Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.09.1996

OVG NRW: besondere härte, treu und glauben, persönliche freiheit, aussiedler, schlüssiges verhalten, medikamentöse behandlung, kasachstan, ausreise, lebensgefahr, zustand

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 190/94
20.09.1996
Oberverwaltungsgericht NRW
2. Senat
Urteil
2 A 190/94
Verwaltungsgericht Köln, 17 K 5496/92
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zu je einem
Viertel. Die außergerichtichen Kosten des Beigeladenen sind nicht
erstattungsfähig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Der Kläger zu 1) wurde am 4. April 1956 in E. im Kreis Karaganda in Kasachstan geboren.
Seine Eltern sind die am 30. Oktober 1918 in dem Dorf T. im Gebiet Kujbischew geborene
und am 23. Mai 1991 verstorbene deutsche Volkszugehörige F. N. , geb. Q. , und der im
Jahre 1913 geborene und am 30. November 1960 verstorbene russische Volkszugehörige
Q. N. . Die Klägerin zu 2) ist ukrainische Volkszugehörige und seit dem 18. August 1979 mit
dem Kläger zu 1) verheiratet. Die Kläger zu 3) und 4) sind die am 28. Juli 1979 bzw. 29.
März 1984 geborenen Söhne der Kläger zu 1) und 2).
Am 28. Januar 1991 stellte die in der Bundesrepublik Deutschland lebende Schwester des
Klägers zu 1), Frau O. J. , für die Kläger einen Antrag auf Aufnahme als Aussiedler in der
Bundesrepublik Deutschland. Die Kläger bevollmächtigten Frau J. am 30. Oktober 1990 auf
einem von der Beklagten dafür vorgesehenen Formular, "einen Antrag auf Aufnahme als
Aussiedler zu stellen". In dem von Frau J. unterschriebenen Antragsformular gab der
Kläger zu 1) als Volkszugehörigkeit "Deutsch von der Mutter", als seine Muttersprache
"Deutsch", als seine jetzige Umgangssprache in der Familie "Russisch-Deutsch" und als
Religion "Lutheraner" an. Zur Frage der Beherrschung der deutschen Sprache erklärte er,
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die deutsche Sprache zu verstehen, zu sprechen und zu schreiben. In der Familie werde
von den Eltern/Elternteil deutsch gesprochen. Die Frage nach der Pflege des deutschen
Volkstums beantwortete der Kläger zu 1) mit "Ja" und erklärte, alle deutschen Feiertage zu
feiern. In der dem Antrag beigefügten Geburtsurkunde des Klägers zu 1) ist als Nationalität
seiner Mutter "Deutsche" eingetragen. In den ebenfalls beigefügten Geburtsurkunden der
Kläger zu 3) und 4) ist ebenso wie im Inlandspaß des Klägers zu 1) als seine Nationalität
jeweils "Russe" eingetragen.
Auf Nachfrage des Bundesverwaltungsamtes bei den Klägern wurde angegeben, daß es in
Rußland Brauch gewesen sei, den Kindern die Nationalität des Vaters in den Inlandspaß
zu schreiben. Auf weitere Nachfrage des Bundesverwaltungsamtes wurde als
Volkszugehörigkeit des Klägers zu 1) "russisch" angegeben.
Mit der Bevollmächtigten der Kläger am 23. Oktober 1991 zugestelltem Bescheid vom 1.
Oktober 1991 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Aufnahmeantrag der Kläger im
wesentlichen mit der Begründung ab: Der Kläger zu 1) habe sich nicht ausdrücklich zum
deutschen Volkstum, vielmehr ausweislich der vorgelegten Urkunden zum russischen
Volkstum bekannt. Aufgrund der Antragsangaben könne auch nicht auf ein durch
schlüssiges Verhalten zum Ausdruck gebrachtes Bekenntnis zum deutschen Volkstum
geschlossen werden.
Gegen diesen Bescheid legte die Bevollmächtigte der Kläger am 10. März 1992 einen
handschriftlich verfaßten, jedoch nicht unterschriebenen Widerspruch ein.
Am 13. März 1992 reisten die Kläger mit einem Besuchsvisum in die Bundesrepublik
Deutschland ein und stellten einen Asylantrag.
Mit am 19. August 1992 zugestelltem Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1992 wies das
Bundesverwaltungsamt den Widerspruch der Kläger als unzulässig zurück, da er verspätet
eingelegt worden sei.
Am 14. September 1992 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben und zu deren
Begründung im wesentlichen vorgetragen: Der Kläger zu 1) stamme mütterlicherseits von
einer deutschen Volkszugehörigen ab. Seine Mutter, die mit ihm bis zu ihrem Tode
zusammen in einer Wohnung gelebt habe, habe ihn auch im deutschen Volkstum geprägt.
Sie hätten zu Hause nur deutsch gesprochen. Er sei evangelisch getauft worden und habe
aktiv am Leben der evangelischen Gemeinde teilgenommen. Sie hätten die christlichen
Feste an den westlichen Daten und nicht wie die Orthodoxen gefeiert. Seine Mutter habe
ihm deutsche Sitten und Bräuche überliefert. Er habe in seiner Kindheit zunächst
ausschließlich mit rußlanddeutschen Kindern aus seinem deutschen Verwandten- und
Bekanntenkreis gespielt. Sein russischer Vater habe die Familie nicht geprägt, da seine
Mutter nur vier Jahre mit ihm in zweiter Ehe verheiratet gewesen und er gestorben sei, als
der Kläger zu 1) erst vier Jahre alt gewesen sei. Die Verwandten seines Vaters habe er
nicht gekannt. Da seine Schwestern inzwischen in die Bundesrepublik Deutschland
ausgesiedelt seien, habe er ebenfalls nach Deutschland ausreisen wollen. Weil die
Situation für deutsche Volkszugehörige in Kasachstan immer schwieriger geworden und
die Klägerin zu 2) an mit allergischen Symptomen verbundenem Asthma erkrankt sei,
hätten sie die Erteilung eines Aufnahmebescheides nicht abwarten können. Obwohl
ursprünglich nicht vorgehabt, hätten sie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik
Deutschland auf Anraten des Bundesverwaltungsamtes einen Asylantrag gestellt, um ein
Bleiberecht zu bekommen. Bei einer Rückkehr nach Kasachstan sei wegen der dortigen
klimatischen Verhältnisse zu erwarten, daß sich die Krankheit der Klägerin zu 2), die in der
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Bundesrepublik Deutschland ohne Einnahme von Medikamenten beschwerdefrei leben
könne, erneut verschlechtere.
Die Kläger haben (sinngemäß) beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamtes vom 1.
Oktober 1991 und dessen Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1992 zu verpflichten, ihnen
einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen,
und vorgetragen, die Klage sei bereits unzulässig, da der Widerspruch verspätet eingelegt
worden sei. Im übrigen erfüllten die Kläger nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung
als Härtefall.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch den angefochtenen Gerichtsbescheid, auf
dessen Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, abgewiesen.
Gegen diesen ihnen am 22. Dezember 1993 zugestellten Gerichtsbescheid haben die
Kläger am 6. Januar 1994 Berufung eingelegt und zu deren Begründung im wesentlichen
vorgetragen: Es handele sich um einen Härtefall, weil die Klägerin zu 2) seit etwa 1988 an
einer lebensbedrohenden Erkrankung leide, die ihre Ursache in den Wohn- und
klimatischen Verhältnissen im Herkunftsgebiet habe. Es sei den Klägern nicht zumutbar
gewesen, das weitere Aufnahmeverfahren im Herkunftsgebiet abzuwarten. Die Ärzte hätten
ein allergisch bedingtes Bronchialasthma, eine Bronchitis und eine ebenfalls allergisch
bedingte Hautkrankheit diagnostiziert. Die medikamentöse Behandlung habe im Jahre
1990 zu einem toxikosen allergischen Schock geführt, durch den zahlreiche Organe in
Mitleidenschaft gezogen worden seien. Die Klägerin zu 2) sei ein Jahr lang isoliert
gewesen und habe auch im Haus einen Atemschutz tragen müssen. Nach vermehrten
Anfällen habe sie wegen akuter Lebensgefahr mehrmals mit dem Rettungswagen ins
Krankenhaus gebracht werden müssen. Die Krankheit habe auch von Spezialisten in
Moskau nicht erfolgreich behandelt werden können. Angesichts der unveränderbaren
Verhältnisse am Wohnort habe auch mit einer grundlegenden Besserung der
Krankheitssymptome nicht gerechnet werden können. Der Kläger zu 1) sei in die deutsche
Bekenntnislage seiner Mutter hineingewachsen. Er habe sich mit seiner Mutter, seinen
Geschwistern und seinen Freunden jedenfalls bis zum Abschluß des Prägungszeitraums
überwiegend in der deutschen Sprache unterhalten. Er könne, wenn auch nicht fehlerfrei,
deutsch lesen und schreiben. Dem Kläger zu 1) sei von seiner Mutter auch deutsche Kultur
überliefert worden. Damit sei er zum deutschen Volkstum erzogen worden. Der
nichtdeutsche Nationalitätseintrag im Inlandspaß des Klägers zu 1) sei unschädlich und
könne kein Indiz gegen eine deutsche Bekenntnislage darstellen. Er habe sich bereits weit
vor jeder Ausreisebemühung im Jahre 1973 durch die Stellung eines Ausreiseantrages
durch seine Mutter klar zum deutschen Volkstum bekannt. Zwar tauche der Name des
Klägers zu 1) in den Unterlagen nicht ausdrücklich auf. Er sei jedoch als im Haushalt seiner
Mutter lebender Abkömmling über sechzehn Jahren neben seinen beiden Schwestern dort
als Ausreisewilliger aufgeführt.
Die Kläger haben bezüglich der Erkrankung der Klägerin zu 2) beglaubigte Übersetzungen
einer Bescheinigung der Klinik T. vom 1. April 1994, eines Auszuges aus der Krankenkarte
des Immunologischen Instituts des Gesundheitsministeriums der UdSSR und eines
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Auszuges aus der Krankengeschichte der Klinik T. vorgelegt. Wegen ihres Inhalts wird auf
Blatt 134 bis 138 der Gerichtsakte verwiesen. Außerdem haben die Kläger die Ablichtung
eines Ärztlichen Berichts des Prof. Dr. T. vom 4. Januar 1995 zu den Gerichtsakten
gereicht. Wegen des Inhaltes dieses Berichts wird auf Blatt 149 bis 152 der Gerichtsakte
Bezug genommen.
Die Kläger beantragen,
den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Berufung bereits wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist für unbegründet
und meint im übrigen, daß eine seit 1976 bestehende chronische Erkrankung , die um die
Jahreswende 1990/91 in einer längeren stationären Behandlung mit befriedigenden
Ergebnissen gegipfelt habe, nicht die Begründung für einen Härtefall einer 14 Monate
später stattfindenden Ausreise sein könne. Im übrigen handele es sich bei dem Kläger zu
1) nicht um einen deutschen Volkszugehörigen. Daß ihm bestätigende Merkmale jedenfalls
nicht in volkstumsprägender Weise vermittelt worden seien, zeige schon die Tatsache, daß
er sich bei der Erstausstellung seines Inlandspasses für die russische Nationalität seines
Vaters entschieden und diese bis zur Ausreise auch nicht geändert habe.
Der Kläger zu 1) ist in der mündlichen Verhandlung zu seinem Begehren gehört worden.
Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf den Inhalt der Niederschrift der mündlichen
Verhandlung vom 20. September 1996 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verfahrensakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Der Senat hat zum Zwecke der Entscheidung die nachfolgenden Erkenntnisquellen
ausgewertet.
Erkenntnisliste
1. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an OVG NW v. 13.9.1995 (513-542.40 GUS
2. Hilkes, Stellungnahme an OVG NW v. 17.9.1995
3. Weydt, Stellungnahme an OVG NW v. 23.9.1995
4. Heimatauskunftsstelle für die Sowjetunion, Auskunft an OVG NW v. 26.9.1995 (LA 3775-
51/1)
5. Eisfeld, Stellungnahme an OVG NW v. 24.11.1995
6. Brunner, Stellungnahme an VGH Baden-Württemberg v. 18.10.1995
7. Pinkus/Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, Baden-Baden 1987
8. Dietz, Zwischen Anpassung und Autonomie, Berlin 1995
9. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an BMI v. 21.9.1995 (513- 542.40 GUS)
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10.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Kläger ist nicht begründet. Zwar ist die Klage zulässig (A). Die
Kläger haben jedoch keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Aufnahmebescheides
(B).
A. Die Klage ist zulässig.
Der Ablehnungsbescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 1. Oktober 1991 ist nicht
bestandskräftig geworden.
Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nach
Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Diese Rechtsbehelfsfrist beginnt gemäß
§§ 58 Abs. 1, 70 Abs. 2 VwGO nur zu laufen, wenn der Beteiligte darüber schriftlich belehrt
worden ist. Mit der Zustellung des Ablehnungsbescheides an Frau J. am 23. Oktober 1991
ist keine Widerspruchsfrist in Gang gesetzt worden, wobei offenbleiben kann, ob die
Rechtsbehelfsbelehrung den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Denn Frau J.
besaß keine Vertretungsvollmacht der Kläger für die Empfangnahme des
Ablehnungsbescheides, so daß an sie nicht gemäß § 8 Abs. 1 und 2 VwZG zugestellt
werden konnte oder auch nur durfte. Die vom Kläger zu 1) erteilte schriftliche Vollmacht "für
den Antrag auf Aufnahme als Aussiedler" bezog sich allein auf die Stellung des Antrages,
nicht auch auf die Empfangnahme der Entscheidungen im Antrags- bzw.
Widerspruchsverfahren. Dieser auf die bloße Antragstellung begrenzte Umfang der
Vollmacht ergibt sich bereits aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut der
Vollmachtsurkunde.
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NW), Urteil vom 20.
Juni 1994 - 22 A 2567/93 -.
Indem darin ausdrücklich und ausschließlich davon die Rede ist, daß es sich um eine
Vollmacht zur Stellung eines Aufnahmeantrages handelt, kann schon vom Wortlaut her
darunter keine Vollmacht zur Durchführung eines vollständigen Verwaltungsverfahrens
einschließlich der Bevollmächtigung zum Empfang entsprechender Bescheide verstanden
werden. Dieser Wortlaut der - von der Beklagten entworfenen - Vollmachtsurkunde ist
eindeutig und daher einer Auslegung nicht mehr zugänglich. Er konnte und durfte von der
Beklagten als Erklärungsempfängerin auch nicht darüber hinaus, etwa als Vollmacht für
das gesamte Verwaltungsverfahren einschließlich des Widerspruchsverfahrens,
angesehen werden. In seinem "Merkblatt zur Ausfüllung des Antrages auf Aufnahme als
Aussiedler" weist das Bundesverwaltungsamt die Antragsteller u.a. darauf hin, der Antrag
könne auch über "die jeweilige Gemeinde oder einen Bevollmächtigten in der
Bundesrepublik Deutschland oder - soweit aus postalischen oder anderen Gründen
notwendig - über die Auslandsvertretung eingereicht werden". Unter Anlegung objektiver
Maßstäbe wird damit der beschränkte Umfang der in dem Antrag vorgesehenen "Vollmacht
für den Antrag auf Aufnahme als Aussiedler" nochmals klargestellt. Denn dort wird die
Möglichkeit der Antragstellung durch einen Bevollmächtigten in unmittelbarem
Zusammenhang mit derjenigen genannt, bestimmte Behörden bei der Stellung des
Antrages zu bemühen, für die umfassende Verfahrensvollmachten offensichtlich nicht in
Frage kommen.
Daß die Kläger Frau J. über die mit dem Aufnahmeantrag eingereichte Vollmacht hinaus in
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anderer Weise auch zur Empfangnahme des Ablehnungsbescheides bevollmächtigt
hätten, ist von der Beklagten nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich. Auch die
Ausführungen der Kläger in ihrer Klageschrift vom 12. September 1992 lassen eine
Zustellungsvollmacht der Frau J. für den Ablehnungsbescheid nicht hinreichend deutlich
erkennen, da dort insoweit nur von der "Bevollmächtigten" die Rede ist, ohne daß der
Umfang der Bevollmächtigung etwa über die Formularvollmacht hinaus erweitert wurde.
Auch unter Berücksichtigung der im öffentlichen Recht ebenfalls geltenden Grundsätze des
bürgerlichen Rechts über das Vorliegen einer Anscheins- oder Duldungsvollmacht ist die
Zustellung des Ablehnungsbescheides an Frau J. keine gemäß § 8 Abs. 1 und 2 VwZG
ordnungsgemäße Zustellung. Nach diesen Grundsätzen liegt eine Anscheinsvollmacht vor,
wenn der Vertretene das Handeln seines angeblichen Vertreters nicht kennt, es aber bei
pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und verhindern müssen, und wenn die Behörde
nach Treu und Glauben annehmen durfte, der Vertretene dulde und billige das Handeln
des Vertreters. Eine Duldungsvollmacht ist gegeben, wenn der Vertretene es wissentlich
zuläßt, daß ein anderer für ihn wie ein Vertreter auftritt, ohne daß er tatsächlich eine
Vollmacht erhalten hat, und die Behörde dieses Dulden nach Treu und Glauben dahin
verstehen darf, daß der als Vertreter Handelnde bevollmächtigt ist.
Vgl. Palandt, BGB, 52. Auflage, § 173 Rdn. 9 ff; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Auflage, §
14 Rdn. 13b; Kopp, VwVfG, 5. Auflage, § 14 Rdn 9.
Anhaltspunkte dafür, daß die Kläger die Zustellung des Ablehnungsbescheides an Frau J.
kannten oder hätten kennen müsse und trotz fehlender Zustellungsvollmacht gleichwohl
duldeten, sind hier von der Beklagten nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich.
Nach dem Inhalt der Verwaltungsvorgänge hat Frau J. (bis zur Klageerhebung) über die
bloße Antragstellung hinaus keine weitergehenden Verfahrenshandlungen vorgenommen,
die beim Bundesverwaltungsamt nach Treu und Glauben die Annahme rechtfertigen
konnten, daß die Kläger über die Antragstellung hinausgehende Verfahrenshandlungen
der Frau J. kannten und stillschweigend duldeten.
Der danach vorliegende Mangel der Zustellung des Ablehnungsbescheides ist allerdings
gemäß § 9 Abs. 1 VwZG geheilt worden. Danach gilt ein fehlerhaft zugestelltes Schriftstück
als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten
hat. Nachweislich erhalten haben die Kläger den Ablehnungsbescheid am 12. September
1992. Dies ergibt sich daraus, daß sie unter diesem Datum die Klageschrift verfaßt haben.
Aber selbst wenn man davon ausgeht, daß die Kläger bereits zum Zeitpunkt ihrer Einreise
am 13. März 1992 Kenntnis von dem Ablehnungsbescheid erlangt haben, ist der
Widerspruch rechtzeitig eingelegt worden. Denn das am 10. März 1992 beim
Bundesverwaltungsamt eingegangene und wegen der handschriftlichen Abfassung auch
ohne Unterschrift als Widerspruch anzusehende Schreiben der Frau J. ging beim
Bundesverwaltungsamt vor Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist seit der
nachweislichen Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides an die Kläger ein. Daß Frau J.
zu diesem Zeitpunkt noch keine ausreichende Vollmacht für die Einlegung des
Widerspruchs vorgelegt hatte, ist rechtlich unerheblich, da die Einlegung des Widerspruchs
jedenfalls durch die Erhebung der Klage als von diesen nachträglich als genehmigt
anzusehen ist.
Die Klage ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Soweit § 68 VwGO die
Durchführung eines Vorverfahrens voraussetzt, ist dieses, wie oben dargelegt, jedenfalls
fristgerecht eingeleitet worden und kann offenbleiben, ob es abgeschlossen worden ist.
Dies erscheint zweifelhaft, weil Frau J. keine Vertretungsvollmacht der Kläger für die
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Empfangnahme des Widerspruchsbescheides besaß, so daß an sie nicht gemäß § 8 Abs.
1 und 2 VwZG in Verbindung mit § 56 Abs. 2 VwGO zugestellt werden durfte. Die von den
Klägern Frau J. erteilte schriftliche Vollmacht "für den Antrag auf Aufnahme als Aussiedler"
bezog sich, wie oben dargelegt, allein auf die Stellung des Antrages, nicht auch auf die
Empfangnahme der Entscheidungen im Antrags- bzw. Widerspruchsverfahren. Daß die
Kläger Frau J. über die Vollmacht vom 30. Oktober 1990 hinaus auch zur Empfangnahme
des Widerspruchsbescheides bevollmächtigt oder ihr Auftreten als ihr Vertreter in ihnen
zurechenbarer Weise geduldet haben, ist von der Beklagten nicht vorgetragen worden und
auch nicht ersichtlich. Ob der danach fehlerhaft zugestellte Widerspruchsbescheid den
Klägern bekannt gegeben und damit (möglicherweise) wirksam geworden ist, bedarf hier
keiner Klärung. Denn selbst wenn der Widerspruchsbescheid nicht bekannt gegeben
worden wäre, stünde dies der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Die Klage wäre dann
nämlich als Untätigkeitsklage gemäß § 75 Satz 1 VwGO zulässig. Die Beklagte hätte dann
über den Widerspruch der Kläger ohne zureichenden Grund im Sinne des § 75 Satz 1
VwGO noch nicht entschieden, da Anhaltspunkte dafür, daß das Bundesverwaltungsamt
bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 14. September 1992 aus zureichenden Gründen
gehindert war, den Widerspruch der Kläger ordnungsgemäß zu bescheiden, von der
Beklagten nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich sind.
B. Die Kläger haben jedoch keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten
Aufnahmebescheides.
Rechtsgrundlage für den von den Klägern geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines
Aufnahmebescheides sind die §§ 26, 27 des Gesetzes über die Angelegenheiten der
Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der Fassung der
Bekanntmachung vom 2. Juni 1993 BGBl. I 829, geändert durch das Gesetz zur sozialen
Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz- PflegeVG)
vom 26. Mai 1994, BGBl. I 1014, mit der Maßgabe, daß sich das Vorliegen der sonstigen
Voraussetzungen gemäß § 100 Abs. 1 BVFG nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG in der vor dem 1.
Januar 1993 geltenden Fassung (im folgenden a.F.) richtet. Da die Kläger nach dem 1. Juli
1990, jedoch vor dem 1. Januar 1993 das Vertreibungsgebiet verlassen haben, ohne dort
die Erteilung eines Aufnahmebescheides abzuwarten, wird der Aufnahmebescheid bei
Vorliegen einer besonderen Härte nach § 27 Abs. 2 BVFG nachträglich, und zwar bezogen
auf den Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets, erteilt. Das bedeutet, daß sich
nicht nur die Frage, ob eine besondere Härte vorliegt, nach diesem Zeitpunkt richtet,
sondern dieser auch dafür maßgebend ist, nach welchen Vorschriften sich die Prüfung der
"sonstigen Voraussetzungen" für die Erteilung des Aufnahmebescheids zu richten hat.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, NVwZ-
RR 1995, 166.
Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG
steht den Klägern nicht zu, da diese Vorschrift voraussetzt, daß der Antragsteller im
Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides seinen Wohnsitz noch in den
Aussiedlungsgebieten hat. Die Kläger sind jedoch schon am 13. März 1992 in die
Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt.
Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides gemäß
§ 27 Abs. 2 1. Alternative BVFG. Nach dieser Vorschrift kann Personen, die sich ohne
Aufnahmebescheid im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten, ein Aufnahmebescheid
erteilt werden, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würde und die
sonstigen Voraussetzungen vorliegen.
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Der Senat hat nicht feststellen können, daß hier die Versagung des begehrten
Aufnahmebescheides eine besondere Härte darstellen würde.
Das Merkmal der besonderen Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG stellt ein gerichtlich
voll überprüfbares Tatbestandsmerkmal dar. Bei Bejahung dieses Merkmals ist jedenfalls
in der Regel für eine Ausübung des danebenstehenden Ermessens in einem negativen
Sinn kein Raum mehr. Wann in rechtlicher Hinsicht von einer besonderen Härte
gesprochen werden kann, erschließt sich einmal aus dem Grund, der allgemein für die
Einführung einer Härteregelung in ein Gesetz maßgebend ist, und zum anderen aus dem
Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes, dessen Bestandteil die Härteregelung ist. Der
Gesetzgeber führt regelmäßig eine Härtevorschrift ein, um von den Regelvorschriften nicht
erfaßten Ausnahmefällen und Grenzsituationen Rechnung tragen zu können, weil er mit
den Regelvorschriften zwar dem typischen Sachverhalt gerecht werden kann, der dem
Gesetz zugrundeliegt, nicht aber dem atypischen. Da die atypischen Fälle nicht stets mit
abstrakten Merkmalen der Gesetzessprache erfaßt werden können, muß der Gesetzgeber
neben den Regeltatbestand einen Ausnahmetatbestand setzen, der zwar in den einzelnen
Merkmalen unbestimmt ist, jedoch bei einer sachgerechten Anwendung zu einem Ergebnis
führt, das dem Regelergebnis in seiner grundsätzlichen Zielsetzung gleichwertig ist.
Besondere Härtefälle sind demgemäß dadurch gekennzeichnet, daß auf sie das Gesetz
wohl nach seinem Tatbestand, nicht jedoch auch nach seinem normativen Gehalt paßt,
wenn also, mit anderen Worten, die Anwendung der gesetzlichen Vorschrift im Einzelfall zu
einem Ergebnis führt, das dem Gesetzeszweck nicht mehr entspricht und deshalb vom
Gesetz so nicht beabsichtigt ist.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, NVwZ-RR, 1995, 166.
Ausgangspunkt für die Auslegung des Begriffs der besonderen Härte im Rahmen des § 27
Abs. 2 BVFG ist der Sinn und Zweck des Aussiedleraufnahmeverfahrens. Dieses dient mit
dem Erfordernis eines Aufnahmebescheides vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebietes
dem Zweck, den Zustrom von Aufnahmebewerbern aus den Ostvertreibungsgebieten, der
durch die dort eingetretenen, mit einer größeren Ausreisefreiheit verbundenen politischen
Veränderungen entstanden ist, durch eine vorläufige Überprüfung der
Aussiedlereigenschaft sowohl im Hinblick auf die mit einer Aufnahme verbundenen
innerstaatlichen Belastungen als auch zum Zweck der Vermeidung unberechtigter, aus
Rechtsgründen nicht zu erfüllender Erwartungen in den Aussiedlungsgebieten in
geordnete Bahnen zu lenken.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, aaO, unter Bezugnahme auf
Bundestagsdrucksache 11/6937, S. 5 u. 6.
Damit soll zugleich eine verbesserte Akzeptanz der Aussiedler und des
Aussiedlungsvorgangs bewirkt werden. Die Aufnahme der Aussiedler soll in diesem Sinne
verbessert, nicht aber über Gebühr verzögert werden.
Vgl. Empfehlungen des Innenausschusses, Bundestagsdrucksache 11/7280, S. 8.
Nachdem sich die politischen Verhältnisse in den Aussiedlungsgebieten verändert haben,
ist es nach Ansicht des Gesetzgebers einem Betroffenen regelmäßig zuzumuten, bis zum
Abschluß des Aufnahmeverfahrens in den Aussiedlungsgebieten zu bleiben. Es kann
jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß Fälle auftreten, in denen dieses
Regelerfordernis zu unbilligen Ergebnissen führen müßte. Eine solche Härte kann sich
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sowohl aus der individuellen Situation des Einzelnen als auch aus einer dramatischen
Veränderung der kollektiven Lage der Deutschen in den einzelnen Regionen der
Aussiedlungsgebiete ergeben. Es darf sich aber nie um eine Situation handeln, die der
Antragsteller oder andere Personen durch ein ihnen zurechenbares Verhalten mit der
Absicht herbeigeführt haben, das Regelerfordernis des § 27 Abs. 1 BVFG zu umgehen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, aaO. unter Bezugnahme auf Entwurf
eines Gesetzes zur Regelung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler,
Bundestagsdrucksache 11/6937, S. 5 u. 6.
Das Gesetz trägt insoweit auch der Tatsache Rechnung, daß einem Aufnahmebewerber,
der noch nicht im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in der Bundesrepublik
Deutschland Aufnahme gefunden hat, ein Bleiberecht nicht zusteht und es ihm vom Gesetz
in der Regel zugemutet wird, seine Rechte auf Anerkennung als Vertriebener vom Ausland
her wahrzunehmen. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Ausreisepflicht dem Betroffenen die
Möglichkeit nehmen würde oder unzumutbar erschwerte, sein
Vertriebenenanerkennungsverfahren wirkungsvoll weiterzubetreiben und bei einer ihm
günstigen Entscheidung endgültig wieder in das Bundesgebiet einzureisen.
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluß vom 9. August 1990 - 2 BvR 1782/88 -,
Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1990, 297 f.; BVerwG, Beschluß vom 11. Juli
1994 - 9 B 288.94 -, DVBl. 1995, 568.
Denn die Verpflichtung, die Durchsetzung der Rechtsstellung vom Ausland her zu
betreiben, darf nicht dazu führen, daß der Vertriebene sein in Art. 116 Abs. 1 GG verbürgtes
Recht nicht wahrnehmen kann.
Vgl. dazu von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, Kommentar, München,
Mannheim, Bonn, Hannover, Stand August 1996 § 27 BVFG n.F., Anm. 6 (S. 8).
Davon ausgehend liegt eine besondere Härte unter anderem in den Fällen vor, in denen
dem Aufnahmebewerber im Aussiedlungsgebiet bei objektiver Würdigung aller Umstände
mit hoher Wahrscheinlichkeit Gefahren drohen, die den Schluß rechtfertigen, daß er bei
einem Verbleiben im Aussiedlungsgebiet nicht mehr in die Bundesrepublik Deutschland
kommen und somit den Status als Spätaussiedler - wie auch den Status als Deutscher
nach Art. 116 Abs. 1 GG - nicht (mehr) erwerben kann. Derartige Gefahren bestehen dann,
wenn das Leben, die Gesundheit oder die persönliche Freiheit des Aufnahmebewerbers so
bedroht sind, daß mit einem jederzeitigen Schadenseintritt zu rechnen ist. Das ist dann
anzunehmen, wenn eine konkrete Lebensgefahr, sehr erhebliche gesundheitliche
Gefahren, die einer konkreten Lebensgefährdung nahekommen, oder eine unmittelbare,
Bedrohung der persönlichen Freiheit des Aufnahmebewerbers, die sich jederzeit
verwirklichen kann und nicht ganz unerheblich sein darf, besteht. Reine
Vermögensgefährdungen oder -schäden erfüllen den Härtetatbestand nicht; dies gilt
jedenfalls dann, wenn damit eine das Leben gefährdende Entziehung der
Existenzgrundlage nicht verbunden ist.
Daß an das Vorliegen eines Härtefalls hohe Anforderungen zu stellen sind und demgemäß
nur schwerwiegende unmittelbar drohende Gefahren einen Härtefall im Sinne des § 27
Abs. 2 BVFG begründen, wird bestätigt durch die Regelung des § 27 Abs. 4 Nr. 1 BVFG.
Danach ist in den Fällen, in denen das Bundesverwaltungsamt einen Aufnahmebescheid
mit einem hinausgeschobenen Einreisezeitpunkt erteilt, bei der Festlegung des
Einreisezeitpunkts u.a. zu berücksichtigen, ob der Antragsteller in einem Gebiet lebt, in
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dem er besonderen Gefährdungen für Leib, Leben oder persönliche Freiheit ausgesetzt ist.
Diese Regelung läßt erkennen, daß diese Gefahren noch nicht den Grad der besonderen
Härte i.S.d. des § 27 Abs. 2 BVFG erreichen. Denn ansonsten wäre den betroffenen
Personen die Einreise bereits nach § 27 Abs. 2 BVFG möglich, die Regelung in § 27 Abs. 4
Satz 2 Nr. 1 BVFG liefe leer. Hinzu kommt, daß § 27 Abs. 4 Satz 2 BVFG noch Regelungen
für zwei weitere Personengruppen enthält, die die Festsetzung eines früheren
Einreisezeitpunktes rechtfertigen, nämlich für Personen, deren Eltern, Kinder oder
Geschwister ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben (Nr.
2) und für Personen, die zum Zeitpunkt des Beginns der allgemeinen
Vertreibungsmaßnahmen schon gelebt haben (Nr. 3). Sähe man § 27 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1
BVFG als Fall der besonderen Härte im Sinne von § 27 Abs. 2 BVFG an, spräche manches
dafür, auch bei den beiden anderen Personengruppen eine besondere Härte
anzuerkennen. Dies würde aber dazu führen, daß die Vorschrift ihren Ausnahmecharakter
als Regelung für vom Gesetzgeber nicht vorhersehbare Fälle verlieren würde.
Für ein solches Verständnis der Vorschrift des § 27 Abs. 2 BVFG spricht auch die
Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Dem Gesetzgeber war bei Einführung des
Aufnahmeverfahrens bekannt, daß in den Aussiedlungsgebieten einerseits die früheren
totalitären Systeme nicht mehr weiter bestanden und insoweit eine wesentliche politische
Veränderung eingetreten war; dies war u.a. einer der maßgebenden Gründe für die
Einführung des Verfahrens. Andererseits ging er aber durchaus davon aus, daß die
rechtlichen und insbesondere die tatsächlichen Verhältnisse dort nicht die gleiche Qualität
wie in der Bundesrepublik Deutschland erreicht hatten und in nächster Zeit auch nicht
erreichen würden, so daß weiterhin ein ganz erhebliches Interesse der dort lebenden
deutschstämmigen Bevölkerung an der Ausreise bestand und bestehen würde. Im Hinblick
auf die Schwierigkeiten, die bei der Aufnahme einer großen Anzahl von Aussiedlern
entstanden bzw. entstehen würden, wurde es dennoch als zumutbar angesehen, daß die
Aussiedlungswilligen auch noch für längere Zeit in den Aussiedlungsgebieten verbleiben.
Vgl. Bundestagsdrucksache 11/6937, S. 6.
Dementsprechend hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme
des Bundesrates, die Härteklausel wegen der daraus zu befürchtenden Vielzahl von
Streitigkeiten zu streichen, deutlich gemacht, daß die Härteklausel nicht dazu diene, die
Zielsetzung des Gesetzes zu umgehen, sondern nur ganz besonders gelagerten
Ausnahmefällen Rechnung tragen solle.
Vgl. Bundestagsdrucksache 11/7189, S. 2 und 5.
Da der Aufnahmebewerber nicht daran gehindert werden darf, sein Recht auf Anerkennung
als Vertriebener wahrzunehmen, stellt jede Gefahr, die die Wahrnehmung seiner Rechte
vereiteln kann, eine besondere Härte im Sinne von § 27 Abs. 2 BVFG dar, es sei denn, sie
sei zurechenbar in der Absicht herbeigeführt worden, das Regelerfordernis des § 27 Abs. 1
BVFG zu umgehen. Insbesondere ist es nicht erforderlich, daß diese Gefahr im
Zusammenhang mit der deutschen Volkszugehörigkeit des Aufnahmebewerbers steht.
Auch eine unabhängig davon auftretende Gefahr, z.B. bei einer lebensbedrohlichen
Erkrankung, die im Aussiedlungsgebiet nicht erfolgversprechend behandelt werden kann,
kann in gleicher Weise den Aufnahmebewerber daran hindern, seine Rechte
wahrzunehmen. Insoweit hält der Senat an seiner früher vertretenen Ansicht, daß die
Regelung des § 27 Abs. 2 BVFG möglicherweise eng auszulegen sei und deshalb nur
solche Härtegründe zu berücksichtigen seien, die an die geltend gemachte deutsche
Volkszugehörigkeit anknüpfen,
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vgl. Beschluß des Senats vom 30. November 1994 - 2 E 560/93 - und Urteil vom 22.
Februar 1995 - 2 A 641/93 -,
nicht fest.
Ausgehend davon liegt hier ein Härtefall nicht vor. Insbesondere ist eine konkrete
Lebensgefahr bzw. sind sehr erhebliche gesundheitliche Gefahren, die einer konkreten
Lebensgefährdung nahekommen, für die Kläger hier für den Zeitpunkt der Ausreise nicht
feststellbar. Sie sind weder von den Klägern vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.
Die von den Klägern als Ausreisegrund vorgetragene Erkrankung der Klägerin zu 2) erfüllt
diese Voraussetzungen nicht. Ob die ausweislich der vorgelegten ärztlichen
Bescheinigungen aus Kasachstan in der Zeit vom 21. November 1990 bis 3. Januar 1991
stationär behandelte toxische Reaktion aufgrund einer Medikamentenallergie eine
erhebliche gesundheitliche Gefahr für die Klägerin zu 2) dargestellt hat, die einer konkreten
Lebensgefährdung nahegekommen ist, kann hier offenbleiben. Denn insoweit ist aus den
zu den Gerichtsakten gereichten ärztlichen Bescheinigungen ersichtlich, daß die Gefahr
einer solchen erneuten Gesundheits- bzw. Lebensgefahr nach der Behandlung dieser
Reaktion nicht mehr bestand.
Aus der Bescheinigung der Klinik T. vom 1. April 1994 geht insoweit hervor, daß die
Klägerin zu 2) nach der Behandlung unter der Bedingung einer Beobachtung von dem
zuständigen Allergologen entlassen worden ist, d.h. eine akute Gefahr einer weiteren
toxischen Reaktion bei der Beachtung der dort aufgeführten Empfehlungen, insbesondere
der Einnahme der verschriebenen Medikamente aus ärztlicher Sicht nicht drohte.
Daß eine erneute lebensbedrohende toxische Reaktion der Klägerin zu 2) wahrscheinlich
ist, ergibt sich auch nicht aus dem Auszug der Krankengeschichte der Klinik T. . Dort heißt
es zur Diagnose vielmehr ausdrücklich: "Zustand überstandener toxikoser allergischer
Reaktion".
Dies wird bestätigt durch den Inhalt der Krankenkarte des Immunologischen Instituts des
Gesundheitsministerium der UdSSR, Moskau. Daraus geht nämlich hervor, daß die
Klägerin zu 2) "in befriedigendem Zustand entlassen" worden ist. Daraus folgt, daß die dort
gestellte Diagnose, die unter anderem einen Zustand nach der akuten toxisch-allergischen
Reaktion im Jahre 1990/1991 und einer Arzneimittelallergie auf ausdrücklich aufgeführte
Medikamente aufführt, eine weitere immunologische Behandlung in dem Institut unter der
Voraussetzung der Einhaltung der dort im einzelnen aufgeführten "Empfehlungen" nicht
mehr erforderte.
Schließlich ergibt sich auch aus dem ärztlichen Bericht des Prof. Dr. T. vom 4. Januar 1995
nicht, daß die Klägerin zu 2) an einer unmittelbar lebensbedrohenden bzw. einer mit sehr
erheblichen gesundheitlichen Gefahren verbundenen Krankheit, die einer konkreten
Lebensgefährdung nahekommen, bei der Ausreise litt oder leidet, wobei dahingestellt
bleiben kann, wie eine erst nach der Ausreise eingetretene Verschlechterung rechtlich zu
beurteilen ist. Denn dort wird insoweit lediglich festgestellt, daß für die Klägerin zu 2) für
den Fall der Rückkehr nach Kasachstan eine "erhebliche gesundheitliche Gefährdung"
bestehe, die - wie sich aus dem Bericht im übrigen ergibt - sich im wesentlichen daraus
ergebe, daß vor allem aufgrund der "allgemeinen Wohn- und hygienischen Bedingungen in
ihrer Umgebung in Kasachstan" eine Reaktivierung der attestierten Atemwegserkrankung
und der Hauterkrankung ("Urticaria") auftreten werde. Daß weiterhin toxische Reaktionen
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aufgrund einer inzwischen bekannten Arzneimittelallergie nicht ausgeschlossen werden
können, wird in diesem Bericht nicht festgestellt.
Anhaltspunkte dafür, daß die nach den ärztlichen Bescheinigungen bei der Klägerin zu 2)
vorhandenden bzw. möglichen Erkrankung im wesentlichen in der Form einer mit einer
Hautallergie verbundenen Atemwegserkrankung (Bronchitis und Lungenemphysem) sich in
einem Zustand befinden, der unmittelbar lebensbedrohlich ist, lassen sich diesen
Bescheinigungen nicht entnehmen. Zwar führt Prof. Dr. T. aus, daß bei anhaltender
Atemwegsobstruktion mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen
sei, daß es auch zu einer erheblichen Zunahme des Lungenemphysems komme. Daß sich
eine solche Diagnose bereits in der Zeit erfüllt, die regelmäßig zur Durchführung eines
Aufnahmeverfahrens vom Herkunftsgebiet aus erforderlich ist, und ein zeitweiser Aufenthalt
dort deswegen eine unmittelbare Lebensbedrohung zur Folge hat, geht aus dieser
Feststellung jedoch nicht hervor und ist auch sonst nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist
ersichtlich, daß die Asthma-Erkrankung der Klägerin zu 2) zu Anfällen von Atemnot führte,
die eine konkrete Lebensgefährdung zur Folge haben können. Zwar werden der Klägerin
zu 2) in der Krankengeschichte des Immunologischen Instituts des
Gesundheitsministeriums der UdSSR, Moskau "Anfälle von Atemnot" bescheinigt. Daß
diese Anfälle zu akuter Lebensgefahr geführt haben bzw. führen können, geht daraus
jedoch nicht hervor. Dagegen spricht zunächst, daß in der Krankengeschichte der Klinik T.
insoweit lediglich von "Atembeschwerden" die Rede ist, ohne daß auf akute Anfälle
konkreter Atemnot hingewiesen wird. Gegen eine Lebensbedrohlichkeit möglicher Anfälle
spricht auch der Umstand, daß das Immunologische Institut die Entlassung der Klägerin zu
2) in "befriedigendem Zustand" bescheinigt und konkrete Empfehlungen auch "im Falle
bestehender Atemnot" gegeben hat. Dies rechtfertigt den Schluß, daß die ärztliche
Diagnose hinsichtlich der durchaus für möglich gehaltenen Atemnot nicht von einer akuten
Lebensgefahr für die Klägerin zu 2) bei einem solchen Anfall ausgegangen ist.
Die ärztlichen Bescheinigungen lassen schließlich auch nicht erkennen, daß die für die
Klägerin zu 2) notwendige medizinische Versorgung in Kasachstan letztlich nicht
gewährleistet ist. Soweit Prof. Dr. T. in seinem Bericht feststellt, aus den vorgelegten
ärztlichen Bescheinigungen ergebe sich, daß "die medizinische Versorgung nur sehr
eingeschränkt möglich war und z.T. wegen fehlender Medikamente nur sehr unzureichend
durchgeführt werden konnte", ist dies anhand des Inhaltes der dem Senat vorgelegten
Bescheinigungen nicht nachvollziehbar. Prof. Dr. T. lagen bei Abfassung seines Berichts,
wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt hat, nur diese und
keine weiteren Bescheinigungen vor. Daß die erforderlichen Medikamente nicht zur
Verfügung standen, geht daraus nicht hervor.
Die Kläger haben keine weiteren Tatsachen vorgetragen, bei denen es denkbar erscheint,
daß daraus auf das Vorliegen einer besonderen Härte im Zeitpunkt der Ausreise
geschlossen werden könnte. Die von den Klägern insoweit noch vorgetragene Situation
der ausreisewilligen Rußlanddeutschen in Kasachstan ist allgemeiner Art und besteht für
alle deutschen Volkszugehörigen, die einen Aufnahmeantrag gestellt haben.
Da schon nicht festgestellt werden kann, daß die Versagung des Aufnahmebescheides
eine besondere Härte i.S.d. § 27 Abs. 2 BVFG bedeuten würde, bedarf es keiner Prüfung,
ob die sonstigen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufnahmebescheides vorliegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2 und 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht
billigem Ermessen, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen nicht für
erstattungsfähig zu erklären, da dieser keinen Sachantrag gestellt und sich damit dem
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Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit
ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozeßordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht
vorliegen.