Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 06.10.2000

OVG NRW: zumutbare arbeit, sozialhilfe, verweigerung, form, beratung, anpassung, ermessensausübung, ermächtigung, rechtseinheit, rechtswidrigkeit

Oberverwaltungsgericht NRW, 16 B 833/00
Datum:
06.10.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 B 833/00
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 5 L 400/00
Tenor:
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren
bewilligt und Rechtsanwalt K. beigeordnet.
Der Antrag des Antragsgegners auf Zulassung der Beschwerde wird
abgelehnt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
1
I.
2
Dem Antragsteller wird auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe für das Verfahren auf
Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster
vom 22. Mai 2000 bewilligt (§ 166 VwGO iVm §§ 114 und 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO) und
Rechtsanwalt K. aus R. beigeordnet (§ 121 Abs. 1 ZPO).
3
II.
4
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Münster vom 22. Mai 2000 wird abgelehnt, weil die geltend
gemachten Zulassungsgründe entsprechend § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 iVm § 146
Abs. 4 VwGO nicht hinreichend dargetan sind bzw. nicht vorliegen.
5
Der vom Antragsgegner in erster Linie angeführte Zulassungsgrund entsprechend § 124
Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen
Entscheidung) rechtfertigt die Zulassung nicht. Das Verwaltungsgericht hat
angenommen, dem Fernbleiben des Antragstellers von der ihm offenbar auch für den
streitgegenständlichen Zeitraum angebotenen gemeinnützigen Arbeit bzw. seiner
Nichtteilnahme an dem ihm vermittelten Lehrgang des DRK B. liege nicht im Sinne des
6
Gesetzes eine Verweigerung zumutbarer Arbeit zugrunde, weil der Antragsteller aus
gesundheitlichen Gründen zu dem ihm abverlangten Verhalten nicht in der Lage
gewesen sei. Insoweit kann dahinstehen, ob die vom Verwaltungsgericht als
entscheidungstragend herausgestellten Gründe durch das Rechtsbehelfsvorbringen im
Einzelnen erschüttert werden. Auch nach Auffassung des Senats kann allerdings aus
den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen durchaus zweifelhaft erscheinen, ob
die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 BSHG überhaupt erfüllt gewesen
sind; denn die Vorschrift setzt eine schuldhafte
- vgl. etwa: Kunz in: Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG (Stand Oktober 1999), § 25 Rn. 7
-
7
Verweigerung zumutbarer Arbeit voraus, wobei zu berücksichtigende
Hinderungsgründe in der Person des Hilfesuchenden insbesondere eine chronische
Erkrankung des Betroffenen bzw. eine Sucht sein können.
8
Vgl. etwa Fasselt in: Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, § 18 Rn. 6.
9
Zwar war der Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen Dr. E. in seinem Attest vom
11. August 1999 zu dem Ergebnis gelangt, die Alkoholkrankheit des Antragstellers sei
kein Hinderungsgrund für eine gemeinnützige Tätigkeit. Die spätere Notaufnahme des
Antragstellers am 1. September 1999 und die anschließende, sich bis zum 15.
September 1999 erstreckende stationäre Krankenhausbehandlung des Antragstellers
mit der "primären" Diagnose des chronischen Alkoholmissbrauchs bot jedoch Anlass für
eine Hinterfragung der nur aus einem Satz bestehenden amtsärztlichen Stellungnahme,
zumal der Antragsteller trotz der mehrfachen Kürzung bzw. Einstellung der Hilfe in der
Vergangenheit nicht nachhaltig zur Aufnahme einer Arbeit hat bewogen werden können.
10
Selbst wenn aber davon auszugehen wäre, dass die vom Verwaltungsgericht als
entscheidungstragend herausgestellten Gründe durch das Rechtsbehelfsvorbringen im
Einzelnen erschüttert werden, bestünden jedenfalls keine Zweifel daran, dass das
Verwaltungsgericht dem Antrag des Antragstellers dennoch im Ergebnis zu Recht
stattgegeben und angenommen hat, dem Anspruch stehe § 25 Abs. 1 BSHG bei
summarischer Prüfung nicht entgegen; denn der Antragsgegner hätte jedenfalls gegen
die nach § 39 SGB I iVm § 4 Abs. 2 BSHG
11
- vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 31. Januar 1968 - V C 22.67 -, BVerwGE 29, 99
= FEVS 15, 121 -
12
bestehende Verpflichtung verstoßen, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden,
ob und ggf. in welcher Form und in welchem Maß er trotz eines wegen Verweigerung
zumutbarer Arbeit etwa fehlenden Anspruchs Hilfe gewährt. Wenn § 25 Abs. 1 BSHG
bestimmt, dass derjenige, der sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren
Maßnahmen nach §§ 19 oder 20 BSHG nachzukommen, keinen Anspruch auf Hilfe zum
Lebensunterhalt hat, so bedeutet das nicht, dass die Sozialhilfe ohne weiteres
vollständig eingestellt werden darf. Nach § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG ist - nach
entsprechender Belehrung - lediglich in einer ersten Stufe die Hilfe um mindestens 25
v.H. des maßgeblichen Regelsatzes zu kürzen. Im Übrigen hat der Träger der
Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob und in welchem Umfang
er trotz Vorliegens der Voraussetzungen nach § 25 Abs. 1 BSHG Hilfe gewährt.
13
Vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Auflage, § 25 Rn. 10; Wenzel in: Fichtner,
Bundessozialhilfegesetz, § 25 Rn. 8; Krahmer in: LPK-BSHG, § 25 Rn. 7; Mergler/Zink,
BSHG, § 25 Rn. 19a und 19 b.
14
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der auch die für das
Sozialhilferecht zuständigen Senate des beschließenden Gerichts folgen, gibt das
Gesetz dem Sozialhilfeträger in § 25 BSHG - abgesehen von der gebundenen
Entscheidung nach § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG - lediglich die Möglichkeit, die Hilfe zum
Lebensunterhalt zu versagen oder einzuschränken, lässt demnach seine grundsätzliche
Verpflichtung unberührt, den Sozialhilfefall unter Kontrolle zu halten. Der Träger der
Sozialhilfe wird bei der Gestaltung der Hilfe und ihrer Anpassung an die Besonderheiten
des Einzelfalles lediglich freier gestellt.
15
Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1983 - 5 C 115.81 -, BVerwGE 67, 1 = FEVS 32,
265 (270), Urteil vom 13. Oktober 1983 - 5 C 66.82 -, BVerwGE 69, 97 = FEVS 33, 45
(51,52), Urteil vom 17. Mai 1995 - 5 C 20.93 -, BVerwGE 98, 203 = FEVS 46, 12.
16
Die Befugnis des Trägers der Sozialhilfe, die Hilfe zum Lebensunterhalt einzustellen
oder zu kürzen, kann danach nicht als Verwirkungs- oder Sanktionstatbestand
angesehen werden. Vielmehr geht es um eine Form der Hilfe, nämlich um eine
Möglichkeit neben anderen (Gewöhnung an Arbeit gemäß § 20 BSHG, Beratung nach §
8 BSHG, Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 2 BSHG oder jede andere Hilfe im Sinne
des § 3 Abs. 1 BSHG), dem mangelnden Selbsthilfestreben des Betroffenen zu
begegnen. Das ihm insoweit und hinsichtlich der Höhe der im Einzelfall trotz eventueller
Verwirklichung des § 25 Abs. 1 BSHG zu gewährenden Hilfe zustehende Ermessen hat
der Antragsgegner nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Zwar kann das Gericht nach § 114
VwGO die Ermessensausübung lediglich dahin überprüfen, ob der Antragsgegner die
Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der
Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Vorliegend spricht
jedoch bei der in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen
summarischen Prüfung alles für einen Ermessensfehlgebrauch des Antragsgegners im
Sinne des § 114 VwGO. Der die Hilfeleistung zum 1. März 2000 einstellende Bescheid
vom 24. Februar 2000 umfasst - wie alle im Laufe der Zeit vorausgegangenen
entsprechenden Bescheide des Antragsgegners - nur wenige Sätze und lässt nicht
erkennen, dass sich der Antragsgegner seines Ermessens überhaupt bewusst gewesen
ist. Dagegen spricht auch die Formulierung in dem vorausgegangenen
Anhörungsschreiben vom 14. Februar 2000, in dem es heißt: "Die ... Hilfe zum
Lebensunterhalt ... muss (Hervorhebung durch den Senat) wegen fehlender Mitwirkung
ab 01.03.2000 eingestellt werden." Davon, dass etwa angesichts der besonderen
Umstände des Falles nur eine einzige Entscheidung, nämlich die Einstellung der Hilfe
zum Lebensunterhalt, ermessensfehlerfrei gewesen wäre, kann nicht die Rede sein.
Zumindest konnte keine Automatik dahin bestehen, dass nur eine vollständige
Einstellung der Hilfe - noch dazu unter Einschluss der Unterkunftskosten - in Betracht zu
ziehen gewesen ist.
17
Mit den aufgezeigten Gesichtspunkten hat sich der Antragsgegner in dem
Einstellungsbescheid vom 12. Februar 2000 anders als erforderlich nicht auseinander
gesetzt.
18
Die hierauf beruhende Rechtswidrigkeit der Versagung der Hilfe zum Lebensunterhalt
während des in Streit stehenden Zeitraums lässt sich nicht dadurch beheben, dass der
19
Antragsgegner nachträglich eine erneute Ermessensentscheidung trifft.
Vgl. insoweit OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 1998 - 24 B 841/97 - und Beschluss
vom 14. April 2000 - 16 B 472/00 -.
20
Weder kann gemeinnützige und zusätzliche oder auch sonstige Arbeit nämlich in der
Gegenwart nachträglich geleistet werden,
21
vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1983 - 5 C 115/81 -, BVerwGE 67, 1 (8) = FEVS 32,
265, und Urteil vom 13. Oktober 1983 - 5 C 67.82 -, BVerwGE 68, 91 (97) = FEVS 33,
89,
22
noch kann ein anderes Mittel der Hilfe nachträglich angewendet werden.
23
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 1968 - V C 22.67 -, a.a.O., sowie OVG NRW,
Beschluss vom 20. Mai 1998 - 24 B 841/97 -, m.w.N.
24
Der Antragsgegner hat auch einen Zulassungsgrund entsprechend § 124 Abs. 2 Nr. 3
VwGO nicht dargetan. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne der genannten Bestimmung
hat eine Rechtssache nur dann, wenn zu erwarten ist, dass die Entscheidung im
angestrebten Rechtsmittelverfahren dazu dienen kann, die Rechtseinheit in ihrem
Bestand zu erhalten und/oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Dazu ist
erforderlich, dass die vom Rechtsmittelführer darzulegende Rechtsfrage in dem
angestrebten Rechtsmittelverfahren klärungsfähig und klärungsbedürftig ist.
25
Vgl. zur entsprechenden Problematik bei der Revisionsnichtzulassungsbeschwerde:
BVerwG, Beschluss vom 22. Oktober 1986 - 3 B 43.86 -, Buchholz, 310 § 132 VwGO Nr.
243.
26
Der Antragsgegner hat keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen,
die im Beschwerdeverfahren klärungsfähig und klärungsbedürftig wäre. Es ist schon
fraglich, ob mit den Ausführungen zu 2. der Antragsschrift überhaupt eine hinreichend
konkrete Rechtsfrage herausgearbeitet worden ist. Die Darlegungen betreffen - soweit
nicht lediglich die Sachverhaltswürdigung und das Vorgehen des Verwaltungsgerichts
angesprochen wird - jedenfalls lediglich materiell-rechtliche Probleme. Zur
rechtsgrundsätzlichen Klärung von Fragen des materiellen Rechts ist ein Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes jedoch regelmäßig nicht geeignet. In einem solchen
Verfahren findet in tatsächlicher, aber auch in rechtlicher Hinsicht zumeist nur eine
summarische Prüfung statt und die getroffene Entscheidung steht immer unter dem
Vorbehalt einer endgültigen Klärung im Hauptsacheverfahren. Bei Fragen des
revisiblen Rechts kommt hinzu, dass diese rechtsgrundsätzlich nur durch das - mit
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der hier vorliegenden Art gar nicht
befassten - Bundesverwaltungsgericht geklärt werden können.
27
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Juni 1999 - 24 B 407/99 -; Beschluss vom 19.
Januar 2000 - 22 B 1575/99 -.
28
Rechtsgrundsätzliche Fragen, die sich speziell daraus ergeben, dass es vorliegend um
ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geht, hat der Antragsgegner nicht
benannt.
29
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus §
188 Satz 2 VwGO.
30
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
31