Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.06.2009

OVG NRW: eltern, vorweggenommene beweiswürdigung, haushalt, wahrscheinlichkeit, gefahr, beschwerdeschrift, wahlrecht, unzumutbarkeit, erlass, deckung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 E 533/09
Datum:
03.06.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 E 533/09
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 6426/08
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche
Kosten werden nicht erstattet.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
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Die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die beabsichtigte
Rechtsverfolgung biete nicht die nach § 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO
erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg, ist auch in Ansehung des
Beschwerdevorbringens nicht zu beanstanden.
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Dass die Klägerin frühestens ab dem 2008 - also ihrem 18. Geburtstag - und nicht schon
bei Antragstellung am 8. Mai 2008 nach § 41 SGB VIII anspruchsberechtigt sein konnte,
ist mit der Beschwerdebegründung von vornherein nicht in Abrede gestellt worden. Die
gerichtliche Überprüfung erstreckt sich abgesehen davon üblicherweise auch nur bis
Ende August 2008 als Monat der letzten behördlichen Entscheidung.
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Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 15. Oktober 2008 - 12 E 1252/07 -.
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Auch dem so eingegrenzten prozessualen Begehren fehlt die hinreichende
Erfolgsaussicht. Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG
und an Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffes einerseits, dass
Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der
beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass
Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache nicht schlechthin
ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2001 - 12 E 671/99 -, m. w. N.
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Soweit das Verwaltungsgericht für den Überprüfungszeitraum keine hinreichenden
Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Voraussetzungen für eine zulässige
Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII gesehen hat, lässt auch das
Beschwerdevorbringen keine im Ergebnis anders lautende Würdigung zu. Selbst wenn
die Inanspruchnahme von Hilfe hier generell keinen Aufschub bis zu einer
Entscheidung des Jugendamtes aufgrund eines Hilfeplanes geduldet haben mag,
besagt das nämlich nichts über die Unaufschiebbarkeit gerade der konkret in Anspruch
genommenen Hilfeleistungen durch Frau C. . Anderenfalls könnte die
Selbstbeschaffung auf die Durchsetzung auch nicht geeigneter Hilfemaßnahmen auf
Kosten des Jugendhilfeträgers hinauslaufen. Maßgeblich kann daher nur sein, ob die
akute Bedarfslage gerade mit der selbstbeschafften Hilfe überwunden werden musste.
Dies hat das Verwaltungsgericht jedoch aus den nachfolgenden Gründen zutreffend mit
der Erwägung verneint, es wäre der Klägerin zumutbar gewesen, die Wartezeit bis zu
einer Entscheidung des Beklagten "mit Hilfe ihrer Eltern" zu überbrücken.
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Abgesehen davon, dass "mit Hilfe der Eltern" ausweislich des vor dem Amtsgericht
Rheinberg am 23. November 2007 geschlossenen Vergleichs nicht zwingend eine
Rückkehr in den elterlichen Haushalt hätte bedeuten müssen, hat das
Verwaltungsgericht auch eine solche Rückkehr zu den Eltern in Auswertung des
Beschlusses des Amtsgerichts - Familiengericht - S. vom 4. April 2008 im Verfahren F
und des in Auszügen vorgelegten Gutachtens von Frau L. vom 9. August 2007 für die
Zeit ab Antragstellung bis zur jugendbehördlichen Entscheidung als in Betracht
kommende Alternative geprüft und als für zumutbar befunden, ohne dass ihm die
Klägerin mit ihrer Beschwerdebegründung rechtsrelevante Wertungsfehler hat
aufzeigen können. Denn soweit das Familiengericht in seinem Beschluss vom 4. April
2008 offen lässt, "inwieweit tatsächlich das Kindeswohl der Antragstellerin
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- ausgehend vom Gutachten der Sachverständigen L. - bei einer Rückkehr zu ihren
Eltern gefährdet wäre", ergibt sich jedenfalls aus dem Kontext - namentlich aus dem
erwähnten Einverständnis und auch der Einsicht der Eltern, dass die Antragstellerin
nicht mehr dauerhaft bei ihnen wohnt -, dass mit einer "ggfls. vorhandenen Gefahr", die
die Eltern der Klägerin sehr wohl in der Lage und auch gewillt seien abzuwenden, nicht
eine Kindeswohlgefährdung durch einen nur vorübergehenden, als bloße
Zwischenlösung gedachten Wiedereinzug in den elterlichen Haushalt gemeint war.
Dass eine "gegebenenfalls vorhandene Gefahr" in dem bloß gelegentlichen Umgang
der Eltern mit der Klägerin liegen könnte, wie er bei einer vorübergehenden Rückkehr
einer 18-jährigen Schülerin in den elterlichen Haushalt regelmäßig einher zu gehen
pflegt, bringt der familiengerichtliche Beschluss an keiner Stelle hinreichend zum
Ausdruck.
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Genügend Anhaltspunkte, die gegen eine Zumutbarkeit einer vorübergehenden
Rückkehr der Klägerin zu ihren Eltern sprechen, ergeben sich entsprechend den
Ausführungen im angefochtenen Beschluss auch nicht aus einer Auswertung des in
Auszügen vorgelegten Gutachtens der Frau Dr. L. vom 9. August 2007. Die Klägerin hat
in der Beschwerdeschrift vom 9. April 2009 selbst eingeräumt, dass die in Betracht zu
ziehende Passagen eine "schwammige" Formulierung aufweisen, und deshalb die
Beibringung einer bestimmteren Stellungnahme der Ärztin angekündigt. Auch nach
mehr als 7 Wochen, innerhalb derer Frau L. längst aus dem Urlaub hätte zurück sein
müssen, ist dem Senat jedoch eine derartige ergänzende Stellungnahme nicht vorgelegt
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worden.
Der bloße Umstand, dass die Ärztin in der Replik der Klägerin vom 30. Januar 2009 als
sach-verständige Zeugin benannt worden ist, reicht nicht aus, um mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit von einer Unzumutbarkeit der vorübergehenden Rückkehr der
Klägerin zu ihren Eltern auszugehen und die Erfolgsaussichten der Klage insoweit zu
erhöhen. Zum einen ist Frau L. - zum Zwecke des Nachweises der Erforderlichkeit und
Eignung der begehrten Hilfe - lediglich für die fachliche Feststellung benannt worden,
die so schon aus dem jugendpsychiatrischen Gutachten vom 9. August 2007
hervorgegangen und nach dem oben Gesagten für die Frage der Zumutbarkeit einer
vorübergehenden Rückkehr der Klägerin zu ihren Eltern nicht hinreichend
aussagekräftig ist. Zum anderen ist Prozesskostenhilfe nicht immer schon dann zu
bewilligen, wenn ggfls. aus prozessualen Gründen einem Beweisantrag nachgegangen
werden muss. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind
nämlich nicht mit denen für eine Beweiserhebung identisch. Einen von der Partei
beantragten Beweis müssen die Gerichte nach der einschlägigen Rechtsprechung
grundsätzlich auch dann erheben, wenn sie die Richtigkeit der unter Beweis gestellten
Tatsache für sehr unwahrscheinlich halten. Ein verfassungsrechtliches, materiell-
rechtliches oder verfahrensmäßiges Gebot, die §§ 166 VwGO, 114 ff. ZPO dahin
auszulegen, einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe sei stets dann
stattzugeben, wenn eine Beweiserhebung beschlossen sei oder auch nur in Betracht
komme, besteht hingegen nicht.
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Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Januar 1986 - 2 BvR 25/86 -, NVwZ 1987, 786, und
vom 7. Mai 1997 - 1 BvR 296/94 -, NJW 1997, 2745 f.; OVG NRW, Beschlüsse vom 27.
Oktober 2006 - 12 E 1059/06 - und vom 7. Oktober 2007 - 12 E 1277/06 -, jeweils m. w.
N.
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Unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grenzen für eine
vorweggenommene Beweiswürdigung ist vielmehr von einem Fehlen einer
hinreichenden Aussicht auf Erfolg i. S. d. § 114 Satz 1 ZPO schon dann auszugehen,
wenn die summarische Würdigung des Sachverhaltes, so wie er sich nach Lage der
Akten darstellt, die Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zulässt, dass
jedenfalls mit (weit) überwiegender Wahrscheinlichkeit der entscheidungserhebliche
Sachverhalt in der Weise richtig ist, wie ihn die Stelle, die über den Erlass des
Verwaltungsaktes entschieden hat, ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat.
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So auch OVG NRW, Beschluss vom 31. Mai 2006
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- 12 E 1569/05 -.
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Der Beklagte hat bei Erlass seines ablehnenden Bescheides vom 13. August 2008 zu
Recht keine Veranlassung gesehen, eine etwaige Unzumutbarkeit der Rückkehr der
Klägerin in den elterlichen Haushalt zu thematisieren.
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Soweit das Verwaltungsgericht die fehlenden Erfolgsaussichten der Klage selbständig
tragend auch darauf gestützt hat, dass die begehrte Hilfeleistung nach den Darlegungen
der Klägerin nicht zur Deckung des Hilfebedarfes geeignet war, weil sie von Anfang an
keinen Erfolg versprochen habe, wird diese Argument durch die Einlassung der
Klägerin aus der Beschwerdeschrift vom 9. April 2009 ebenfalls nicht ausgeräumt. Die
Klägerin verkennt, dass das Ziel der Hilfe nach § 41 SGB VIII, bestehende Defizite in
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der Persönlichkeitsentwicklung soweit wie möglich zu beseitigen und den jungen
Volljährigen in die Lage zu versetzen, ein seinen Vorstellungen entsprechendes Leben
in der Gemeinschaft selbst zu gestalten und ohne fremde Hilfe führen zu können,
vorliegend als notwendiges Durchgangsstadium gerade auch die Konsolidierung des
Verhältnisses der Klägerin zu ihren Eltern umfasst. Eine ausreichende Befähigung, ein
selbstbestimmtes Leben nach eigenen Vorstellungen führen zu können, mag zwar das
Maximalziel der Hilfe für einen jungen Volljährigen sein, es ist im Falle der Klägerin
nach dem Gutachten von Frau L. jedoch u. a. nur auf dem Wege zu erreichen, dass sie
von der aus der schlechten Beziehung zu den Eltern folgenden Belastung befreit wird. §
41 Abs. 2 SGB VIII sieht - der Komplexität des Bedarfs entsprechend - verschiedene
Ausgestaltungen der Hilfe für junge Volljährige vor, die so dem jeweiligen Zwischenziel
angepasst werden und etwa auch - zunächst - in einer Familientherapie oder anderen
ambulanten Maßnahmen bestehen kann. Das Wunsch- und Wahlrecht des jungen
Heranwachsenden nach § 5 SGB VIII geht nicht soweit, dass er fachlich für notwendig
erachtete Zwischenschritte zur Verselbständigung schlichtweg ausblenden kann, weil
sie seinen Vorstellungen von einer Lebensführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
entsprechen. Vielmehr setzt das Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII eine nach
fachlichen Kriterien als geeignet zu beurteilende Maßnahme - hier nach § 41 SGB VIII -
voraus. Würde man es dem Betroffenen überlassen, durch schlichte Negierung eines
bestimmten Entwicklungs- oder Persönlichkeitsdefizits, das in maßgeblicher Weise
ursächlich für seinen Reiferückstand ist, die Geeignetheit einer Maßnahme in Frage zu
stellen bzw. zu begründen, liefe die auf eine - im Rahmen einer effektiven Hilfeleistung
nicht hinnehmbare - Verfestigung des psychischen Problems hinaus. Vorliegend hat die
Gutachterin generell - sowohl für die Zeit vor als "auch für die Zeit nach Abschluss der
Einzeltherapie" - eine Familientherapie empfohlen und dementsprechend grundsätzlich
die Hilfe bei Frau C. ungeachtet der zwischenzeitlich erteilten Pflegeerlaubnis als nicht
zielführend beurteilt.
Nach alledem kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin zumindest die wirtschaftlichen
Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe erfüllt. Lediglich am Rande
sei darauf hingewiesen, dass ausweislich §§ 1361 Abs. 4 Satz 4, 1360 Abs. 4 BGB ein
Zerwürfnis nicht generell den Anspruch auf einen Prozesskostenvorschuss ausschließt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 188 Satz 2 Halbsatz 1, 166 VwGO i. V. m. § 127
Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist gem. § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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