Eigenbetrag in Höhe von
1.120,00 DM gleichfalls als Leistung der freien Heilfürsorge vom Träger der
Justizvollzugsanstalt zu beanspruchen und diesem Anspruch nach der mündlichen
32
Ablehnung durch den Anstaltsleiter durch Widerspruchserhebung und
erforderlichenfalls durch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung durch die
zuständige Strafvollstreckungskammer (§§ 109 ff. StVollzG) Geltung zu verschaffen; von
dieser Möglichkeit hat der Kläger, wie er nach zuvor widersprüchlichen Angaben
nunmehr im laufenden Berufungsverfahren klargestellt hat, keinen Gebrauch gemacht.
Ein solches Vorgehen hätte unter Zugrundelegung der einschlägigen Rechtsprechung
des der zuständigen Strafvollstreckungskammer übergeordneten Oberlandesgerichts
(OLG) Hamm beachtliche Erfolgsaussichten besessen, wobei als Anspruchsgrundlage
§ 62 StVollzG iVm § 60 Abs. 3 DOG in Betracht gekommen wäre. Nach der zuletzt
genannten Vorschrift, die als Verwaltungsvorschrift unmittelbar lediglich innerdienstliche
Wirkungen entfaltet, aber als Verkörperung der Verwaltungspraxis über den
allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1 GG) auch auf die
Rechtsstellung des Bürgers ausstrahlt, können zugunsten bedürftiger Gefangener (§ 46
StVollzG) die Kosten für zahntechnische Leistungen bei der zahnärztlichen Versorgung
mit Zahnersatz und Zahnkronen über die Regelung nach Nr. 60 Abs. 1 Satz 2 DOG
hinaus bis zu 100% aus Landesmitteln übernommen werden. Dabei ist der Begriff des
"bedürftigen Gefangenen" gerichtlich überprüfbar und trotz des auf § 46 StVollzG
verweisenden Klammerzusatzes in Nr. 60 Abs. 3 DOG nicht ausschließlich dann erfüllt,
wenn - was im Falle des Klägers ohne weiteres zu verneinen wäre - die
Voraussetzungen nach Abs. 3 der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVollzG
veröffentlicht etwa bei Callies/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 6. Auflage
(1994), vor Rn. 1 zu § 46 (S. 315)
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vorliegen, dem jeweiligen Gefangenen also im laufenden Monat aus Hausgeld und
Eigengeld nicht ein Betrag bis zur Höhe des Taschengeldes zur Verfügung steht.
Vielmehr sind die Gerichte jedenfalls nicht zu Lasten des hilfesuchenden Gefangenen
strikt an derartige Verwaltungsvorschriften gebunden, sondern haben zu überprüfen, ob
die angewandten Verwaltungsvorschriften mit höherrangigem Recht zu vereinbaren
sind und ob die nachgeordneten Vollzugsbehörden bei der Anwendung der
Verwaltungsvorschriften die gesetzlichen Zielsetzungen und allgemeinen
Rechtsgrundsätze beachtet haben.
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OLG Hamm, Beschluß vom 10. Juli 1990 - 1 Vollz (Ws) 58/90 -, Neue Zeitschrift für
Strafrecht (NStZ) 1990, 599 = Strafverteidiger 1991, 174, m.w.N.
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Demgemäß kann Abs. 3 der Verwaltungsvorschriften zu § 46 StVollzG zwar im Rahmen
des § 46 StVollzG, also bei der Prüfung eines Taschengeldanspruches Strafgefangener,
als abschließende Regelung verstanden werden, nicht jedoch bei der Prüfung der
Frage, ob bzw. in welcher Höhe vom Gefangenen ein Eigenanteil an Zahnersatzkosten
getragen werden kann. Vielmehr ist nach der Auffassung des OLG Hamm die Anlegung
eines solchermaßen verengten Prüfungsmaßstabes nicht mit der Fürsorgepflicht der
Justizverwaltung für die Strafgefangenen vereinbar, weil dies zu einer unzumutbaren
finanziellen Belastung des Strafgefangenen führen könne. So sei das Abstellen auf die
wirtschaftlichen Verhältnisse eines Gefangenen in einem bestimmten Monat - wohl dem
der abschließenden gerichtlichen Entscheidung - mit der Gefahr unbilliger
Entscheidungen behaftet, weil sich die finanziellen Belastungen, die sich aus der
Beteiligung des Strafgefangenen an den mitunter beträchtlichen Zahnersatzkosten
ergeben, über einen längeren Zeitraum und gegebenenfalls sogar über den Zeitpunkt
der Haftentlassung erstrecken können. Darüber hinaus sei eine solche Handhabung
geeignet, der Erreichung des Vollzugsziels (§ 2 StVollzG) entgegenzuwirken. Die
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Strafvollstreckungskammer habe daher über die Maßgabe des Abs. 3 der
Verwaltungsvorschriften zu § 46 StVollzG hinaus zu beachten, ob dem Strafgefangenen
eigene Mittel zur Verfügung stehen, ob er sonstige finanzielle Verpflichtungen zu
erfüllen habe und ob er durch Arbeitseinkommen eigenes Einkommen, gegebenenfalls
in welcher Höhe, erziele.
OLG Hamm, Beschluß vom 10. Juli 1990 - 1 Vollz (Ws) 58/90 -, a.a.O.
37
Da nach der Rückzahlungsvereinbarung zwischen dem Kläger und dem Leiter der
Justizvollzugsanstalt W. eine auch nur annähernde Tilgung des vom Anstaltsträger nicht
übernommenen Kostenanteils von 1.120,00 DM bis zum - aus damaliger Sicht -
voraussichtlichen Haftentlassungstermin im Januar 1996 nicht zu erwarten war und
daher der nach seinen glaubhaften Bekundungen ohnehin mit Schulden belastete
Kläger nach seiner Freilassung somit zusätzlichen finanziellen Belastungen
entgegensah, spricht viel dafür, daß er als bedürftig im Sinne der Nr. 60 Abs. 3 DOG zu
betrachten war. Weitergehend kann sogar zu erwägen sein, ob das Vorliegen der
Bedürftigkeit iSv Nr. 60 Abs. 3 DOG allein daraus abzuleiten ist, daß die Regelung des
§ 62 StVollzG in engem Zusammenhang mit den Vorschriften des Fünften Buches des
Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) steht und in § 61 SGB
V eine vollständige Befreiung unter anderem von der Pflicht zur Beteiligung an
Zahnersatzkosten (§ 61 Abs. 1 Nr. 2 SGB V) wegen des Vorliegens einer unzumutbaren
Belastung angeordnet wird, wenn wie hier die monatlichen Bruttoeinnahmen des
Versicherten 40% der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches des
Sozialgesetzbuchs - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV)
nicht überschreiten.
38
Vgl. Alex, Strafverteidiger 1991, 175 f. (Anmerkung zum Beschluß des OLG Hamm vom
10. Juli 1990 - 1 Vollz (Ws) 58/90 -); Callies/Müller-Dietz, Rn. 2 zu § 62.
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Eine Realisierung des Hilfeanspruches im Rahmen der sog. freien Heilfürsorge für
Strafgefangene konnte auch zeitgerecht erwartet werden. Es spricht nichts
Durchgreifendes dafür, daß die Zahnbehandlung, deren Notwendigkeit dem Kläger
nach seinen Angaben seit Oktober 1992 bekannt war und wegen derer er bereits im
Februar 1993 erstmals an den Beklagten herangetreten ist, dermaßen eilbedürftig war,
daß nach der vom Kläger behaupteten mündlichen Ablehnung der vollen
Kostenübernahme durch den Anstaltsträger eine nähere Klärung durch die
vorgesehenen Rechtsbehelfe (Widerspruch nach § 109 Abs. 3 StVollzG iVm § 1 Abs. 2
iVm Abs. 1 des nordrhein- westfälischen Gesetzes über das Vorschaltverfahren bei
Anträgen auf gerichtliche Entscheidung betreffend die Vollzugsangelegenheiten von
Gefangenen und Untergebrachten vom 20. Februar 1979 - Vorschaltverfahrensgesetz -,
Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen 1979, 40, sowie ggf. nachfolgend
Antrag auf gerichtliche Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nach den §§ 109 ff.
StVollzG) zu spät gekommen wäre. Gegen eine besondere Eilbedürftigkeit spricht schon
entscheidend, daß die Zahnbehandlung tatsächlich erst mehr als zwei Jahre nach ihrer
erstmaligen Beantragung beim Beklagten, nämlich im Frühjahr 1995, durchgeführt
worden ist, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt die Rechtslage aus der Sicht des Klägers
nicht günstiger darstellte als zu Beginn seiner Bemühungen um eine zuzahlungsfreie
Zahnbehandlung. Weiter spricht gegen die Eilbedürftigkeit der Zahnbehandlung, daß
der Kläger bereits im Rahmen des (ersten) gerichtlichen Verfahrens auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung, nämlich (spätestens) durch das Schreiben des
Beschwerdegerichts vom 7. Juli 1994, davon in Kenntnis gesetzt worden war, daß die
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Zahnbehandlung unmittelbar nach Abschluß einer Rückzahlungsvereinbarung mit der
Anstaltsleitung in die Wege geleitet werden könne, er aber gleichwohl erst am 13.
Dezember 1994, also rund fünf Monate später, eine derartige Vereinbarung
unterschrieben hat. Es ist kein einleuchtender Grund dafür erkennbar, warum der Kläger
diese Zeitspanne des Zuwartens nicht dazu genutzt hat, das Bestehen einer
vollständigen Hilfeverpflichtung des Anstaltsträgers im Rahmen der freien Heilfürsorge
für Strafgefangene im Wege der ihm zu Gebote stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten
überprüfen zu lassen; dem Senat drängt sich nach den Einlassungen des Klägers der
Eindruck auf, daß dies vor allem deshalb unterblieben ist, weil sich der Kläger von
Anfang an auf ein juristisches Vorgehen gegen den zuständigen Träger der Sozialhilfe
versteift und deshalb die naheliegende (und ihm auch nahegebrachte) Möglichkeit der
Inanspruchnahme des primären Kostenträgers aus dem Auge verloren hat.
Anhaltspunkte dafür, daß dem Kläger weitergehende Bemühungen um eine
vollständige Kostenübernahme durch den Träger der Justizvollzugsanstalt nicht
zugemutet werden konnten, lassen sich seinem Vorbringen nicht entnehmen; sie sind
auch sonst nicht ersichtlich.
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Der Ausschluß eines Leistungsanspruches auf Krankenhilfe gegen den Beklagten aus
Gründen des Nachranges (§ 2 Abs. 1 BSHG) wird schließlich nicht dadurch in Frage
gestellt, daß sich der Erfolg eines konsequenten, gegebenenfalls auch gerichtlichen
Rechtsschutz umfassenden Vorgehens gegen den Anstaltsträger auf volle Übernahme
der Kosten für zahntechnische Leistungen - rückblickend - nicht mit letzter Sicherheit
einschätzen läßt. Vielmehr geht es zu Lasten des Hilfesuchenden, wenn sich im
Nachhinein nicht mehr zuverlässig feststellen läßt, ob er die Hilfe von einem vorrangig
verpflichteten Leistungsträger erhalten hätte, und wenn, wie vorliegend, die
Ungewißheit darauf beruht, daß mögliche und zumutbare Bemühungen um eine
Anspruchsverwirklichung gegenüber diesem Leistungsträger unterlassen worden sind
und damit gleichsam der Beweis für die Tauglichkeit derartiger Bemühungen vereitelt
worden ist.
42
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1971 - V C 2.71 -, BVerwGE 38, 307 = FEVS
19, 43; OVG NW, Urteil vom 5. Oktober 1992 - 8 A 2622/89 - und Beschluß vom 15.
Oktober 1986 - 8 A 936/85 -, Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch (ZfSH/SGB)
1987, 593 (nur Leitsatz).
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 und 188 Satz 2 VwGO.
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Die Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO iVm den
§§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
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Die Revision gegen dieses Urteil ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2
VwGO genannten Zulassungsgründe eingreift.
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