Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 27.12.1996

OVG NRW (anspruch auf bewilligung, aufnahme einer erwerbstätigkeit, wichtiger grund, 1995, verwaltungsgericht, erwerbstätigkeit, arbeit, sozialhilfe, anordnung, bewilligung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 B 3046/96
Datum:
27.12.1996
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 B 3046/96
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 6 L 1182/96
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden, fallen der Antragstellerin zur Last.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin mit dem sinngemäßen Antrag, den
angefochtenen Beschluß zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, ihr, der Antragstellerin, Sozialhilfe in gesetzlicher Höhe zu
gewähren,
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ist unbegründet.
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Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO setzt voraus,
daß der geltend gemachte Hilfeanspruch (sogenannter Anordnungsanspruch) und der
besondere Grund für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (der
sogenannte Anordnungsgrund) von der Antragstellerin glaubhaft gemacht werden (vgl. §
123 Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Diese Voraussetzungen liegen im
Falle der Antragstellerin nicht vor.
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Der Senat folgt den durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten Ausführungen
des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluß, soweit darin das Vorliegen
der tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes für die vorläufige
Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vor Eingang des
Antrages bei dem Verwaltungsgericht und für die Zeit nach dem Ende des Monats der
gerichtlichen Entscheidung sowie für die vorläufige Gewährung von Unterkunftskosten
verneint worden ist. Soweit das Verwaltungsgericht auch das Vorliegen der
tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes für die vorläufige
Geltendmachung regelsatzmäßiger Leistungen von mehr als 75 % in der Zeit ab
Eingang des Antrages bei Gericht bis zum Ende des Monats der gerichtlichen
Entscheidung verneint hat, folgt der Senat diesen Ausführungen mit der Maßgabe, daß
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der Senat auf der Grundlage seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung 80 % und
nicht, wie das Verwaltungsgericht, 75 % des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes
zugrundelegt.
Der Senat stimmt dem Verwaltungsgericht ebenfalls zu, soweit es die Aktivlegitimation
der Antragstellerin für die Geltendmachung von Ansprüchen ihrer Kinder auf
Bewilligung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt verneint hat.
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Soweit es für die Zeit ab Antragseingang bei Gericht bis zum Ende des Monats der
gerichtlichen Entscheidung um den geltend gemachten Anspruch auf Bewilligung
laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 80 % des Regelsatzes eines
Haushaltsvorstandes geht, hat die Antragstellerin das Vorliegen der tatsächlichen
Voraussetzungen eines Anordnungsanspruches nicht dargelegt und glaubhaft gemacht.
Nach § 2 Abs. 1 BSHG erhält nämlich Sozialhilfe u.a. derjenige nicht, der sich selbst
helfen kann. Zu den den Anspruch auf Sozialhilfe ausschließenden
Selbsthilfemöglichkeiten gehört die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Derjenige, der um
Hilfe zum Lebensunterhalt nachsucht, muß - gleichsam täglich - darum bemüht sein,
seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu decken (§ 18 Abs. 1 BSHG).
Dabei ist dem Hilfesuchenden im Grundsatz jede Tätigkeit, die seine körperlichen und
geistigen Fähigkeiten nicht übersteigt, zumutbar, sofern ihm die künftige Ausübung
seiner bisherigen überwiegenden Tätigkeit nicht wesentlich erschwert würde und sofern
der Arbeit oder der Arbeitsgelegenheit ein sonstiger wichtiger Grund nicht
entgegensteht. Zwar sieht § 18 Abs. 3 Satz 2 BSHG vor, daß dem Hilfesuchenden eine
Arbeit oder Arbeitsgelegenheit vor allem nicht zugemutet werden darf, soweit dadurch
die geordnete Erziehung eines Kindes gefährdet würde. Einem alleinerziehenden
Elternteil kann jedoch zumindest eine Halbtagsarbeit zugemutet werden.
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Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 17. Mai 1995 - 5 C 20.93 -,
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 98, 203 =
Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte (FEVS) 46, 12
= Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 3200.
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Demgemäß kommt auch für die Antragstellerin eine Halbtagstätigkeit in Betracht.
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Wie § 18 Abs. 3 Satz 5 BSHG ausdrücklich bestimmt, ist eine Arbeit oder eine
Arbeitsgelegenheit insbesondere nicht allein deshalb unzumutbar, weil sie einer
früheren beruflichen Tätigkeit des Hilfeempfängers nicht entspricht oder im Hinblick auf
seine Ausbildung als weniger anspruchsvoll anzusehen ist oder weil der
Beschäftigungsort vom Wohnort des Hilfeempfängers weiter entfernt ist als ein früherer
Beschäftigungs- oder Ausbildungsort oder weil die Arbeitsbedingungen ungünstiger
sind als bei den bisherigen Beschäftigungen des Hilfesuchenden. Unter die
Selbsthilfemöglichkeit und das Selbsthilfegebot des § 2 Abs. 1 BSHG fallen auch
Aushilfstätigkeiten, Urlaubsvertretungen und Gelegenheitsarbeiten jeglicher Art.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NW), Urteil vom
23. Januar 1995 - 8 A 2469/92 -, und Beschluß vom 9. Oktober 1996 - 8 B 2382/96 -;
Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg, Beschluß vom 29. August 1990 - Bs IV 326/90
-, FEVS 41, 417.
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Danach muß ein sozialhilferechtlicher Bedarf u.a. wegen eines Einkommens verneint
werden, das zu erzielen dem Hilfesuchenden zuzumuten ist.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Februar 1976 - V C 37.75 -, FEVS 24, 265, 269; OVG NW,
Beschluß vom 9. Oktober 1996 - 8 B 2382/96 -.
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Der Nachrang der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 1 BSHG greift bei der Selbsthilfe - anders
bei der Hilfe durch andere - schon dann, wenn der Hilfesuchende sich selbst helfen
"kann", er also die Möglichkeit hat, eine Arbeit aufzunehmen. Es kommt in diesem
Zusammenhang nicht darauf an, ob er von dieser Möglichkeit auch Gebrauch macht.
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Vgl. OVG NW, Urteil vom 23. Januar 1995 - 8 A 2469/92 - und Beschluß vom 9. Oktober
1996 - 8 B 2382/96 -.
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Dabei kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß ein Hilfesuchender, dessen
Leistungsfähigkeit nicht durch besondere körperliche oder geistige Mängel
beeinträchtigt ist und dessen Arbeitsaufnahme nicht wegen anderer in § 18 Abs. 3
BSHG genannter Gründe unzumutbar ist, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen kann. Diese
Annahme kann er durch im einzelnen zu substantiierende und nachprüfbar zu
belegende Angaben über erfolglos gebliebene Versuche, eine Erwerbstätigkeit zu
erlangen, widerlegen.
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Vgl. OVG Hamburg, Beschluß vom 29. Januar 1990 - Bs IV 326/90 -, aaO., und OVG
NW, Beschluß vom 9. Oktober 1996 - 8 B 2382/96 -, aaO..
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Allein die Meldung beim Arbeitsamt reicht insoweit nicht aus.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1995 - V C 20.93 -, aaO..
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Die materielle Notlage ist Voraussetzung des Anspruches auf Hilfe zum
Lebensunterhalt und fällt damit in den Kreis der vom Hilfesuchenden gegebenenfalls zu
beweisenden und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes glaubhaft zu
machenden Anspruchsvoraussetzungen.
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Vgl. OVG NW, Beschluß vom 9. Oktober 1996 - 8 B 2382/96 -.
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Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin weder gegenüber dem Antragsgegner im
Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren substantiierte Angaben über
erfolglos gebliebene konkrete Bemühungen der Antragstellerin, eine Erwerbstätigkeit,
zumindest eine Halbtagsarbeit, zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zu erlangen,
vorgetragen und glaubhaft gemacht. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 14.
Oktober 1996 nimmt sie zwar Bezug auf die Begründung des Antrages auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung durch ihren verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt.
Diesem Antrag lassen sich jedoch keine ins einzelne gehende Nachweise darüber
entnehmen, in welcher Art und Weise sich die Antragstellerin bei landwirtschaftlichen
Betrieben, bei Hühnerfarmen und bei der L. M. -AG in D. und in D. um Arbeit bemüht hat.
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Darüber hinaus folgt der Senat den Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem
angefochtenen Beschluß, daß Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin im
streitgegenständlichen Zeitraum bestehen, weil sie auch im Beschwerdeverfahren nicht
substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht hat, wie es ihr gelungen ist, seit der
Einstellung der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt zum 1. April 1995 bis zum Eingang
des Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bei dem Verwaltungsgericht am
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23. Oktober 1996 ihren notwendigen Lebensunterhalt und den notwendigen
Lebensunterhalt ihrer Kinder sicherzustellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
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Dieser Beschluß ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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