Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 27.10.2006

OVG NRW: ausweisung, ausländer, straftat, ausnahmefall, generalprävention, lebenserfahrung, bedürfnis, sanktion, wiederholungsgefahr, vorrang

Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 70/06
Datum:
27.10.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
18. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 B 70/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 27 L 1616/05
Schlagworte:
Ausweisung Ausweisungszweck Generalprävention zeitliche Nähe
Zeitablauf
Normen:
AufenthG § 53; AufenthG § 56 Abs. 1
Leitsätze:
1. Generalpräventive Gründe rechtfertigen eine Ausweisung nur, wenn
eine Straftat besonders schwer wiegt und nach der Lebenserfahrung
damit gerechnet werden kann, dass sich andere Ausländer durch eine
kontinuierliche Ausweisungspraxis von Straftaten ähnlicher Art und
Schwere abhalten lassen.
2. Die Eignung einer Ausweisung zur Verwirklichung ihres
generalpräventiven Zwecks der Verhaltenssteuerung anderer Ausländer
setzt nicht voraus, dass sie in enger zeitlicher Nähe zu der Straftat steht.
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500, EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss die Beschwerdebegründung u. a. die Gründe
darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit
der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Dies erfordert, dass der
Antragsteller mit schlüssigen Gegenargumenten auf die entscheidungstragenden
Gründe des erstinstanzlichen Beschlusses eingeht. Es ist von ihm aufzeigen, was nach
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der Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch Gegenstand der Überprüfung durch
das Beschwerdegericht sein soll und weshalb die diesbezüglichen
Entscheidungsgründe aus seiner Sicht nicht tragfähig sind. Dabei hat sich die
Beschwerde an der Begründungsstruktur der angefochtenen Entscheidung zu
orientieren. Da der Senat nur die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe
prüft (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), muss das Beschwerdevorbringen die genannten
Anforderungen in Fällen, in denen das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf
mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt hat, mit Blick auf jeden dieser Gründe
erfüllen.
Vgl. hierzu nur Senatsbeschluss vom 16. Februar 2006 – 18 B 2067/05 – mit
weiteren Nachweisen.
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Den vorstehenden Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Mit ihr
wird ausschließlich geltend gemacht, dass spezialpräventive Gründe die Ausweisung
des Antragstellers nicht (mehr) rechtfertigen. Damit wird nur die vom Verwaltungsgericht
zusätzlich ("Unabhängig davon") gegebene Begründung angegriffen. In keiner Weise
wird die Hauptbegründung (auf Seite 8 Absatz 3 des Beschlussabdrucks) tangiert,
wonach bei einer Regelausweisung,
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- zu der hier gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die nach § 53 Nr. 1
AufenthG verfügte zwingende Ausweisung herabgestuft wird -
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deren Verhältnismäßigkeit unter präventiven Gesichtspunkten im Allgemeinen indiziert
werde.
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Ungeachtet dessen sind die Ausführungen des Antragstellers dazu, dass wegen des
Fehlens einer Wiederholungsgefahr die Voraussetzungen für eine auf spezialpräventive
Gründe gestützte Ausweisung nicht vorliegen, nicht entscheidungserheblich.
Abgesehen davon, dass in dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung
maßgebenden Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 12. August
2005
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- vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Februar 1997 – 1 B 5.97 -, Buchholz
402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 8, ferner Urteil vom 7. Dezember 1999 – 1 C
13.99 , DVBl. 2000, 429 = DÖV 2000, 427 = InfAuslR 2000, 176 = NVwZ
2000, 688; Senatsbeschluss vom 28. Januar 2005 – 18 B 1260/06 -, AuAS
2005, 101 = EZAR NF 34 Nr. 2 -
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die vom Antragsteller für das Fehlen einer Wiederholungsgefahr für sich in Anspruch
genommenen Umstände (Gutachten des Dr. L. vom 5. April 2006 und Beschluss des
Landgerichts L1. vom 26. April 2006) noch nicht vorlagen, ist die Ausweisung des
Antragstellers ausgehend von den übrigen, mit der Beschwerde nicht angegriffenen
Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung, jedenfalls schon aus generalpräventiven
Gründen geboten. Dazu sei vorsorglich auf Folgendes hingewiesen:
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Aufgrund des dem Antragsteller zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes nach §
56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG darf er gemäß dessen Satz 2 nur aus schwerwiegenden
Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche Gründe
liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AuslG regelmäßig bei der hier gegebenen
Verwirklichung eines zwingenden Ausweisungstatbestandes vor, der Fälle schwerer
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und besonders schwerer Kriminalität betrifft. Die danach erforderliche Abgrenzung von
Regel- und Ausnahmefall knüpft an die für die gesetzliche Regel maßgeblichen Gründe
an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Regelrechtsfolge unabhängig davon gilt, ob
im Einzelfall spezial- oder generalpräventive Gründe zum Tragen kommen. In der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht,
vgl. nur BVerwG, Urteile vom 11. Juni 1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101,
247 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297 = DVBl 1997, 170 = DÖV 1997,
163, vom 24. September 1996 – 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63 = InfAuslR
1997, 63 = NVwZ 1997, 1123 = DVBl. 1997, 189 - und vom 31. August 2004
- 1 C 25.03 -, InfAuslR 2005, 49 = NVwZ 2005, 229, = DVBl 2005, 128 =
Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 27;
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der der Senat in ständiger Rechtsprechung folgt,
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- vgl. Senatsbeschlüsse vom 24. Februar 1998 – 18 B 1466/96 , NWVBl.
1998, 436 = InfAuslR 1998, 389, vom 26. März 2003 –18 A 3589/02 –, vom
5. November 2003 – 18 B 1941/03 –, vom 23. Mai 2005 – 18 B 634/05 – und
vom 14. Juli 2006 – 18 B 1240/06 –
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ist insbesondere geklärt, dass Ausweisungsgründe auch aus dem Sicht der
Generalprävention schwerwiegend sein können. Das ist der Fall, wenn eine Straftat
besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis dafür besteht, über eine
etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von
Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Ein derartiger Gesetzeszweck liegt
den Ausweisungstatbeständen der §§ 53 und 54 AufenthG, die im Wesentlichen
denjenigen des vormals geltenden § 47 AuslG entsprechen, regelmäßig zu Grunde.
Davon ausgehend tritt die Regelrechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, die
derjenigen des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG nachgebildet ist, nur dann nicht ein, wenn in
Bezug auf beide Ausweisungszwecke ein Ausnahmefall vorliegt.
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Vgl. Senatsbeschluss vom 5. März 1998 – 18 B 1718/96 , NWVBl. 1998,
354 = InfAuslR 1998, 393; ferner zu allem Senatsbeschluss vom 12.
Dezember 2003 – 18 A 1063/02 -.
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Daran fehlt es hier. Die der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegende Beurteilung,
ob ein Ausnahmefall vorliegt, fällt hier zu Lasten des Antragstellers aus. Die vom
Gesetzgeber für den Regelfall vorgenommene gesetzliche Wertung bedarf jedenfalls
unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention vorliegend keiner Korrektur, so dass die
spezialpräventiven Erwägungen in dem angefochtenen Beschluss nicht
entscheidungserheblich sind.
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Allerdings muss im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine derartige
Ausweisung eine angemessene generalpräventive Wirkung erwarten lassen. Dies ist
der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden kann, dass sich
andere Ausländer von einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis in ihrem Verhalten
beeinflussen lassen. Behörden und Gerichte dürfen grundsätzlich davon ausgehen,
dass eine aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte Ausweisung zur
Verwirklichung dieses Zwecks geeignet ist. Dem steht nicht entgegen, dass Ausländer
nach wie vor im Bundesgebiet Straftaten begehen. Erforderlich ist, dass es Ausländer
gibt, die sich in einer mit dem Betroffenen vergleichbaren Situation befinden und durch
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dessen Ausweisung von gleichen oder ähnlichen Handlungen abhalten lassen.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 24. September 1996, a.a.O. und vom 31. August
2004 a.a.O.
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Dabei sind im Rahmen einer ebenfalls nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gebotenen Abwägung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Interesse alle
wesentlichen Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Das bedeutet, dass das
Gewicht der Straftat nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der
Tatbegehung zu bestimmen ist.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996, a.a.O.
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Damit verbleibt im Falle - wie hier - durchgreifender generalpräventiver Erwägungen
kein Raum für die Berücksichtigung einer Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung
und einer etwaigen zu Gunsten des Betroffenen angestellten Sozialprognose.
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Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 11. Juni 1996 a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom
26. März 2003 – 18 A 3589/02 – und vom 22. August 2005 – 18 B 1152/05 -.
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Bei Beachtung dieser Grundsätze erfordert der generalpräventive Ausweisungszweck
hier die Ausweisung des Antragstellers. Dieser hat nahezu zehn Jahre lang
Vermögensdelikte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts begangen. Dabei hat er
nach den Feststellungen des Strafgerichts bei der Tatausführung in erheblichem
Umfang kriminelle Energie aufgewandt, welche sich vor allem in der hoch
professionellen und straff organisierten Tatausführung widerspiegelte. Der verursachte
Schaden in Höhe von mindestens 982.642,13 EUR geht ausweislich des Strafurteils
weit über den als Schwellenwert für einen "Vermögensverlust größeren Ausmaßes" von
100.000 DM hinaus. Damit hat der Antragsteller wirtschaftlichen Eigeninteressen
rücksichtslos den Vorrang vor den Interessen der Geschädigten eingeräumt. Dass in
einem derartigen Fall ein dringendes öffentliches Bedürfnis daran besteht, über eine
etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von
Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten, steht außer Frage.
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Der Berücksichtigung des generalpräventiven Gesetzeszwecks steht vorliegend nicht
entgegen, dass die letzte abgeurteilte Straftat des Antragstellers inzwischen rund sechs
Jahre zurück liegt. Die Eignung einer Ausweisung zur Verwirklichung ihres
generalpräventiven Zwecks der Verhaltenssteuerung anderer Ausländer setzt nicht
voraus, dass sie in enger zeitlicher Nähe zu der Straftat steht. So ist es grundsätzlich
nicht einmal zu beanstanden, wenn die Behörde das Ausweisungsverfahren erst im
Hinblick auf das Bevorstehen oder nach der Entlassung des Ausländers aus der
Strafhaft einleitet. Auch in diesem Falle stellt die Ausweisung eine den gebotenen
Zusammenhang wahrende aufenthaltsrechtliche Reaktion auf das strafgerichtlich
abgeurteilte Delikt dar, von der – ebenso wie von einer, wie hier, schon während der
Dauer des Strafvollzugs ergehenden Maßnahme – eine generalpräventive Wirkung
erwartet werden kann.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. März 1987 – 1 B 4.87 – m.w.N., InfAuslR
1987, 145 f.; Senatsbeschluss vom 5. November 2003 – 18 B 1941/03 -.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
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ergeht gemäß §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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