Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.08.2009

OVG NRW (sicherheit, kläger, öffentliche sicherheit, wirtschaftliche lage, deutschland, aufenthalt, unionsbürger, bundesrepublik deutschland, italien, einreise)

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 A 2263/08
Datum:
20.08.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 A 2263/08
Schlagworte:
Vorabentscheidungsersuchen öffentliche Sicherheit zwingende Gründe
Sicherheit des Staates Unionsbürger Verlustfeststellung
Unionsbürgerrichtlinie
Normen:
EG Art. 234; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; FreizügG/EU § 6 Abs. 5
Leitsätze:
Es wird gemäß Art. 234 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften zu der Frage eingeholt, ob der Begriff
der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3
der Richtlinie 2004/38/EG lediglich Gefährdungen der inneren und
äußeren Sicherheit des Staates erfasst.
Tenor:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Es wird gemäß Art. 234 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften zu folgender Frage eingeholt:
Erfasst der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit
gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG lediglich Gefährdungen
der inneren und äußeren Sicherheit des Staates im Sinne des Bestands
des Staates mit seinen Einrichtungen und seinen wichtigen öffentlichen
Diensten, des Überlebens der Bevölkerung sowie der auswärtigen
Beziehungen und des friedlichen Zusammenlebens der Völker?
Gründe:
1
1
I. Rechtlicher Rahmen
2
2 1. Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über
das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,
72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/WG, 90/364EWG, 90/365/EWG und
93/96/EWG vom 29. April 2004 (ABl. L 158 S. 77; ber. ABl. L 229 S. 35 - im
3
Folgenden: RL 2004/38/EG, enthält folgende Regelung:
3 Art. 28 Schutz vor Ausweisung
4
4 (1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der
öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die
Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen
Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und
kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen
zum Herkunftsstaat.
5
5 (2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre
Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf
Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus
schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
6
6 (3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn,
die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die
von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
7
7 a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt
haben (...).
8
8 2. Das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern
(Freizügigkeitsgesetz/EU - im Folgenden: FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I,
S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007
(BGBl. I S. 1970) sieht unter anderem vor:
9
9 § 1 Anwendungsbereich
10
10 Dieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen
anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer
Familienangehörigen.
11
11 § 2 Recht auf Einreise und Aufenthalt
12
12 (1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen
haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
13
13 (2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
14
(...)
15
14 7. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht
erworben haben. (...)
16
15 (4) Unionsbürger bedürfen für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt
keines Aufenthaltstitels. (...)
17
16 § 4a Daueraufenthaltsrecht
18
17 (1) Unionsbürger, (...), die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im
Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der
Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt
(Daueraufenthaltsrecht). (...)
19
18 § 5 Bescheinigungen über gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrechte,
Aufenthaltskarten
20
19 (1) Freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen
mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wird von
Amts wegen unverzüglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht
ausgestellt.
21
20 § 6 Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
22
21 (1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5
nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39
Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft)
festgestellt (..) werden. (...)
23
22 (2) Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht,
um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen.
Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche
Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu
Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das
eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine
tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
24
23 (3) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des
Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand,
seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in
Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu
berücksichtigen.
25
24 (4) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des
Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.
26
25 (5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren
Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im
Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der
öffentlichen Sicherheit getroffen werden. (...) Zwingende Gründe der öffentlichen
Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder
mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe
von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen
Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine
terroristische Gefahr ausgeht.
27
26 § 7 Ausreisepflicht
28
27 (1) Unionsbürger sind ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt
hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. (...)
29
28 (2) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ihr Freizügigkeitsrecht
nach § 6 Abs. 1 verloren haben, dürfen nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen
und sich darin aufhalten. Das Verbot nach Satz 1 wird auf Antrag befristet. (...)
30
29
II. Tatbestand
31
30 Der am 3. September 1965 in M. /Italien geborene Kläger, ein italienischer
Staatsangehöriger, wendet sich gegen die --der der Sache nach als Ausweisung
anzusehende - Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und
Aufenthalt in Deutschland sowie gegen die ihm angedrohte Abschiebung. Der
Kläger lebt seit 1987 in Deutschland. Ihm wurde dazu erstmals im April 1987 eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt, die in der Folge mehrfach verlängert wurde. Er ist ledig
und kinderlos. Weder in Italien noch in Deutschland hat er eine Schul- oder
Berufsausbildung abgeschlossen. In Deutschland war der Kläger nur zeitweise im
Rahmen einfacher Hilfsarbeiten erwerbstätig. Vor seiner Inhaftierung arbeitete er
zuletzt für 1 EUR in der Stunde als Hilfe seiner Lebensgefährtin bei deren Tätigkeit
als Reinigungskraft. Von der Lebensgefährtin hat sich der Kläger inzwischen
getrennt. Er hat fünf Geschwister, die teils in Deutschland und teils in Italien leben.
Seine Mutter lebt seit seiner Inhaftierung zeitweise in Deutschland und sonst in
Italien.
32
31 Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts L. vom 16. Mai 2006,
rechtskräftig seit dem 28. Oktober 2006, wegen sexuellen Missbrauchs eines
Kindes, sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die zugrunde liegenden Taten fanden
in den Jahren 1990 bis 2001 statt. Opfer der Straftaten war die zu Beginn der Taten
acht Jahre alte Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin. Der Klägerbestimmte
zwang sein Opfer von 1992 an gegen dessen Willen regelmäßig, fast wöchentlich
zum Geschlechtsverkehr oder anderen sexuellen Handlungen, indem er Gewalt
anwandte und es unter anderem mit dem Tode der Mutter oder des Bruders
bedrohte. Seit dem 10. Januar 2006 befindet sich der Kläger in Haft. Das Strafende
ist auf den 9. Juli 2013 notiert.
33
32 Nach entsprechender Anhörung im Oktober 2007 stellte die Beklagte mit
Bescheid vom 6. Mai 2008 den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und
Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU fest, ordnete die sofortige
Vollziehbarkeit dieser Maßnahme an und drohte dem Kläger die Abschiebung
nach Italien an. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, aufgrund
seiner Verurteilung erfülle der Kläger die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5
FreizügG/EU. Er habe mit erheblicher Energie gehandelt und seinem Opfer durch
den jahrelangen Missbrauch unendliches Leid angetan. Es könne nicht
ausgeschlossen werden, dass er beim Vorliegen ähnlicher Umstände erneut in
gleicher oder ähnlicher Weise straffällig werde. Hierfür spreche vor allem der lange
Zeitraum, in dem der Kläger sein Opfer regelmäßig vergewaltigt und sexuell
genötigt habe, sowieso sein weiterhin fehlendes Unrechtsbewusstsein. Nach
Mitteilung der JVA sehe sich der Kläger als eigentliches Tatopfer und sei bis heute
nicht bereit, den massiven Unrechtsgehalt seiner Taten einzusehen. Eine
34
Aufarbeitung der Taten habe nicht stattgefunden. Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU
seien die schutzwürdigen Belange des Klägers berücksichtigt worden. Eine
besondere wirtschaftliche oder soziale Integration in die deutsche Gesellschaft
habe bei ihm nicht stattgefunden. Einer längerfristigen Erwerbstätigkeit sei er nicht
nachgegangen. Er sei ledig und kinderlos. Gegenüber Bediensteten der JVA habe
er zudem angegeben, nach Italien zu seinen Eltern zurückkehren und sich dort
eine Beschäftigung bei seinem Onkel suchen zu wollen.
33 Am 12. Juni 2008 hat der Kläger fristgerecht Klage gegen den Bescheid
erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner
Klage gestellt. Zur Begründung der Klage hat er im Wesentlichen vorgetragen,
zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, wie sie gemäß § 6 Abs. 5
FreizügG/EU für die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und
Aufenthalt erforderlich seien, lägen nicht vor. Von ihm gehe gegenwärtig keinerlei
Gefahr aus. Seine Tat sei als Beziehungstat einzuordnen. Das ihm vorgeworfene
Fehlverhalten habe sich auf eine Person aus seinem unmittelbaren Hausstand
bezogen. Einschlägige Vorstrafen gebe es nicht. Es sei zwar richtig, dass er ein
Fehlverhalten nicht einräume, unabhängig davon sei er aber in der Lage zu
erkennen, dass ein solches Fehlverhalten einen erheblichen Unwertgehalt trage.
Seine schutzwürdigen Belange stünden zudem der Verlustfeststellung entgegen.
Er hoffe nach seiner Inhaftierung einer Tätigkeit nachgehen zu können, die seinen
Lebensunterhalt sichere. Dass er vor seiner Inhaftierung nur geringfügig beschäftigt
gewesen sei, habe an der schlechten wirtschaftlichen Lage gelegen. Ferner habe
er eine enge Verbindung zu seiner in S. lebenden Schwester und zu seiner
ehemaligen Lebensgefährtin, zu der die Beziehung noch bis vor kurzem bestanden
habe. Dass er angegeben haben solle, nach Italien zurückkehren und sich dort
eine Beschäftigung suchen zu wollen, sei falsch. Seinem sozialen und
wirtschaftlichen Umfeld in Italien sei er entrissen.
35
34 Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. Juli 2008
abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt: Die
angefochtenen Maßnahmen seien rechtmäßig.Die Beklagte habe beachtet, dass
der Kläger in den letzten zehn Jahren seinen Aufenthalt in Deutschland gehabt
habe, so dass die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU nur aus
den in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU näher beschriebenen zwingenden Gründen
erfolgen könne. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von § 6
Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EUder Vorschrift lägen vor, wenn gegen einen
Unionsbürger eine Mindestfreiheits- oder Jugendstrafe von fünf Jahren verhängt
worden sei, wie es hier der Fall sei. Damit habe der nationale Gesetzgeber Art. 28
Abs. 3 RL 2004/38/EG auch richtig umgesetzt.
36
35 Aus den der Verurteilung zugrunde liegenden Umständen ergebe sich ein
persönliches Verhalten des Klägers, das eine gegenwärtige, tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung in einem
Grundinteresse der Gesellschaft befürchten lasse. Es bestünden keine Zweifel
daran, dass der Kläger die Taten tatsächlich begangen habe. Es sei ein
Grundinteresse der Gesellschaft, Mädchen und Frauen vor sexuellen Übergriffen
und Vergewaltigungen zu schützen. Angesichts der Bedeutung des Schutzgutes
seien die Anforderungen an die Wiederholungsgefahr niedrig anzusetzen. Diese
Gefahrenschwelle überschreite der Kläger bei Weitem. Das Fachgericht habe
festgestellt, dass der Kläger über erhebliche kriminelle Energie verfüge, was
37
angesichts der Länge des Begehungszeitraums und vor allem des Alters des
Opfers ohne Weiteres nachvollziehbar sei. Hinzu komme die teilweise Eskalation
der Übergriffe bis zu mit physischer Gewalt erzwungenem Oralverkehr mit dem
damals gerade 14 Jahre alten Opfer oder dem Treten auf den Rücken des zu
Boden gefallenen Opfers aus Ärger über die ausnahmsweise gelungene Abwehr
eines neuerlichen Geschlechtsverkehrs. Die kriminelle Energie des Klägers
komme aber auch in den Maßnahmen zum Ausdruck, die dieser zum Schutz vor
Aufdeckung getroffen habe, indem er sein Opfer kontinuierlich massiv bedroht und
es aus Angst vor Offenbarungssituationen weitgehend isoliert habe. Entsprechend
gravierend seien die bei dem Opfer verursachten psychischen Folgen, die das
Landgericht mit "Alpträumen, Schlaf- und Essstörungen, Konzentrationsschwäche,
autoaggressivem Verhalten sowie einer Beeinträchtigung der eigenen
Sexualbeziehung" umschrieben habe. Dementsprechend sei die Entnahme einer
DNA-Probe des Klägers angeordnet worden, um sie gegebenenfalls in künftigen
Strafverfahren verwenden zu können.
36 Die Taten könnten nicht als Beziehungstat kleingeredet werden, zumal der
Kläger nach den Feststellungen des Landgerichts im Januar 2005 auch einem
weiblichen Geburtstagsgast gegenüber sexuell übergriffig geworden sei. Dass er
dafür nicht zur Rechenschaft gezogen worden sei, sei aus
gefahrenabwehrrechtlicher Sicht belanglos. Für eine Minderung der gegebenen
Wiederholungsgefahr gebe es keinen Anhalt. Der Kläger stelle sich bis heute
seiner Verantwortung nicht, sondern streite die Taten weiterhinalles ab. Deshalb
leuchtees ein, wenn die Leiterin der JVA in ihrer die Stellungnahme der Leiterein
der JVA von Anfang März 2008 ein, wonach es feststelle, dass der Kläger sich
weiterhin als eigentliches Tatopfer sehe, werfe einen langen Schatten aufseine
seine Legalprognose werfe, dass er sich weiterhin als eigentliches Tatopfer sehe..
38
37 Die Ausländerbehörde habe ferner die Vorgaben des § 6 Abs. 3 FreizügG/EU
beachtet. Der Kläger selbst messe offenbar seinem Recht zum Aufenthalt im
Bundesgebiet geringes Gewicht bei, nachdem er den Bediensteten der JVA
gegenüber bekundet habe, er wolle nach Italien zurückgehen und sich dort in der
Verwandtschaft um Arbeit bemühen. Aber auch sonst komme dem
AufenthaltsrRecht des Klägers hier kaum Gewicht zu: Er habe es trotz vieljährigen
Aufenthaltes nicht vermocht, sich eine halbwegs gesicherte Existenz aufzubauen;
zur Sicherung seines Lebensunterhaltes habe er in der Zeit vor seiner Verhaftung
nur durch eine äußerst geringfügige Beschäftigung beigetragen und ansonsten von
der Arbeitskraft seiner Lebensgefährtin gelebt, ohne dass gesundheitliche
Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit ersichtlich seien; die wirtschaftliche
Situation dafür als Grund anzuführen, liege auf der Linie des Klägers,
Verantwortung für sich nicht zu übernehmen. Indizien für eine soziale Integration in
Deutschland seien kaum auszumachen. Eine Entfremdung von den
Lebensverhältnissen in seiner Heimat empfinde der selbst dort seine Zukunft
sehende Kläger offenbar nicht. Zudem sei er immer wieder für Urlaubszwecke nach
Italien gereist. Auch habe er sich im Bundesgebiet ganz überwiegend im Kreise
von Landsleuten bewegt, und es habe des Öfteren Besuche aus Italien gegeben.
Überdies sei der Kläger der italienischen Sprache mindestens so mächtig wie der
deutschen. Auf Schutz durch Art. 6 GG könne er sich nicht berufen. Die Beziehung
zu seiner Lebensgefährtin bestehe nicht mehr. Dass seine Schwester in
Deutschland lebe, sei jenseits des Schutzbereiches. Auch angesichts seines Alters
könne ihm zugemutet werden, in Italien wieder Fuß zu fassen. Dass sein
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Gesundheitszustand Rücksichten erforderte, sei nicht ersichtlich.
38 Mit Beschluss vom 27. April 2009 hat der Senat die aufschiebende Wirkung der
Klage im Hinblick auf die Verlustfeststellung wiederhergestellt und im Hinblick auf
die Abschiebungsandrohung angeordnet.
40
39 Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid fristgerecht Berufung eingelegt, die
das Verwaltungsgericht zugelassen hatte. Zu deren Begründung wird im
Wesentlichen vorgetragen: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei
die Ordnungsverfügung der Beklagten rechtswidrig. Insbesondere lägen die gemäß
§ 6 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU erforderlichen zwingenden Gründe der öffentlichen
Sicherheit nicht vor. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU stelle die dritte und höchste Stufe des
Ausweisungsschutzes dar und setze Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG um. Daher
müsse die Regelung gemeinschaftskonform eng ausgelegt werden. Dies gebiete
schon der Grundsatz des effet utile, also der praktischen Durchsetzbarkeit des
Gemeinschaftsrechts; bei einer weiten Auslegung bestehe die Gefahr, dass sich in
der EU ein unterschiedliches Schutzniveau entwickele. Der
gemeinschaftsrechtliche Begriff der öffentlichen Sicherheit entspreche nicht dem
des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts. Er umfasse nach der ständigen
Rechtsprechung des EuGH vielmehr nur die innere und die äußere Sicherheit
eines Mitgliedstaates im Sinne des Bestands und der Funktionsfähigkeit staatlicher
Organe oder Einrichtungen, des inneren oder äußeren Friedens oder
lebenswichtiger Infrastruktureinrichtungen und beziehe sich damit auf das
Schutzsystem der Mitgliedstaaten zur Erhaltung ihres Gewaltmonopols. Eine
Verurteilung wegen eines Sexualdeliktes betreffe diese Schutzgüter nicht. Dies
werde auch deutlich, wenn man die anderen Tatbestände des § 6 Abs. 5
FreizügG/EU betrachte. Dort gehe es ebenfalls um die Sicherheit der
Bundesrepublik und um die von einem Betroffenen ausgehende terroristische
Gefahr. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU sehe zwar vor, dass bei einer Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens 5 Jahren im Einzelfall ein zwingender Grund
vorliegen könne. Allerdings sei die Norm nur dann mit Art. 28 Abs. 3 RL
2004/38/EG vereinbar, wenn darunter nur Straftaten gefasst werden, die im
Zusammenhang mit der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland stünden, was bei Sexualdelikten nicht der Fall sei.
41
40 Der Richtliniengeber habe bewusst eine Verengung der tauglichen Schutzgüter
erreichen wollen. Dies ergebe sich vor allem aus den Materialien zu Art. 28 Abs. 3
RL 2004/38/EG: Der Vorschlag der Kommission habe ursprünglich ein zweistufiges
System mit absolutem Ausweisungsschutz auf der zweiten Stufe nach dem Erwerb
des Daueraufenthaltsrechts vorgesehen. Letztlich habe man sich auf ein
dreistufiges Modell geeinigt, das sowohl den Ordre-Public-Interessen als auch den
privaten Interessen der Betroffenen Rechnung trage, die mit zunehmender
Integration im Aufnahmemitgliedstaat immer gewichtiger würden.
42
41 Im Übrigen gehe vom Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Gefahr
aus. Dass er die Taten leugne, sei ein nach der deutschen Strafprozessordnung
zulässiges Verhalten, weil sich ein Angeklagter nicht selbst zu belastenmüsse
brauche; dieses Verhalten könne ihm daher nicht angelastet werden. Die
Einlassung der JVA hierzu wirke im Übrigen vorgefertigt. Dass sich der Kläger
einer angebotenen Therapie verweigere, sei nicht bekannt. Ferner sei davon
auszugehen, dass durch den StrafvVollzug das Ziel der sozialen Integration
43
erreicht werde. Des Weiteren dürfe nicht zugrunde gelegt werden, dass der Kläger
auch einem anderen weiblichen Gast gegenüber sexuell übergriffig geworden sei,
da er diesbezüglich nicht verurteilt worden und es wohl nicht einmal zur
Strafanzeige gekommen sei. Auch werde bestritten, dass der Kläger Bediensteten
der JVA gegenüber bekundet habe, er wolle nach Italien zurückgehen. Der Kläger
habe sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch trotz der
schlechten wirtschaftlichen Situation eine gesicherte Existenz aufzubauen können.
Er habe es jedenfalls versucht, indem er auch Reinigungsarbeiten durchgeführt
habe.
42
III. Entscheidungsgründe
44
43 Der Rechtsstreit wird in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO
ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der europäischen
Gemeinschaften zur Auslegung des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG einzuholen
(Art. 234 EG).
45
44 Die vorgelegte Frage ist entscheidungserheblichund bedarf der Klärung durch
den Gerichtshof, weil die streitgegenständliche Verlustfeststellung rechtswidrig ist,
wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG nur
bei Gefährdungen der inneren und äußeren Sicherheit des Staates in einem engen
Sinne vorliegen können (1.), während gegen die Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Maßnahmen keine Bedenken bestehen, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit
gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie auch bei Gefährdungen bedeutsamer
Rechtsgüter Einzelner durch gemeinkriminelle Akte gegeben sein können (2.). Die
Frage bedarf der Klärung durch den Gerichtshof, weil sie bislang nicht hinreichend
geklärt ist (3.).
46
45 1. Die dem Kläger gegenüber ausgesprochene Verlustfeststellung ist
rechtswidrig, wenn der Begriff der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28 Abs. 3 RL
2004/38/EG lediglich die innere und äußere Sicherheit des Staates erfasst. Dies
ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
47
46 Bei dem Kläger handelt es sich um einen Unionsbürger, der sich seit 1987 in
Deutschland aufhält. Er ist - abgesehen davon, dass seine
Freizügigkeitsberechtigung zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden ist -
mindestens gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU i.V.m. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU
freizügigkeitsberechtigt. Als Unionsbürger bedarf der Kläger für die Einreise nach
Deutschland keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels, § 2
Abs. 4 FreizügG/EU. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger erhalten lediglich
eine - deklaratorische - Bescheinigung über ihr Aufenthaltsrecht, § 5 FreizügG/EU.
Das geltende deutsche Recht sieht begrifflich eine "Ausweisung" von
Unionsbürgern nicht vor. Der Sache nach ist sie aber – wenn auch unter anderer
Bezeichnung – in § 6 FreizügG/EU geregelt. Unter den differenzierten Vorgaben
des § 6 FreizügG/EUdieser Bestimmung kann der Verlust des Rechts auf Einreise
und Aufenthalt festgestellt werden; dies , was begründet gemäß § 7 Abs. 1
FreizügG/EU die Ausreisepflicht und gemäß § 7 Abs. 2 FreizügG/EU ein Einreise-
und Aufenthaltsverbot. Begründet Nachdem sich der Kläger seit mehr als zehn
Jahren im Bundesgebiet aufhält, fällt er in den Anwendungsbereich des Art. 28
Abs. 3 RL 2004/38/EG sowie der - die Richtlinie umsetzenden - Vorschriftdes § 6
Abs. 5 FreizügG/EU, der Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG in nationales Recht
48
umsetzt.. Nach beiden Bestimmungen darf die Feststellung des Verlusts des
Rechts auf Einreise und Aufenthalt bzw. die Ausweisung bei Unionsbürgern, die
ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus
zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen. Da die Richtlinie
hinreichend genau und unbedingt und mithin unmittelbar anwendbar ist, führt
bereits ein Verstoß gegen sie zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Abgesehen
davon ist § 6 Abs. 5 FreizügG/EU entsprechend der Richtlinie auszulegen. Wenn
unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 RL
2004/38/EG nur die innere und äußere Sicherheit des Staates zu fassen ist, gilt das
gleichermaßen für § 6 Abs. 5 FreizügG/EU.
47 Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ist
bislang zu entnehmen, dass unter dem primärrechtlichen Begriff der öffentlichen
Sicherheit die innere und äußere Sicherheit des Staates zu verstehen ist, wobei
der Begriff der inneren Sicherheit den Bestand des Staates, seiner Einrichtungen
und wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung umfasst
und der Begriff der äußeren Sicherheit die auswärtigen Beziehungen und das
friedliche Zusammenleben der Völker.
49
Vgl. insbesondere Urteile vom 10. Juli 1984 - Rs. 72/83 (Campus Oil) - Slg.
1984, 2727; vom 4. Oktober 1991 - C-367/89 (Richardt und Les Accessoires
Scientifiques) - Slg. 1991, I-4621; vom 17. Oktober 1995 - C-70/94 (Werner
Industrie-Ausrüstungen), Slg. 1995, I-3189; vom 26. Oktober 1999 - C-
273/97 (Sirdar) - Slg. 1999, I-7403; und vom 11. März 2003 - C-186/01
(Dory) - Slg. 2003, I-2479.
50
48 Für ein abweichendes sekundärrechtliches Verständnis des Begriffs der
öffentlichen Sicherheit besteht kein Anhalt. Jedoch ist offen, ob es sich insoweit um
eine abschließende Begriffsbestimmung handelt. Dafür mag sich zwar das Urteil
des Gerichtshofs vom 29. April 2004,
51
C-482/01und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri) - Slg. I-525,
52
anführen lassen, in dem die schwere Gemeinkriminalität, namentlich aus dem
Bereich der Drogendelikte, ausschließlich und durchgängig unter dem Aspekt der
"öffentlichen Ordnung" erörtert wird. Ausdrücklich wird die Frage damit aber nicht
beantwortet.
53
Der Kläger ist wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexueller Nötigung und
Vergewaltigung zu einer erheblichen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Wenn
es sich dabei auch zweifellos um schwere Kriminalität handelt, mit der die sexuelle
Selbstbestimmung eines Kindes bzw. einer jungen Frau missachtet und deren
körperliche und psychische Unversehrtheit gravierend beeinträchtigt worden ist,
liegt in solchen Taten gleichwohl keine Gefährdung der inneren und äußeren
Sicherheit des Staates im Sinne des Bestands des Staates mit seinen
Einrichtungen und seinen wichtigen öffentlichen Diensten, des Überlebens der
Bevölkerung sowie der auswärtigen Beziehungen und des friedlichen
Zusammenlebens der Völker. Keines der genannten Schutzgüter wird durch die
Taten berührt.
54
50 2. Wenn demgegenüber der Begriff der öffentlichen Sicherheit gemäß Art. 28
55
Abs. 3 RL 2004/38/EG auch bedeutsame Rechtsgüter Einzelner erfasst, wie sie
durch die Strafrechtsordnung geschützt werden sollen, so dass die öffentliche
Sicherheit auch durch gemeinkriminelle Akte gefährdet sein kann, sind die
Verlustfeststellung und die Abschiebungsandrohung rechtmäßig. Der Senat folgt
für diesen Fall den Feststellungen des Verwaltungsgerichts und nimmt - mit
wenigen Einschränkungen - auf sie Bezug. Das Verwaltungsgericht hat -
ausgehend von dem vorgenannten weiten Verständnis des Begriffs der öffentlichen
Sicherheit - zutreffend festgestellt, dass aufgrund der in Dauer, Art und
Begehungsweise seiner Taten zum Ausdruck kommenden erheblichen kriminellen
Energie des Klägers eine nicht hinzunehmende Wiederholungsgefahr besteht,
aufgrund derer sowohl die Anforderungen des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU als auch die
verschärften Anforderungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erfüllt sind. Die den Taten
des Klägers zu Grunde liegenden Umstände lassen danach ein persönliches
Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige, tatsächliche, hinreichend schwere
und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen
Ordnung darstellt. Das gilt auch dann, wenn es die vom Verwaltungsgericht weiter
benannten sexuellen Übergriffe gegenüber einer anderen Frau nicht gegeben
haben sollte. Ausgehend von dem genannten weiten Verständnis sind auch
zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von § 6 Abs. 5
FreizügG/EU anzunehmen, zumal der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von deutlich
über fünf Jahren verurteilt worden ist. Die vom Verwaltungsgericht eingehend
begründete Wiederholungsgefahr für hochrangige Rechtsgüter ist zwischenzeitlich
nicht gemindert worden. Dies würde voraussetzen, dass sich der Kläger seinen
Taten stellen und die erforderliche Aufarbeitung beginnen würde. Der Kläger
bestreitet indessen weiterhin, dass es die Taten, deretwegen er verurteilt worden
ist, gegeben hat. Dies ergibt sich aus der aktuellen Vollzugsplanfortschreibung der
JVA S. vom 15. Januar 2009. Der Umstand, dass es strafprozessual das Recht
eines Angeklagten ist, die Taten zu bestreiten, ist aus gefahrenabwehrrechtlicher
Sicht ohne Belang. Aufgrund der uneingeschränkt überzeugenden Feststellungen
des Landgerichts L. ist zugrunde zu legen, dass der Kläger die Taten begangen
hat. Hiervon ausgehend ist zur Gefahrenabwehr mindestens deren therapeutische
Aufarbeitung erforderlich, an der es weiterhin fehlt.
51 Das Verwaltungsgericht hat schließlich zu Recht festgestellt, dass
überwiegende entgegenstehende Interessen des Klägers im Sinne des § 6 Abs. 3
FreizügG/EU nicht ersichtlich sind. Dabei sind die Dauer seines Aufenthalts in
Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und
wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und
das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt worden. Auch
auf die diesbezüglichen Feststellungen nimmt der Senat mit geringen
Einschränkungen Bezug. So kommt es nicht darauf an, ob der Kläger tatsächlich
einer Bediensteten der JVA gegenüber bekundet hat, nach Italien zurückgehen und
sich dort bei seinem Onkel eine Beschäftigung suchen zu wollen. Angemerkt sei
allerdings, dass keinerlei Grund für die betreffende Justizbeschäftigte ersichtlich ist,
eine solche und zumal recht substantiierte Behauptung aufzustellen, wenn sie nicht
richtig wäre. Aber auch abgesehen hiervon besteht nach den nicht in Zweifel
gezogenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts auf der einen Seite die
Verbundenheit des Klägers mit seiner italienischen Heimat fort und ist auf der
anderen Seite eine Verwurzelung in Deutschland jedenfalls nicht in einem solchen
Ausmaß ersichtlich, dass es für ihn unzumutbar wäre, Deutschland zu verlassen.
Der Kläger ist hier nicht familiär angebunden; für eine besondere soziale oder
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wirtschaftliche Integration ist nichts vorgetragen oder sonst erkennbar. Soweit
geltend gemacht wird, der Kläger habe sich in Deutschland eine gesicherte
Existenz aufbauen können, ist für die Richtigkeit dieser Behauptung nichts auch
nur ansatzweise dargetan. Das Verwaltungsgericht hat unwidersprochen
festgestellt, der Kläger habe zur Sicherung seines Lebensunterhaltes in der Zeit vor
seiner Verhaftung nur durch eine äußerst geringfügige Beschäftigung beigetragen
und ansonsten von der Arbeitskraft seiner ehemaligen Lebensgefährtin gelebt,
ohne dass gesundheitliche Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit ersichtlich
seien. Mit der Berufung wird die fehlende wirtschaftliche Integration letztlich
eingeräumt, indem ausgeführt wird, der Kläger habe dies "jedenfalls offensichtlich
innerhalb des Möglichen versucht, indem er auch Reinigungsarbeiten" - für 1 EUR
Stundenlohn - durchgeführt habe. Mit diesem Versuch hatte es allein sein
Bewenden.
52 3. Die Frage, wie der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 der
Unionsbürgerrichtlinie auszulegen ist, insbesondere, ob damit unter Ausschluss
gemeinkrimineller Akte allein die Sicherheit des Staates gemeint ist, ist ungeklärt.
57
53 Ebenso BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008 – 2 BvR 2213/06 –; der
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Juli 2008 –
13 S 1917/07 -, NVwZ-RR 2009, 82 tendiert zu einem engen
Begriffsverständnis.
58
54 Das Tatbestandsmerkmal "öffentliche Sicherheit" wird in der Richtlinie nicht
definiert. Zwar wird den Mitgliedstaaten ein Spielraum zur Begriffsbestimmung
eingeräumt ("..auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den
Mitgliedsstaaten festgelegt wurden..."), auf den sich der deutsche Gesetzgeber bei
der Regelung in § 6 Abs. 5 Freizüg/EU berufen hat.
59
55 Vgl. BT- Drs. 16/5065, 211.
60
56 Dieser Spielraum dürfte sich indessen nur auf die nähere Konkretisierung
einzelner Schutzgüter beziehen und eine grundsätzliche Abweichung von dem
gemeinschaftsrechtlichen Begriff nicht rechtfertigen.
61
57 Vgl. näher Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom
22. Juli 2008, a.a.O., unter Berufung auf EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002 - C-
483/99 (Kommission/Frankreich), Slg. 2002, I-4781.
62
58 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften versteht den Begriff der
öffentlichen Sicherheit in einem engen Sinne dahin, dass damit die innere und
äußere Sicherheit im Sinne der Wahrung der territorialen Integrität der
Mitgliedstaaten und ihrer Institutionen gemeint ist.
63
59 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den
Rat vom 2. Juli 2009, Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der
Richtlinie 29004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer
Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu
bewegen und aufzuhalten, S. 11.
64
60 Ausgehend von der bislang vorliegenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der
65
Europäischen Gemeinschaften lässt sich die Vorlagefrage nicht eindeutig
entscheiden. Dieser Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass der (primärrechtliche)
Begriff der öffentlichen Sicherheit die innere und äußere Sicherheit des Staates
umfasst. Insoweit schließt die innere Sicherheit den Bestand des Staates, seiner
Einrichtungen und wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der
Bevölkerung ein, während zur äußeren Sicherheit die auswärtigen Beziehungen
und das friedliche Zusammenleben der Völker zählen.
61 Vgl. insbesondere Urteile vom 10. Juli 1984 - Rs. 72/83 (Campus Oil),
Slg. 1984, 2727; vom 4. Oktober 1991 - C-367/89 (Richardt und Les
Accessoires Scientifiques), Slg. 1991, I-4621; vom 17. Oktober 1995 - C-
70/94 (Werner Industrie-Ausrüstungen), Slg. 1995, I-3189; vom 26.
Oktober 1999 - C-273/97 (Sirdar), Slg. 1999, I-7403; und vom 11. März 2003
- C-186/01 (Dory), Slg. 2003, I-2479.
66
62 Es ist jedoch nicht erkennbar, ob es sich dabei um eine abschließende
Begriffsbestimmung handelt. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch
gemeinkriminelle Akte wird in den zitierten Entscheidungen nicht ausdrücklich
verneint.
67
63 Vgl. BVerfG, a.a.O.
68
64 Es mag sich als Indiz für ein enges Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen
Begriffs der öffentlichen Sicherheit anführen lassen, dass die schwere
Gemeinkriminalität, namentlich aus dem Bereich der Drogendelikte, im Urteil des
Gerichtshofs vom 29. April 2004,
69
65 C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), Slg. 2004, I-5257,
70
66 ausschließlich unter dem Aspekt der "öffentlichen Ordnung" erörtert wird.
Andererseits deutet die Feststellung des Gerichtshofs,
71
67 vgl. Urteil vom 29. Oktober 1998 - C-114/97, Slg. 1998, I-06717,
72
68 die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste trage zur Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit bei, auf eine Einbeziehung der Prävention vor Straftaten in
die Schutzgüter der "öffentlichen Sicherheit" hin, zumal die angesprochene
Tätigkeit im zitierten Urteil im Wesentlichen im Schutz vor Straftaten bestand.
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69 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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