Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.01.1999

OVG NRW (kläger, grundstück, standort des gebäudes, verwaltungsgericht, vorschrift, aufschiebende wirkung, stadt, teil, antrag, verhandlung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 A 4072/97
Datum:
21.01.1999
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 A 4072/97
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 10 K 1579/95
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger die Klage
zurückgenommen haben.
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Baugenehmigung des Beklagten vom 24. März 1994 in der Fassung
des Nachtrags vom April 1998 wird aufgehoben.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner ein Fünftel und der Beklagte
trägt vier Fünftel der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks in . Das Grundstück hat die Form eines
spitzwinkligen Dreiecks. Es ist an der Straße mit einem zweigeschossigen,
freistehenden Wohnhaus bebaut. Sein rückwärtiger Bereich wird als Garten genutzt.
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Die Beigeladene ist Eigentümerin des Grundstücks . Sie hat es von der Stadt erworben.
Es ist aus einem größeren Grundstück, dem Flurstück 312, herausparzelliert. Im übrigen
ist das Flurstück 312 Eigentum der Stadt geblieben. Die Grundstücke der Beigeladenen
und der Kläger grenzen nicht unmittelbar aneinander. Zwischen sie schiebt sich das
Flurstück 312 in Form eines Keils, der spitzwinklig auf die Straße zuläuft.
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Die Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen liegen im Geltungsbereich des
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Bebauungsplans Nr. 120 - - der Stadt . Er setzt für das Grundstück der Beigeladenen
eine dreigeschossige Bebauung bei einer Geschoßflächenzahl von 1,0 fest. Auf einen
Normenkontrollantrag der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen den Bebauungsplan für nicht wirksam erklärt (Urteil vom 21.
Januar 1999 - 10a D 101/98.NE -).
Unter dem 9. September 1993 erteilte der Beklagte der Beigeladenen eine
Baugenehmigung für die Errichtung eines dreigeschossigen Mehrfamilienhauses mit 11
Wohneinheiten und 11 offenen Stellplätzen. Die Kläger legten gegen die
Baugenehmigung Widerspruch ein. Sie machten im Kern geltend: Das genehmigte
Vorhaben halte in Richtung auf ihr Grundstück die vorgeschriebene Abstandfläche nicht
ein. Es verletze zudem wegen seiner massiven Wirkung das Gebot der
Rücksichtnahme.
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Durch eine erste Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Februar 1994 genehmigte der
Beklagte eine abweichende Ausführung des Bauvorhabens. Der Sockel durfte um 60
cm höher ausgeführt und der Standort des Gebäudes verschoben werden. Infolge dieser
Änderungen lag eine Abstandfläche zum Teil auf dem Flurstück 312 der Stadt . Sie
übernahm durch Baulast diese Abstandfläche auf ihr Grundstück.
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Auf Antrag der Kläger ordnete das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen durch Beschluß
vom 10. März 1994 die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die
Baugenehmigung des Beklagten vom 9. September 1993 in der Fassung der
Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Februar 1994 an (Verfahren 10 L 135/94). Das
Verwaltungsgericht nahm an, das genehmigte Vorhaben verletze die
nachbarschützende Vorschrift des § 6 BauO NW. Für einen Wandteil liege die
Abstandfläche über das städtische Grundstück hinaus auf dem Grundstück der Kläger.
Eine Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs scheide aus. Das
Schmalseitenprivileg müsse für zwei weitere Außenwände in Anspruch genommen
werden. Das sei unzulässig.
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Unter dem 24. März 1994 erteilte der Beklagte der Beigeladenen eine neue
Baugenehmigung. Ihr lag eine leicht geänderte Ausführung des Vorhabens zugrunde.
Eine der Wände wurde so geändert, daß ihre Abstandfläche auf dem Baugrundstück
und dem angrenzenden städtischen Grundstück lag, insoweit durch eine zusätzliche
Baulast gesichert. Im übrigen ging der Beklagte davon aus, nunmehr könne für die
beiden anderen Wände das Schmalseitenprivileg in Anspruch genommen werden.
Anders als zur ursprünglichen Baugenehmigung vom 9. September 1993 gehörte zu der
Baugenehmigung vom 24. März 1994 kein eigener mitgenehmigter Plan zur Lage der
Stellplätze auf dem Grundstück.
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Die Beigeladene verzichtete unter dem 25. März 1994 auf die Baugenehmigung vom 9.
September 1993.
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Die Kläger legten gegen die Baugenehmigung vom 24. März 1994 am 7. April 1994
Widerspruch ein, über den nicht entschieden wurde.
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Die Kläger haben am 1. März 1995 Untätigkeitsklage erhoben. Sie haben zunächst die
Aufhebung sowohl der Baugenehmigung vom 9. September 1993 in der Fassung der
Nachtragsbaugenehmigung vom 11. Februar 1994 als auch der Baugenehmigung vom
24. März 1994 begehrt. Sie haben ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren
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weiter vertieft, namentlich die Rücksichtslosigkeit des Vorhabens geltend gemacht.
Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung erster Instanz nur noch beantragt,
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die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 24. März 1994 aufzuheben und
den Beklagten zu verpflichten, gegenüber der Beigeladenen bauordnungsbehördlich
einzuschreiten.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen.
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Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung haben die Kläger zunächst begehrt, die
Nichtigkeit der Baugenehmigung vom 24. März 1994 festzustellen, hilfsweise diese
Baugenehmigung wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben sowie ferner den Beklagten aus
Gründen der Vollzugsfolgenbeseitigung zu bauaufsichtlichem Einschreiten zu
verpflichten. Zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung machen sie geltend: Die
Seitenwand eines Zwerchhauses an der Nordostecke des genehmigten Gebäudes sei
bei der Bemessung der Abstandfläche zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.
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Nachdem der Beklagte durch Nachtrag vom April 1998 die Baugenehmigung um einen
Lageplan für die genehmigten Stellplätze ergänzt hat, beantragen die Kläger unter
Zurücknahme der Klage im übrigen,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die der Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung vom 24. März 1994 in der Fassung des Nachtrags vom April 1998
aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Seitenwand des
Zwerchhauses löse keine eigene Abstandfläche aus.
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Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Der Berichterstatter hat die Örtlichkeit in Augenschein genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verfahrensakten 10 L 135/94 und 10 M 23/94 -
jeweils VG Gelsenkirchen - sowie der Bauakten zu dem Bauvorhaben (ein Ordner und
zwei Hefte), des Bebauungsplans Nr. 120 - - der Stadt und der Aufstellungsvorgänge zu
diesem Bebauungsplan, die die Stadt in dem Verfahren 10a D 101/98.NE vorgelegt hat
und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung auch in diesem Verfahren waren.
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Entscheidungsgründe:
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1. Soweit die Kläger mit Einwilligung des Beklagten ihre Klage zurückgenommen
haben, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
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Die Klagerücknahme erfaßt den erstmals im Berufungsverfahren gestellten Hauptantrag,
die Nichtigkeit der Baugenehmigung des Beklagten vom 24. März 1994 festzustellen,
ferner den Antrag, den Beklagten zu verpflichten, gegenüber der Beigeladenen
bauordnungsbehördlich einzuschreiten.
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Die Kläger haben darüber hinaus ihre Anfechtungsklage gegen die ursprünglich erteilte
Baugenehmigung vom 9. September 1993 zurückgenommen. Insoweit war das
Verfahren beim Verwaltungsgericht anhängig geblieben. Die Kläger haben mit ihrer
Klageschrift vom 28. Februar 1995 eine Anfechtungsklage auch gegen die
Baugenehmigung des Beklagten vom 9. September 1993 rechtshängig gemacht.
Nachdem die Kläger (erneut) darauf hingewiesen worden waren, die Beigeladene habe
auf diese Baugenehmigung verzichtet, haben sie das Verfahren nur noch mit dem
Klageantrag fortgesetzt, die Baugenehmigung des Beklagten vom 24. März 1994
aufzuheben. Mit der Einschränkung ihres Antrags haben sie nicht zugleich konkludent
den Anfechtungsantrag gegen die Baugenehmigung des Beklagten vom 9. September
1993 zurückgenommen. Sie haben nämlich gleichzeitig das Gericht um einen Hinweis
gebeten, wenn dieses die Abgabe einer Erledigungserklärung für notwendig erachten
sollte. Für diesen Fall haben die Kläger die Abgabe einer prozeßbeendenden Erklärung
für die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht in Aussicht gestellt. Eine
prozeßbeendende Erklärung ist dort ausweislich des Protokolls über die mündliche
Verhandlung nicht abgegeben worden. Das Verwaltungsgericht hat in dem
angefochtenen Urteil weder über den Anfechtungsantrag gegen die Baugenehmigung
vom 9. September 1993 entschieden noch das Verfahren insoweit eingestellt. Dieser
Teil des Rechtsstreits ist mithin beim Verwaltungsgericht anhängig geblieben.
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Nach Erörterung dieser Prozeßlage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat
haben die Kläger (auch) ihren Anfechtungsantrag gegen die Baugenehmigung vom 9.
September 1993 zurückgenommen. Der Senat war nicht gehindert, die
Rücknahmeerklärung entgegenzunehmen, diesen Teil des Rechtsstreits an sich zu
ziehen und das Verfahren auch insoweit einzustellen,
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vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 31. Oktober 1974 - VII OE 45/74 - VerwRspr 27, S. 239;
Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage, § 110 Rdnr. 7.
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2. Mit dem zuletzt allein noch gestellten Antrag ist die Berufung begründet.
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Die Baugenehmigung des Beklagten vom 24. März 1994 ist (auch) in der Fassung des
Nachtrags vom April 1998 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113
Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Dem Vorhaben der Beigeladenen stehen öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegen,
welche zugleich den Interessen der Kläger als Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Das
Vorhaben verstößt gegen die nachbarschützende Bestimmung des § 6 Abs. 1 Satz 1
BauO NW.
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Anzuwenden ist § 6 BauO NW 1984. Diese Vorschrift galt, als der Beklagte die streitige
Baugenehmigung erteilte. Soweit es hier auf die Vorschrift ankommt, enthält § 6 BauO
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NW 1995 keine Regelung, die der Beigeladenen günstiger ist und die deshalb zu ihren
Gunsten angewendet werden müßte.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW 1984 sind vor Außenwänden von Gebäuden
Abstandflächen freizuhalten. Die Abstandflächen müssen gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1
BauO NW 1984 (grundsätzlich) auf dem Grundstück selbst liegen.
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Eine Abstandfläche muß vor der Seitenwand des Zwerchhauses eingehalten werden,
das mit seiner Front der Straße, mit seiner aus dem Dach aufgehenden Seitenwand
dem Grundstück der Kläger zugewandt ist. Diese Abstandfläche liegt zu einem
erheblichen Teil auf dem Grundstück der Kläger.
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Wie das Verwaltungsgericht im einzelnen zutreffend dargelegt hat, wären allerdings im
übrigen die Abstandflächen vor den Außenwänden in Richtung auf das Grundstück der
Kläger eingehalten, sei es, daß die Abstandflächen - auch unter Inanspruchnahme des
Schmalseitenprivilegs - auf dem Grundstück der Beigeladenen selbst liegen, sei es, daß
sie auf dem angrenzenden städtischen Grundstück liegen, insoweit jedoch auf dieses
durch Baulasten übernommen sind. Die Kläger machen nur geltend, die Eintragung der
Baulasten sei rechtsmißbräuchlich. Einen Rechtsmißbrauch wollen sie damit
begründen, bereits bei Bestellung der Baulasten sei absehbar gewesen, daß die damit
belasteten Flächen ganz oder teilweise im Wege der Umlegung ihnen - den Klägern -
zugeteilt werden würden. Dem ist nicht im einzelnen nachzugehen. Für eine
Unwirksamkeit der Baulasten ist nichts ersichtlich. Die Kläger beanstanden den Wert
von Flächen, die ihnen eventuell in der Umlegung zugeteilt werden, und spiegelbildlich
damit die Wertgleichheit mit Flächen, welche sie in der Umlegung verlieren. Mit der
Wirksamkeit der Baulasten und damit der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung hat
dies nichts zu tun.
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Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts löst aber auch die Seitenwand des
Zwerchhauses eine eigene Abstandfläche aus. Abstandflächen sind vor jeder
Außenwand einzuhalten. Dies ist die Regel, die in § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW 1984
bestimmt ist. Bei dieser Regel bleibt es, wenn das Gesetz nicht an anderer Stelle eine
Ausnahme normiert. Die Seitenwand des Zwerchhauses ist eine Außenwand. § 6 BauO
NW 1984 enthält keine besondere Regelung, welche die Einhaltung einer
Abstandfläche vor der Seitenwand des Zwerchhauses ausnahmsweise entbehrlich
machte. Insbesondere stellt § 6 Abs. 7 Satz 1 BauO NW 1984 eine solche Vorschrift
nicht dar.
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Nach dieser Vorschrift bleiben bei der Bemessung der Abstandflächen vor die
Außenwand vortretende Bauteile wie Gesimse, Dachvorsprünge, Blumenfenster,
Hauseingangstreppen und deren Überdachungen sowie Vorbauten wie Erker und
Balkone außer Betracht, wenn sie nicht mehr als 1,50 m vortreten. Das Zwerchhaus ist
weder ein vor die Außenwand vortretender Bauteil noch ein Vorbau in diesem Sinne.
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§ 6 Abs. 7 BauO NW 1984 privilegiert nur völlig untergeordnete Bauteile. Diese
Unterordnung ist vor allem funktional zu verstehen. Dies machen die Beispiele wie
Gesimse, Dachvorsprünge oder Blumenfenster deutlich. Bautechnisch sind Erker und
Balkon dadurch gekennzeichnet, daß sie aus der Außenwand herausspringen. Der
Erker steigt nicht aus dem Boden auf. Funktional dient er dazu, einerseits den Ausblick,
andererseits die Belichtungsverhältnisse zu verbessern sowie die Fassade zu gestalten.
An dem Privileg des § 6 Abs. 7 BauO NW 1984 nehmen Vorbauten nicht mehr teil, wenn
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durch sie die Abstandflächen funktional dafür in Anspruch genommen werden,
überhaupt einen seiner Zweckbestimmung noch nutzbaren Raum zu schaffen. In einem
derartigen Fall dient der Vorbau ausschließlich dem Zweck, weiteren Wohnraum zu
gewinnen, nicht mehr aber dem - vom Gesetzgeber gebilligten - Zweck, Ausblick und
Belichtung zu verbessern sowie die Fassade zu gestalten,
vgl. OVG NW, Urteil vom 17. Dezember 1992 - 10 A 2055/89 - BRS 54 Nr. 85;
Beschlüsse vom 30. September 1996 - 10 B 2178/96 -; vom 3. Dezember 1996 - 7 B
2771/96 -; vom 20. März 1997 - 10 A 4965/96 -.
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Nur für diese funktional untergeordneten Zwecke hat der Gesetzgeber die
Abstandfläche freigegeben. Der funktional weiterreichende Zweck, zusätzlichen
Wohnraum zu gewinnen, muß grundsätzlich innerhalb der Abstandfläche verwirklicht
werden.
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Bautechnisch tritt das Zwerchhaus nicht aus der Außenwand heraus. Es verlängert
vielmehr die Außenwand des Gebäudes über die Traufe hinaus in den Dachbereich. Es
steigt von der Geländeoberfläche aus bis in den Dachbereich auf und stellt sich dort als
Dachaufbau dar. Funktional dient es dazu, im Dachbereich zusätzlichen Wohnraum zu
schaffen. Das Zwerchhaus hat erst recht keine untergeordnete Funktion, wie sie den vor
die Außenwand vortretenden Bauteile wie Gesimsen, Dachvorsprüngen,
Blumenfenstern eigen ist.
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Unbehelflich ist die Überlegung des Verwaltungsgerichts, wenn schon vorspringende
Bauteile keine Abstandfläche auslösten, müsse dies erst recht für zurückspringende
Bauteile gelten. Das Verwaltungsgericht verfehlt mit seinem Erst-recht- Schluß den
Zweck des § 6 Abs. 7 BauO NW 1984, auf den es sich dabei bezieht. Die Vorschrift
privilegiert bestimmte Bauteile, die vor die Außenwand vortreten. Ohne selbst eine
eigene Abstandfläche auszulösen, dürfen sie bis zu 1,50 m in die Abstandfläche
hineinragen, die vor der Außenwand einzuhalten ist, aus welcher der privilegierte
Bauteil heraustritt. Darf der vortretende Bauteil ohne eigene Abstandfläche die
Abstandfläche der Außenwand in Anspruch nehmen, lösen auch seine Seitenteile keine
Abstandflächen zur Seite hin aus. Tritt ein Bauteil hinter eine Außenwand zurück, löst er
schon deshalb regelmäßig keine (größere) Abstandfläche aus als die Außenwand,
hinter der er zurücktritt. Das Zwerchhaus tritt nicht hinter die Giebelwand zurück, die
dem Grundstück der Kläger unmittelbar zugewandt ist. Es überragt diese Giebelwand.
Ob ein Bauteil vor eine Außenwand vortritt oder hinter eine Außenwand zurücktritt, kann
nur mit Blick auf die Außenwand beurteilt werden, der dieser Bauteil funktional und
bautechnisch zugeordnet ist. Das Zwerchhaus ist in diesem Sinne der Traufwand
zugeordnet, die zur Straße hin ausgerichtet ist. Es müßte nur dann keine Abstandfläche
einhalten, wenn es bezogen auf diese Wand als nur untergeordneter Bauteil im Sinne
von § 6 Abs. 7 BauO NW 1984 zu beurteilen wäre, was nicht der Fall ist.
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Weder bautechnisch noch nach seiner Funktion tritt das Zwerchhaus aus der
Giebelwand zurück, die dem Grundstück der Kläger zugewandt ist. Es ist, auch soweit
es als Dachaufbau erscheint, kein der Giebelwand zugeordneter Bauteil, der aus ihr
zurücktritt. Es handelt sich vielmehr um einen im Verhältnis zur Giebelwand
selbständigen Bauteil. Im Verhältnis zur Giebelwand können die Seitenwände des
Zwerchhauses bautechnisch und funktional nicht anders bewertet werden als bei einem
flach gedeckten Dach die Außenwände eines darauf aufgesetzten Staffelgeschosses.
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Das Zwerchhaus als einheitlicher Bauteil kann nicht für die Beurteilung nach § 6 BauO
NW 1984 in seine Bestandteile zerlegt werden, indem die Straßenfront nach § 6 Abs. 7
BauO NW 1984 beurteilt wird, die Seitenwände hingegen nach einer anderen Vorschrift
beurteilt werden. Verfehlt das Zwerchhaus die Privilegierung des § 6 Abs. 7 BauO NW
1984, gilt dies für diesen Bauteil insgesamt. Es fehlt dann an einer Regelung, die für die
Seitenwände eine andere Beurteilung als die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW 1984
ermöglicht. Ist das Zwerchhaus kein untergeordneter Bauteil im Sinne des § 6 Abs. 7
BauO NW 1984, gilt dies auch für die Seitenwände, unabhängig davon, ob sie dahin
beschrieben werden können, sie träten optisch hinter die seitliche Giebelwand des
Gebäudes zurück.
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Ebensowenig hilft der Hinweis auf § 6 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2 BauO NW 1984 weiter. Der
Vorschrift läßt sich nicht entnehmen, Dachgaupen oder Dachaufbauten lösten keine
eigenen Abstandflächen aus,
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zu den Abstandflächen von Dachaufbauten vgl. OVG NW, Urteil vom 21. August 1995 -
10 A 3139/91 -.
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Regelungsgegenstand des § 6 Abs. 4 Satz 4 BauO NW 1984 sind nicht die
Abstandflächen, welche Dachgaupen und Dachaufbauten ihrerseits einhalten müssen.
Die Vorschrift regelt vielmehr die Wandhöhe, und zwar in § 6 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2 2.
Spiegelstrich BauO NW 1984 die Höhe der Traufwand, auf welche ein Dach aufsetzt.
Zur Höhe der Traufwand wird ein Drittel der Höhe des Daches hinzugerechnet, wenn
das Dach mit Dachgaupen oder Dachaufbauten versehen ist, deren Gesamtbreite je
Dachfläche mehr als die Hälfte der darunterliegenden Gebäudewand beträgt.
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Bleibt das Zwerchhaus damit bei der Bemessung der Abstandflächen nicht außer
Betracht, hat es nicht nur vor der Außenwand, die als Frontseite der Straße zugekehrt
ist, eine Abstandfläche einzuhalten, sondern auch vor den Seitenwänden, hier vor
derjenigen, die dem Grundstück der Kläger zugekehrt ist. Die Abstandfläche liegt in
erheblichem Umfang auf dem Grundstück der Kläger. Das ist zwischen den Beteiligten
nicht streitig. Der Abstand dieser Wand zum Grundstück der Kläger läßt sich aus dem
Lageplan abgreifen. Ihr Abstand zur schräg verlaufenden Grenze des Grundstücks der
Kläger beträgt zwischen 5,50 m und 6 m. Kleinere Meßungenauigkeiten spielen keine
Rolle. Die Gesamthöhe der Wand ist durch eine gedachte Verlängerung der
Seitenwand des Zwerchhauses bis zum Schnitt mit der Geländeoberfläche zu ermitteln.
Von diesem fiktiven Schnitt mit der Geländeoberfläche aus ist die Tiefe der
Abstandfläche zu bemessen. Aus der maßgeblichen Ansichtszeichnung (Nord-Ost)
ergibt sich eine Wandhöhe von 11,82 m. Daraus errechnet sich eine Abstandfläche von
9,46 m.
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Weil die Seitenwand des Zwerchhauses eine eigene Abstandfläche auslöst, die nicht
auf dem Grundstück der Beigeladenen liegt, kann die Beigeladene für ihr Vorhaben das
Schmalseitenprivileg nicht für die Giebelwand in Anspruch nehmen, die dem
Grundstück der Antragsteller unmittelbar zugekehrt ist. Die Beigeladene benötigt außer
vor den beiden Giebelwänden das Schmalseitenprivileg für die Seitenwand des
Zwerchhauses, und damit vor mehr als zwei Außenwänden ihres Gebäudes. Das ist
aber gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NW 1984 nicht zulässig, mit der Folge, daß auch
vor der Giebelwand in Richtung auf das Grundstück der Kläger die Abstandfläche nicht
eingehalten ist.
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Wie der Senat mit Blick auf das ursprünglich anhängig gemachte, aber noch nicht
spruchreife Verlangen der Kläger nach bauaufsichtlichem Einschreiten anfügt, verstößt
das Vorhaben der Beigeladenen im übrigen nicht gegen öffentlich- rechtliche
Vorschriften, welche den Klägern Nachbarschutz vermitteln.
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In der Fassung des Nachtrags vom April 1998 verstößt die Baugenehmigung vom 24.
März 1994 nicht gegen § 47 Abs. 8 BauO NW 1984. Nach dieser Vorschrift müssen
Stellplätze so angeordnet und ausgeführt werden, daß ihre Benutzung die Gesundheit
nicht schädigt und Lärm oder Gerüche das Arbeiten und Wohnen, die Ruhe und die
Erholung in der Umgebung nicht über das zumutbare Maß hinaus stören. Elf Stellplätze
auf dem Grundstück sind von ihrer Anzahl her für die Nachbarschaft nicht unzumutbar.
Die nähere Umgebung weist eine hoch verdichtete Wohnbebauung auf. Dies löst einen
entsprechenden Bedarf an Stellplätzen aus. Sie sind nicht massiv an der Grenze zum
Grundstück der Kläger angeordnet. Die Zufahrt zu ihnen liegt auf der entgegengesetzten
Seite des Grundstücks der Beigeladenen.
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Die Baugenehmigung des Beklagten vom 24. März 1994 verstößt nicht gegen
nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts. Insoweit ist unerheblich, ob
das Vorhaben der Beigeladenen sich nach dem Maß baulicher Nutzung in jeder
Hinsicht gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
Dreigeschossige Wohngebäude gehören in jedem Fall zu dem Rahmen, den das
Vorhaben ausnutzen darf. Ein Vorhaben fügt sich zwar ausnahmsweise trotz Einhaltung
des Rahmens nicht ein, wenn es an der gebotenen Rücksichtnahme auf die sonstige,
vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen läßt. Das
Vorhaben der Beigeladenen erweist sich aber nach dem Maß seiner baulichen Nutzung
nicht als rücksichtslos. Soweit nicht bereits durch das Abstandflächenrecht erfaßt,
könnte von einem rücksichtslosen Maß baulicher Nutzung nur dann die Rede sein,
wenn das Gebäude auf seine Umgebung erdrückend wirkte. Das ist hier indes nicht der
Fall.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1, § 154 Abs. 3, § 162 Abs.
3 VwGO, der Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, § 708
Nr. 10, § 711, § 713 ZPO.
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Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen
hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2, § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
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