Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.03.2004

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Oberverwaltungsgericht NRW, 13 B 16/04
Datum:
15.03.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 B 16/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 5 L 1144/03
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Der Streitwert wird unter Abänderung der erstinstanzlichen Festsetzung
für beiden Instanzen auf je 7.500,-- EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antragsteller hat den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123
VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch auch im Beschwerdeverfahren nicht
glaubhaft gemacht. Das gilt auch für das zentrale Argument seines Vorbringens, er habe
Anspruch auf die Erteilung einer Krankentransportgenehmigung, weil im Bereich des
Antragsgegners bei der Notfallrettung die Eintreffzeiten von 5 bis 8 Minuten
innerstädtisch und bis 12 Minuten im ländlichen Bereich nicht eingehalten würden. Zwar
beruft sich der Antragsteller insofern auf einen vom Senat entwickelten
Rechtsgedanken, dass nämlich der Staat und seine Gliederungen sich dann nicht auf
die Funktionsschutzklausel des § 19 Abs. 4 RettG NRW berufen können, wenn im
öffentlichen Rettungsdienst selbst die Vorgaben der Eintreffzeiten nicht eingehalten
werden.
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Vgl. grundlegend OVG NRW, Beschluss vom 2. August 1994 - 13 B 1085/94 -, OVGE
44, 126, StädteT 1994, 751 = RettD 1994, 35 = EilDStT 1994, 861 = NWVBl. 1995, 26
sowie die nordrhein- westfälische Rechtslage im Einzelnen ableitend Beschluss vom
22. Oktober 1999 - 13 A 5617/98 -, VRS Bd. 98, 476 = NWVBl. 2000, 103.
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Hieran hält der Senat auch weiterhin fest, zumal der Europäische Gerichtshof aus
Anlass eines Falles nach dem rheinland-pfälzischen Rettungsrecht eine ähnliche
Forderung entwickelt hat.
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Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2001 - C - 475/99 -, DVBl. 2002, 182, Rz 62 - 64.
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Bisher brauchte der Senat nicht zu entscheiden, ob es zur Annahme eines
funktionsfähigen Rettungsdienstes ausreicht, wenn die Eintreffzeiten in 90 % der Fälle
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der Notfallrettung eingehalten werden oder ob für diese Feststellung 95 % erforderlich
sind. Jedenfalls für das vorliegende Eilverfahren geht der Senat davon aus, dass nicht
95 % sondern 90 % der Einsätze die Eintreffzeiten einhalten müssen. Zwar hat der
Senat zunächst mit dem Abgehen von 100 % sog. "Ausreißer" als unschädlich
qualifizieren wollen, was für den Maßstab 95 % sprechen könnte.
Vgl. Beschluss vom 22. Oktober 1999, a.a.O.
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In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Minden stellt der
Senat bei seiner Entscheidung nunmehr darauf ab, dass nach § 19 Abs. 4 RettG NRW
neben der Eintreffzeit u. a. die Entwicklung der Kosten- und Ertragslage zu
berücksichtigen ist. Dies korrespondiert mit der Aufgabenbeschreibung in § 6 Abs. 1
RettG NRW als u. a. "bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung". Zu strenge
Anforderungen an die Eintreffzeiten würden - vorbehaltlich anderer Erkenntnisse in
einem Hauptverfahren - eine finanzintensive Vorhaltung von Überkapazitäten
erforderlich machen, die sogar die Funktionsfähigkeit des Rettungsdienstes gefährden
könnten.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1999 - 3 C 20.98 -, DVBl. 2000, 124 zum Hessischen
Rettungsdienstgesetz
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Aus dem vorstehend zitierten Urteil ergibt sich zugleich, dass es entgegen dem
Beschwerdevorbringen nicht auf die Möglichkeit der Erhöhung der Gebühren bis zur
Kostendeckung ankommen kann. Die anfallenden Kosten müssen im Rettungsdienst
ganz überwiegend von öffentlichen Kassen, insbesondere den gesetzlichen
Krankenversicherungen, getragen werden. Überhöhte Preise, die sich aus der
Vorhaltung von Überkapazitäten ergeben, stellen daher eine massive Belastung der
Allgemeinheit dar. Die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, deren
Belastungsfähigkeit wohl kaum noch gesteigert werden kann, ist ein wesentlicher Teil
der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und hat große Bedeutung für das
Gemeinwohl.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Juni 1990 - 1 BvR 355/86 -, BVerfGE 82, 209, 229 f.
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Diese Gesichtspunkte der Bedarfsgerechtigkeit und der Auswirkung auf das
Gesundheitswesen führen zwar nicht zur Aufgabe des Erfordernisses der Einhaltung der
für Nordrhein-Westfalen geltenden Eintreffzeiten. Jedoch ist jenen anderen
Gesetzesvorgaben ebenfalls Rechnung zu tragen bei der Festlegung, in welchem
Umfang die Eintreffzeiten, gemessen an der Zahl der Fälle, eingehalten werden
müssen. Eine Berücksichtigung nur ganz besonderer Ausnahmefälle würde dem
öffentlichen finanziellen Anliegen nicht gerecht.
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Soweit sich der Antragsteller auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (a.a.O.)
beruft, vermag der Senat dem eine Notwendigkeit des Einhaltens von Eintreffzeiten zu
100 oder 95 % nicht zu entnehmen. Der öffentlich organisierte Rettungsdienst muss
danach tatsächlich in der Lage sein, die Nachfrage zu decken und nicht nur die
gesetzliche Verpflichtung zu erfüllen, die Leistungen des Rettungsdienstes in allen
Situationen Tag und Nacht sicher zu stellen, sondern auch die
Krankentransportleistungen effizient anzubieten.
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Bei der Feststellung der Eintreffzeit kommt es auf den Zeitpunkt des Eintreffens des
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ersten Hilfsfahrzeuges am Notfallort an, das entgegen der Beschwerde auch ein
Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) sein kann. Wie der Antragsgegner zutreffend ausführt
bringt dieses NEF bereits wirksame Hilfe; hierauf ist abzustellen und nicht auf den
Gesichtspunkt, dass dieses Fahrzeug nicht zum Transport von Notfallpatienten geeignet
ist.
Nach den im Eilverfahren nicht zu beanstandenden Berechnungen des Antragsgegners
wird die Eintreffzeit von 12 Minuten für ländliche Gebiete in 92,1 % der Fälle
eingehalten. Ob und in welchem Umfang die Stadt E. als innerörtlich mit einer
erforderlichen Eintreffzeit von mindestens 8 Minuten zu beurteilen ist, kann dahingestellt
bleiben. Wenn man die Kernstadt von E. als innerörtlich bewertet, ergeben sich 91,1 %
und bei der Beurteilung von E. insgesamt als innerstädtisch immerhin noch 90,4 %. Die
Überprüfung der Berechnung im Einzelnen muss einem eventuellen Hauptverfahren
vorbehalten bleiben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Eilverfahren des Hauptsachestreitwert
von 15.000,-- EUR zu halbieren; entsprechend ist die erstinstanzliche Festsetzung
abzuändern.
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