Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.08.2001

OVG NRW: alkoholmissbrauch, psychologisches gutachten, verdacht, blutalkoholkonzentration, strafverfahren, gesundheit, polizei, schwiegervater, verkehr, persönlichkeitsrecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 871/01
Datum:
22.08.2001
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 B 871/01
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 3 L 405/01
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 4.000,- DM
festgesetzt.
Gründe:
1
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde ist abzulehnen, weil die geltend gemachten
Zulassungsgründe nicht vorliegen bzw. nicht im Sinne des § 146 Abs. 5 Satz 3 VwGO
dargelegt sind.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses (§ 124 Abs. 2 Nr.
1 iVm § 146 Abs. 4 VwGO) bestehen nicht. Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu
Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller sich gemäß §§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG,
46 Abs. 1 Satz 1 FeV iVm §§ 11 Abs. 8, 46 Abs. 3 FeV zum Führen von Kraftfahrzeugen
als ungeeignet erwiesen hat, weil er sich weigert, der Anordnung des Antragsgegners
vom 18. Januar 2001, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen,
nachzukommen. Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen
summarischen Prüfung ist die Anordnung vom 18. Januar 2001 offensichtlich
rechtmäßig.
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Allerdings kommt § 13 Nr. 2 e FeV entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts
als Rechtsgrundlage für die Anordnung des Antragsgegners nicht in Betracht. Nach
dieser Vorschrift ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-
psychologischen Gutachtens an, wenn sonst zu klären ist, ob Alkoholmissbrauch nicht
mehr besteht. Aus der Formulierung "nicht mehr besteht" folgt, dass § 13 Nr. 2 e FeV die
Fälle betrifft, in denen ein in der Vergangenheit liegender oder bestehender
Alkoholmissbrauch festgestellt und deshalb zu klären ist, ob für die Zukunft ein
fortbestehender oder erneuter Alkoholmissbrauch hinreichend ausgeschlossen werden
kann.
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So auch OVG Saarlouis, Beschluss vom 18. September 2000 - 9 W 5/00 -.
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Bei dem Antragsteller ist demgegenüber erstmals zu klären, ob er Alkohol missbraucht
hat und weiterhin missbraucht. Für Fälle dieser Art kommt, soweit - wie hier - § 13 Nr. 2
b, c und d FeV nicht einschlägig sind, allein eine Anordnung zur Beibringung eines
medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 13 Nr. 2 a FeV in Betracht. Danach
ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen
Gutachtens an, wenn nach dem nach § 13 Nr. 1 FeV eingeholten ärztlichen Gutachten
zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen
oder sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Letzteres ist
hier der Fall.
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Alkoholmissbrauch liegt nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung vor,
wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender
Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann. Die Annahme eines
solchen Missbrauchs muss sich nach § 13 Nr. 2 a FeV aus Tatsachen ergeben. Mit Blick
darauf, dass das Verlangen nach Vorlage eines medizinisch- psychologischen
Gutachtens einen erheblichen Eingriff in dass verfassungsrechtlich geschützte
allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellt, rechtfertigt
eine Tatsache, aus der sich lediglich die entfernt liegende Möglichkeit eines
Alkoholmissbrauchs ergibt, noch keine Anordnung nach § 13 Nr. 2 a FeV. Andererseits
müssen entgegen der Auffassung des Antragstellers auch keine Tatsachen vorliegen,
aus denen sich "massive Anhaltspunkte" für einen Alkoholmissbrauch ergeben.
Vielmehr ist die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch- psychologischen
Gutachtens gemäß § 13 Nr. 2 a FeV ein geeignetes, erforderliches und angemessenes
Mittel zur Abwehr möglicher Gefahren im öffentlichen Straßenverkehr, wenn die
festgestellten Tatsachen den begründeten Verdacht auf Alkoholmissbrauch ergeben. In
diesem Fall muss das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Fahrerlaubnisinhabers
hinter die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter Leben, Gesundheit
und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer, die durch das Führen von Kraftfahrzeugen
im öffentlichen Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss erheblich gefährdet werden,
zurücktreten.
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Ebenso OVG Saarlouis, Beschluss vom 18. September 2000 - 9 W 5/00 -.
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Hier liegen Tatsachen vor, die den begründeten Verdacht rechtfertigen, dass der
Antragsteller das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit
beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann.
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Nach Nr. 3.11.1 der insoweit sachverständigen Begutachtungs- Leitlinien zur
Kraftfahreignung des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim
Bundesministerium für Gesundheit, Februar 2000, S. 40, ist "insbesondere" in folgenden
Fällen von Alkoholmissbrauch auszugehen:
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- in jedem Fall (ohne Berücksichtigung der Höhe der Blutalkoholkonzentration), wenn
wiederholt ein Fahrzeug unter unzulässig hoher Alkoholeinwirkung geführt wurde,
11
- nach einmaliger Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration (ohne weitere Anzeichen einer
Alkoholwirkung),
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- wenn aktenkundig belegt ist, dass es bei dem Betroffenen in der Vergangenheit im
Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme zu einem Verlust der Kontrolle des
Alkoholkonsums gekommen ist.
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Keiner dieser Fälle liegt hier vor. Der Antragsteller, bei dem am 19. September 1999
eine Blutalkoholkonzentration von 1,73 Promille gemessen wurde, ist vom Amtsgericht
P. mit Urteil vom 9. Februar 2000 vom Vorwurf der vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr
freigesprochen worden. Nach seiner eigenen schriftlichen Einlassung im Strafverfahren
und den Aussagen des Zeugen T. Ö. , die im Strafverfahren nicht widerlegt werden
konnten, hatte der Zeuge am 19. September 1999 das Kraftfahrzeug des Antragstellers
gefahren. Der Antragsteller fuhr lediglich als Beifahrer mit.
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Allerdings geht aus der Formulierung "insbesondere" in Nr. 3.11.1 der Begutachtungs-
Leitlinien hervor, dass die dort genannten Fallgestaltungen auch nach der
sachverständigen Auffassung des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin nicht
abschließend sind. Der begründete Verdacht auf Alkoholmissbrauch kann auch aus
anderen Tatsachen hergeleitet werden.
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Eine solche Tatsache, die auf Alkoholmissbrauch hindeutet, ist die beim Antragsteller
unter den konkreten Umständen festgestellte Blutalkoholkonzentration von 1,73
Promille. Verkehrsmedizinische Untersuchungen deuten entgegen der Auffassung des
Antragstellers darauf hin, dass der sog. Geselligkeitstrinker alkoholische Getränke
allenfalls bis zu einem Blutalkoholgehalt von 1 oder maximal 1,3 Promille verträgt und
zu sich nehmen kann. Personen, die Blutalkoholwerte über etwa 1,6 Promille erreichen,
leiden regelmäßig, auch wenn sie Ersttäter sind, an einer dauerhaften, ausgeprägten
Alkoholproblematik, die für erhebliche von der Norm abweichende Trinkgewohnheiten
spricht.
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Vgl. nur BVerwG, Urteile vom 27. September 1995 - 11 C 34.94 -, DVBl 1996, 165 (166),
und 15. Juli 1988 - 7 C 46/87 -, NJW 1989, 116 (116 f.), unter Hinweis auf die
einschlägigen verkehrsmedizinischen Untersuchungen.
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Ob bei Blutalkoholwerten von über 1,6 Promille, wie das Verwaltungsgericht meint, die
festgestellte Blutalkoholkonzentration für sich allein ausreicht, den begründeten
Verdacht auf Alkoholmissbrauch anzunehmen, erscheint zweifelhaft. Alkoholmissbrauch
liegt nämlich nach der Definition in Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung
nicht schon bei einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum vor.
Erforderlich ist weiter gehend, dass der Fahrerlaubnisinhaber zwischen einem solchen
Alkoholkonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeuges nicht trennen kann.
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Allerdings könnten die Ausführungen unter Nr. 3.11.2 der Begutachtungs-Leitlinien für
die Richtigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts sprechen. Dort heißt es unter
anderem, bei Werten um oder über 1,5 Promille sei nicht nur die Annahme eines
chronischen Alkoholkonsums mit besonderer Gewöhnung, sondern auch ein damit
einhergehender Verlust der kritischen Einschätzung des Verkehrsrisikos anzunehmen.
Fehlt dem Fahrerlaubnisinhaber aber nach erheblichem Alkoholgenuss die Fähigkeit,
das Risiko einer Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss einzuschätzen, so
dürfte nicht hinreichend gewährleistet sein, dass er in diesem Zustand auf das Führen
eines Kraftfahrzeuges verzichtet.
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Letztlich kann im vorliegenden Verfahren jedoch offen bleiben, ob allein eine hohe
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Blutalkoholkonzentration den begründeten Verdacht auf Alkoholmissbrauch ergibt. Ein
dahingehender Verdacht besteht jedenfalls dann, wenn neben der hohen
Blutalkoholkonzentration weitere Tatsachen vorliegen, aus denen der begründete
Verdacht hervorgeht, dass dem Fahrerlaubnisinhaber nach erheblichem Alkoholgenuss
die Fähigkeit fehlt, zwischen Alkoholkonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeuges zu
trennen. Ob hierfür ein Verhalten des Fahrerlaubnisinhabers genügt, das ganz
allgemein fehlendes Verantwortungsbewusstsein nach erheblichem Alkoholgenuss
erkennen lässt,
so VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Januar 2001 - 10 S 2032/00 -,
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oder ob sich das fehlende Verantwortungsbewusstsein gerade auf die Teilnahme am
Straßenverkehr beziehen muss,
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so wohl OVG Saarlouis, Beschluss vom 18. September 2000 - 9 W 5/00 -,
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bedarf im vorliegenden Verfahren ebenfalls keiner Entscheidung. Für die letztgenannte
Auffassung spricht jedenfalls, dass die Anordnungen nach § 13 FeV allein der Abwehr
von Gefahren im öffentlichen Straßenverkehr dienen. Andererseits kann ein Verhalten,
das ganz allgemein fehlendes Verantwortungsbewusstsein nach erheblichem
Alkoholgenuss erkennen lässt, im Einzelfall durchaus auch Rückschlüsse auf das
Verhalten des Fahrerlaubnisinhabers im Straßenverkehr ermöglichen.
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Hier liegen jedenfalls Tatsachen dafür vor, dass der Antragsteller nach erheblichem
Alkoholgenuss ein Kraftfahrzeug führen könnte. Der Zeuge Ö. hat nämlich in seiner
Aussage vor der Staatsanwaltschaft bekundet, dass der Antragsteller ihm am 19.
September 1999 gegen 4 Uhr morgens gesagt, er werde noch in der Nacht zu seinem
Schwiegervater fahren, wenn nicht der Zeuge die Polizei anrufe. Er, der Zeuge, habe
deshalb dem Antragsteller den Fahrzeugschlüssel weggenommen, weil er befürchtet
habe, dass dieser trotz des erheblichen Alkoholgenusses noch mit seinem Kraftfahrzeug
fahren werde. Der Antragsteller habe ihn daraufhin aufgefordert, den Fahrzeugschlüssel
zurückzugeben, und ihm den Schlüssel auch später weggenommen. Die Aussage
deutet damit hinreichend auf Alkoholmissbrauch hin, weil der Antragsteller zumindest
dann, wenn es ihm um die Durchsetzung eigener Interessen geht - er wollte am 19.
September 1999 unter allen Umständen bei der Polizei gegen seinen Schwiegervater,
von dem er sich bedroht fühlte, Anzeige erstatten -, dazu neigen könnte, trotz
erheblichen Alkoholgenusses ein Kraftfahrzeug zu führen.
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Dass die vom Zeugen Ö. geäußerte Befürchtung haltlos ist, macht der Antragsteller nicht
geltend. Er hat weder im Strafverfahren noch im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren die
Richtigkeit der Aussage des Zeugen Ö. insgesamt oder in Teilen in Zweifel gezogen.
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Soweit der Antragsteller rügt, der angefochtene Beschluss weiche im Sinne des § 124
Abs. 2 Nr. 4 iVm § 146 Abs. 4 VwGO von dem Beschluss des OVG Saarlouis vom 18.
September 2000 - 9 W 5/00 - ab, genügt sein Vorbringen nicht den
Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 5 Satz 3 VwGO. Nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 iVm
§ 146 Abs. 4 VwGO rechtfertigt eine etwaige Abweichung von einer obergerichtlichen
Rechtsprechung nur dann die Zulassung der Beschwerde, wenn das
Verwaltungsgericht von einer Entscheidung des ihm im Rechtszug übergeordneten
Oberverwaltungsgerichts abgewichen ist. Das ist nicht das OVG Saarlouis, sondern das
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
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Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 iVm §
146 Abs. 4 VwGO). Die vom Antragsteller sinngemäß aufgeworfene Frage, ob allein
eine hohe Blutalkoholkonzentration die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-
psychologischen Gutachtens gemäß § 13 Nr. 2 a oder e FeV rechtfertigt, stellt sich
entsprechend den vorstehenden Ausführungen im vorliegenden Verfahren nicht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 14, 20 Abs. 3 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
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