Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 26.08.1999

OVG NRW: öffentliche schule, kreis, unterricht, sonderschule, gemeinde, auflage, gestaltung, aufenthalt, schüler, hauptsache

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 19 B 1502/99
26.08.1999
Oberverwaltungsgericht NRW
19. Senat
Beschluss
19 B 1502/99
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 4 L 1639/99
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 4.000,- DM
festgesetzt.
Gründe:
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde ist abzulehnen, weil die Voraussetzungen für
eine Zulassung gemäß § 146 Abs. 4 iVm § 124 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses (§ 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) liegen nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin im Ergebnis zu
Recht im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO
verpflichtet, den Antragsteller vorläufig - bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in einem
etwaigen Hauptsacheverfahren - die Teilnahme am Unterricht der E-Klasse der C. -H. -
Schule in C. zu gestatten.
a. Der für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch folgt
aus § 7 Abs. 1, 4 und 5 des nordrhein- westfälischen Schulpflichtgesetzes (SchpflG) iVm
den Vorschriften über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die
Entscheidung über den schulischen Förderort vom 22. Mai 1995 (GV NW S. 496) - VO-SF -
und § 28 Abs. 2 des nordrhein-westfälischen Schulverwaltungsgesetzes (SchVG).
Nach § 7 Abs. 1 SchpflG erfüllen Schulpflichtige, die wegen körperlicher, seelischer oder
geistiger Behinderung oder wegen erheblicher Beeinträchtigung des Lernvermögens im
Unterricht einer Grundschule oder einer weiterführenden allgemeinen Schule nicht
hinreichend gefördert werden können, die Schulpflicht nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 bis
Abs. 10 SchpflG durch den Besuch einer allgemeinen Schule oder durch den Besuch einer
Sonderschule. Über den sonderpädagogischen Förderbedarf und den schulischen
Förderort entscheidet die Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Erziehungsberechtigten
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oder der Schule (§ 7 Abs. 4 Satz 1 SchpflG, § 12 Abs. 1 VO-SF).
Danach hat der Antragsteller einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung in einer
Sonderschule. Denn der F -Kreis hat als zuständige Schulaufsichtsbehörde mit - nach den
vorliegenden Unterlagen unanfechtbarem - Bescheid vom 4. Juni 1999 jedenfalls
festgestellt, daß bei dem Antragsteller eine Sprachbehinderung vorliegt, die eine
sonderpädagogische Förderung im Unterricht notwendig macht, und daß aufgrund der
Schwere der Sprachbehinderung sowie der Defizite in den
Sprachwahrnehmungsleistungen eine angemessene sonderpädagogische Förderung in
der integrativen Grundschulklasse nicht möglich ist.
Rechtlich unerheblich ist deshalb der Einwand der Antragsgegnerin, aus dem vor Erlaß
des Bescheides vom 4. Juni 1999 eingeholten sonderpädagogischen Gutachten und auch
aus dem Gutachten des St. F. -Hospitals in C. vom 28. Januar 1999 gehe nicht hervor, daß
eine integrative Beschulung des Antragstellers an einer Grundschule nicht möglich sei.
Diesem Einwand der Antragsgegnerin steht die Wirksamkeit und damit die
Tatbestandswirkung des Bescheides vom 4. Juni 1999 entgegen. Die Tatbestandswirkung
des Verwaltungsaktes,
vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 4. Juli 1986 - 4 C 31.84 -, BVerwGE 74, 315 (320), vom 23.
April 1980 - 8 C 82.79 -, BVerwGE 60, 111 (117), und vom 17. Januar 1980 - 7 C 63.77 -,
BVerwGE 59, 310 (315),
hat zur Folge, daß nicht nur der Antragsteller und der F -Kreis, sondern auch die
Antragsgegnerin als Behörde an die Tatsache, daß der F -Kreis den Bescheid erlassen hat,
und auch an die in dem Bescheid enthaltene Feststellung gebunden ist, daß bei dem
Antragsteller ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, der nicht in einer integrativen
Grundschulklasse erfüllt werden kann. Diese Bindungswirkung würde nur dann nicht
bestehen, wenn der Bescheid vom 4. Juni 1999 nicht nur rechtswidrig, sondern aus einem
der in §§ 43 Abs. 2 und 3, 44 Abs. 1 und 2 VwVfG NW genannten Gründe sogar unwirksam
wäre. Dahingehende Anhaltspunkte hat die Antragsgegnerin jedoch nicht dargelegt. Sie
trägt im Zulassungsverfahren lediglich vor, daß mit der Einholung des
sonderpädagogischen Gutachtens gegen Nr. 2 des Erlasses des Kultusministeriums
betreffend die Genehmigung des Schulversuchs "Integrative Grundschulklasse" an den
Grundschulen der Städte des F -Kreises vom 31. März 1999 - 712.70 - 20/8 Nr. 17/99 -
verstoßen worden sei. Ungeachtet der Frage, ob die Antragsgegnerin sich hierauf schon
deshalb nicht berufen kann, weil dieser Gesichtspunkt erstmals im Zulassungsverfahren
und nicht schon im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemacht worden ist, trägt sie selbst
jedenfalls nicht vor, daß die Einholung des sonderpädagogischen Gutachtens die
Unwirksamkeit des Bescheides vom 4. Juni 1999 zur Folge hat.
Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf die von ihm beantragte Aufnahme in die C. -
H. -Schule in Bochum. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SchVG darf die Aufnahme in eine
öffentliche Schule, die nicht Pflichtschule ist, Schülern, deren Schulbesuch in ihrer
Gemeinde nicht gewährleistet ist, nicht deshalb verweigert werden, weil die
Erziehungsberechtigten ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einer anderen
Gemeinde haben. Danach darf die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Aufnahme in die
C. - H. -Schule nicht deshalb versagen, weil seine Eltern ihren Wohnsitz im F -Kreis haben.
Denn die C. -H. -Schule ist für den Antragsteller keine Pflichtschule. Eine Schule ist
jedenfalls dann keine Pflichtschule im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 1 SchVG, wenn der
Schüler weder nach den gesetzlichen Vorschriften noch aus anderen (Rechts-) Gründen
verpflichtet ist, gerade diese Schule zu besuchen.
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Vgl. auch Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, 6. Auflage, 1986, S. 26,
Meyerhoff/Pünder/Schäfer, Schulverwaltungsgesetz und Schulfinanzgesetz in Nordrhein-
Westfalen, 2. Auflage, 1968, § 4 SchVG, Anm. 3.
Die C. -H. -Schule ist danach für den Antragsteller keine Pflichtschule, weil er weder nach
den gesetzlichen Vorschriften noch nach dem Bescheid vom 4. Juni 1999 verpflichtet ist,
diese Schule zu besuchen. In dem Bescheid vom 4. Juni 1999 wird die C. -H. - Schule
lediglich als nächstgelegene Schule benannt. Eine verbindliche Festlegung dieser Schule
als konkreter schulischer Förderort ist damit nicht erfolgt.
b. Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
bejaht.
Unzutreffend ist die - sinngemäße - Auffassung der Antragsgegnerin, eine Vorwegnahme
der Hauptsache sei unzulässig, weil ein Anordnungsanspruch überwiegend
wahrscheinlich nicht gegeben sei. Das Verwaltungsgericht hat - wie ausgeführt - zu Recht
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches angenommen.
Die Antragsgegnerin beruft sich auch ohne Erfolg darauf, daß es dem Antragsteller
zumutbar sei, zunächst am integrativen Unterricht einer Grundschule teilzunehmen. Dies ist
dem Antragsteller nach den - wie ausgeführt - bindenden Feststellungen in dem Bescheid
vom 4. Juni 1999 nicht zumutbar.
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen
Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf. Die Antragsgegnerin kann sich
nicht mit Erfolg darauf berufen, daß die Rechtssache für sie tatsächlich und rechtlich
besonders schwierig sei, weil sie über die personelle und organisatorische Gestaltung des
Schulversuchs im F -Kreis keine Informationen habe und weil sie aufgrund ihrer fehlenden
Beteiligung an dem Schulversuch zu der vom Kultusministerium und dem F -Kreis
beabsichtigten rechtlichen Ausgestaltung des Schulversuchs keine Aussagen machen
könne. Ob besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs.
2 Nr. 2 VwGO vorliegen, beurteilt sich nicht nach dem Kenntnisstand einer Partei, sondern
danach, ob die Rechtssache objektiv tatsächlich oder rechtlich besonders schwierig ist.
Daß die vorliegende Rechtssache objektiv besonders schwierig ist, macht die
Antragsgegnerin nicht geltend.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf
§§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1, 14 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).