Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 18.01.2005

OVG NRW: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, aufenthalt, nutzungsänderung, bad, wohnung, erlass, lagerung, zahnarztpraxis, lichtspieltheater

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 10 B 1565/04
18.01.2005
Oberverwaltungsgericht NRW
10. Senat
Beschluss
10 B 1565/04
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 L 1908/04
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 6. Juli 2004 wird
geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die
Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. April 2004 - 63/12-OV-I.
.54 - wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 7.200,00 Euro
festgesetzt.
Gründe:
Der Antrag,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung vom 27. April
2004 wiederherzustellen,
hat Erfolg. Die Ordnungsverfügung ist jedenfalls ermessensfehlerhaft und damit
rechtswidrig, so dass kein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung während
der Dauer eines Hauptsacheverfahrens besteht.
Nach § 61 Abs. 1 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörden u.a. bei der Nutzung und
der Nutzungsänderung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-
rechtlichen Vorschriften eingehalten werden; sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben
nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Insbesondere
können sie eine - ggf. sofort vollziehbare - Nutzungsuntersagung aussprechen, wenn eine
genehmigungspflichtige Nutzungsänderung vorliegt, ohne dass die erforderliche
Genehmigung erteilt ist, keine offensichtliche Genehmigungsfähigkeit bei gestelltem
Genehmigungsantrag anzunehmen ist und auch keine sonstigen Ermessensgründe gegen
den Erlass einer derartigen Ordnungsverfügung sprechen.
Vgl. m.w.N. Boeddinghaus / Hahn / Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-
Westfalen, § 61 Rn. 79a.
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Eine Nutzungsuntersagung kann das Gebot, eine unzulässige Nutzung einzustellen,
ebenso umfassen wie das Verbot, eine unzulässige und bereits eingestellte Nutzung
wieder aufzunehmen und ein Verbot, die betroffenen Räume zu dem vom Verbot umfassten
Zweck zu vermieten,
OVG NRW, Urteil vom 27. April 1998 - 7 A 3818/96 -, Beschluss vom 27. August 2002 - 10
B 1233/02 -, BauR 2003, 677.
Im vorliegenden Fall hat der Antragsgegner indes nicht geklärt, ob die tatbestandlichen
Voraussetzungen für den Erlass der angegriffenen Ordnungsverfügung -
genehmigungspflichtige Nutzungsänderung - überhaupt vorliegen; die Entscheidung,
dennoch eine Nutzungsuntersagung auszusprechen, ist deshalb ermessensfehlerhaft.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2004 - 10 B 2076/04 -.
Hiervon unabhängig spricht trotz des Umstands, dass weder ein Antrag auf Genehmigung
der freiberuflichen Nutzung der betroffenen Wohnungen gestellt noch erst recht eine
entsprechende Genehmigung erteilt worden ist, Einiges für die Annahme, dass die
Voraussetzungen für eine Nutzungsuntersagung nicht gegeben sind. Denn die vom
Antragsgegner im Jahre 2001 vorgefundene Nutzung der Räume stellt - legt man die
Rechtslage zum Zeitpunkt der Einrichtung der Arztpraxis zu Grunde - möglicherweise
gegenüber der ursprünglich genehmigten Nutzung keine genehmigungspflichtige
Nutzungsänderung dar, sondern bewegt sich innerhalb der Bandbreite der erteilten
Genehmigung vom 27. Oktober 1950 und war deshalb u.U. nicht formell illegal.
Demgegenüber geht der Antragsgegner in der Begründung zu der angegriffenen
Ordnungsverfügung zu Unrecht davon aus, dass eine nach § 63 Abs. 1 BauO NRW
genehmigungspflichtige Nutzungsänderung vorliegt. Diese Annahme ist durch nichts
belegt; der Antragsgegner hat sich mit den gegen sie sprechenden tatsächlichen und
rechtlichen Hinweisen der Antragstellerin in der Begründung zur Ordnungsverfügung
überhaupt nicht und im Verwaltungsverfahren im Übrigen jedenfalls nicht hinreichend
beschäftigt.
Das Gebäude I.-----straße 54 ist durch Bauerlaubnisschein vom 13. September 1905
genehmigt worden; aus den maßgeblichen Bauvorlagen ergibt sich, dass lediglich
Wohnräume geplant waren und genehmigt worden sind. Diesem Rechtszustand entspricht
auch die der damaligen Eigentümerin erteilte Baugenehmigung vom 7. Oktober 1950, die
die Grundlage für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Gebäudes bildete; nach der zu
Grunde liegenden Baubeschreibung vom 13. Januar 1950 und den im
Genehmigungsverfahren eingereichten Bauzeichnungen waren ebenfalls lediglich
Wohnräume vorgesehen, und zwar insgesamt neun Wohnungen. Spätestens seit dem
Jahre 1954 wurden jedoch die gesamte Wohnung im Erdgeschoss des Gebäudes sowie
die kleinere von zwei Wohnungen des ersten Obergeschosses als Arztpraxis genutzt. Die
von der Antragstellerin behauptete Nutzung als Praxis für Allgemeinmedizin seit 1952
erscheint bisher allein mit dem vorgelegten Auszug aus dem Düsseldorfer Adressbuch
nicht hinreichend belegt, da die dort vorliegende Angabe auch lediglich als Hinweis auf die
Privatwohnung eines anderswo praktizierenden Arztes verstanden werden könnte; diese
Frage bedürfte - sollte sie entscheidungserheblich sein - näherer Prüfung in einem
Hauptsacheverfahren. Die Aufnahme einer freiberuflichen Nutzung war indes
möglicherweise nicht genehmigungspflichtig, weil sie von der erteilten Baugenehmigung
gedeckt war.
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Maßgebliche Vorschrift ist nach dem zutreffenden rechtlichen Ansatz des
Verwaltungsgerichts § 1 Buchstabe A. d) der Bauordnung für den Regierungsbezirk
Düsseldorf vom 1. April 1939 in der Fassung der 4. Abänderung vom 13. März 1953,
wonach Veränderungen in der Benutzungsart baulicher Anlagen der Baugenehmigung
bedürfen, soweit für die Räume in ihrer neuen Zweckbestimmung besondere
baupolizeiliche Vorschriften bestehen. Dies ist jedoch vorliegend - soweit im Rahmen des
Eilverfahrens erkennbar - möglicherweise nicht der Fall. Besondere baupolizeiliche
Anforderungen sind nach der zitierten Vorschrift namentlich für die Einrichtung von
Räumen zum dauernden Aufenthalt von Menschen und für die Einrichtung gewerblicher
Betriebsstätten, für Garagen sowie für weitere große Räume und Gebäude zu beachten.
Insbesondere die Umwidmung von Räumen, die nicht zum dauernden Aufenthalt von
Menschen bestimmt sind, in Räume, die künftig diese Zweckbestimmung erfüllen, sollte
nach dieser Vorschrift präventiver Kontrolle unterliegen, daneben die Nutzung von
Baulichkeiten für große öffentliche Menschenmengen (Theater, Versammlungsräume,
Lichtspieltheater, Warenhäuser) oder für potenziell gefährliche Zwecke (Garagen,
Lagerung entzündlicher Stoffe). Darüber hinaus können sich zusätzliche Anforderungen an
eine veränderte Benutzungsart im Sinne des § 1 Buchstabe A. d) der Bauordnung für den
Regierungsbezirk Düsseldorf auch aus solchen Vorschriften ergeben, die nach heutigem
Rechtsverständnis dem Bauplanungsrecht zuzuordnen wären.
Vgl. OVG Hamburg, Urteil 20. August 1964 - Bf. II 45/64 -, BRS 15 Nr. 85.
Im vorliegenden Fall ist keine dieser Fallgruppen und Normzwecke erkennbar gegeben.
Insbesondere ist mit der Einrichtung einer Arztpraxis in den betroffenen Räumen keine
nicht bereits vorher gegebene Nutzung für den dauernden Aufenthalt von Menschen
aufgenommen worden. Aus den Bauvorlagen ergibt sich, dass in der
Erdgeschosswohnung vier Wohnräume, Küche, Bad und Diele und in der Wohnung im
ersten Obergeschoss ein Wohnraum mit Küche, Bad und Diele genehmigt worden sind.
Nach § 26 Abs. 1 Buchst. a) sind nicht nur Wohnräume, sondern auch Küchen, Arbeits- und
Geschäftsräume, Büros, Werkstätten und Versammlungsräume als Räume zum dauernden
Aufenthalt von Menschen einzustufen. Deshalb führte die Umwidmung der bisherigen
Wohnräume in freiberuflich genutzte Praxisräume nicht zu erhöhten baupolizeilichen
Anforderungen unter dem Gesichtspunkt der besonders strengen Anforderungen an
Räume, die dem dauernden Aufenthalt von Menschen dienen. Nichts anderes dürfte für die
als Badezimmer und Dielen genehmigten Räumlichkeiten gelten, die nicht den
Anforderungen an Räume zum dauernden Aufenthalt entsprechen mussten. Ohne nähere
Aufklärung des Sachverhalts ist davon auszugehen, dass diese Räume im Rahmen des
Praxisbetriebs in derselben Weise wie zuvor genutzt wurden, so dass keine erhöhten
baupolizeilichen Anforderungen entstanden sind. Ob die zu den beiden Wohnungen
gehörenden Kellerräume - die ebenfalls nicht zum dauernden Aufenthalt von Menschen
genehmigt waren - schon 1954 als Laborräume eingerichtet und genutzt wurden, ist im
Verfahren bisher nicht aufgeklärt, so dass offen bleiben kann, ob sich daraus
gegebenenfalls rechtlich relevante Folgerungen ableiten lassen. Andere Vorschriften -
etwa gesundheits- oder seuchenpolizeilicher Art -, die besondere Anforderungen an die
ehemaligen Wohnräume hätten stellen können, sind nicht ersichtlich und vom
Antragsgegner auch nicht geltend gemacht; insbesondere die strengen Vorschriften über
Anlage, Bau und Einrichtung von Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten sowie von
Entbindungsanstalten und Säuglingsheimen gelten nicht für die Einrichtung freiberuflicher
Arztpraxen.
Vgl. Baltz-Fischer, preußisches Baupolizeirecht, unveränderter Nachdruck 1954, Nr. 39 (S.
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485ff.); vgl. auch von Rönne, Bau-Polizei des Preußischen Staates, 3. Aufl. (1872), 2. Teil,
1. Abteilung, 1. Kapitel, 1. Titel, 3. Unterabteilung V. (baupolizeiliche Vorschriften in
sanitätspolizeilicher Beziehung), S. 779-787.
Danach bewegte sich die Einrichtung einer freiberuflichen Nutzung der vorliegenden Art in
den als Wohnungen genehmigten Räumen vor dem In-Kraft- Treten der BauO NRW wohl
noch innerhalb der Bandbreite einer zu Wohnzwecken erteilten Baugenehmigung, so dass
mit dem In-Kraft-Treten der BauO NRW eine formell legale Nutzung bestanden haben mag;
da diese - soweit der Antragsgegner den Sachverhalt ermittelt hat - auch später nicht in
relevanter Weise geändert worden ist, liegt eine genehmigungsbedürftige
Nutzungsänderung nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht vor. Allerdings wird
gegebenenfalls zu prüfen sein, in welcher bauplanungsrechtlichen Situation die
Nutzungsänderung im Jahre 1954 oder 1952 vorgenommen worden ist und ob auf Grund
dessen eine Genehmigungsbedürftigkeit entgegen der - auf den Sachverhaltsermittlungen
durch den Antragsgegner zur Begründung seiner Ermessensentscheidung beruhenden -
Annahme des Senats vorgelegen hat. Der Umstand, dass die seinerzeitige Eigentümerin
unter dem 27. Oktober 1956 eine Bescheinigung gemäß § 10 des 1. WoBauG erhalten hat,
aus der sich ergibt, dass es sich um ein Wohngebäude - nicht um ein gemischt genutztes
Gebäude - handelte, spricht nicht gegen die vorstehenden Annahmen. Zwar werden beide
betroffenen Wohnungen ausdrücklich als für Wohnzwecke genutzt erfasst. Aus dieser für
grundsteuerliche Zwecke beantragten und erstellten Bescheinigung lässt sich jedoch nicht
mit hinreichender Sicherheit ableiten, dass die im Verfahren vorgelegten eidesstattlichen
Versicherungen über die Nutzung der Wohnungen als Arztpraxis falsch sind; ebenso
denkbar ist es, dass die Bescheinigung auf teilweise falschen Angaben der damaligen
Eigentümerin beruht. Im Übrigen erfasst die Wohnnutzung nach dem Text der
Bescheinigung eine gleichzeitige gewerbliche oder berufliche "Mitnutzung" der Räume; die
rechtliche Bewertung des Falles würde sich selbst dann nicht ändern, wenn tatsächlich am
27. Oktober 1956 noch keine freiberufliche Nutzung stattgefunden hätte, weil die
Bescheinigung die Zeit ab 1957 nicht abdeckt und deshalb nicht den Schluss zulässt, dass
die Nutzung der Räumlichkeiten als Zahnarztpraxis erst unter der Geltung der BauO NRW -
ab 1962 - erfolgt sei.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung folgt aus
§§ 72 Nr. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.