Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.02.2009

OVG NRW: gewöhnlicher aufenthalt, flucht, wohnung, vorzeitige entlassung, politische gemeinde, form, jugendamt, auflage, inhaftierung, unterbringung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3303/07
Datum:
16.02.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 A 3303/07
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 1313/05
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an
die Klägerin die im Hilfefall des Kindes J. F. aufgewendeten
Jugendhilfekosten für die Maßnahme der Inobhutnahme in der Zeit vom
18. September 2004 bis 19. September 2004 in Höhe von 50,49 Euro
sowie für die Maßnahme in Form der Hilfe zur Erziehung in der Zeit vom
20. September 2004 bis 16. Februar 2005 in Höhe von 3.544,64 Euro,
jeweils nebst Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz ab 2. Juni 2005 zu erstatten.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten für jugendhilferechtliche
Leistungen an das Kind J. F. , die die Klägerin in den Zeiträumen vom 18. September
2004 bis 19. September 2004 sowie vom 20. September 2004 bis zum 16. Februar 2005
aufgewendet hat.
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Mutter der am 2003 in B. außerehelich geborenen J. F. ist die am 1982 geborene Frau
U. F. .
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Die Kindesmutter wohnte bis zum 18. Februar 2002 in B. in einer Caritas- Einrichtung,
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dem E. -C. -Haus (S. -L. -Straße ), in einer betreuten Wohnform. Vom 1. März 2002 bis
zum 28. Februar 2003 bewohnte sie in B. in der K. - H. -Straße eine selbst angemietete
Wohnung, die sie eine Zeit nach dem Einzug des vermutlichen Kindesvaters verließ.
Vom 1. März 2003 bis zum 24. August 2003 lebte sie wie auch ihre in dieser Zeit
geborene Tochter in B. beim einem Bekannten der Kindesmutter im B1.------------weg .
Die Kindesmutter trat am 25. August 2003 eine Strafhaft in der JVA G. an; die
Kindesmutter und ihr Kind fanden Aufnahme in der in der JVA G. betriebenen Mutter-
Kind-Einrichtung.
Seit dem 1. Juli 2003 bis zum Haftantritt der Kindesmutter am 25. August 2003 leistete
die Beklagte dieser Hilfe zur Erziehung ihrer Tochter J. in Form sozialpädagogischer
Familienhilfe durch den T. B. e.V. (T1. B. ). In einer Hilfeplankonferenz im Jugendamt
der Beklagten am 25. Juni 2003 vereinbarte eine Mitarbeiterin der Beklagten mit der
Leiterin der ambulanten Dienste des T1. B. , dass versucht werden solle, Mutter und
Kind nach Haftende in einer Einrichtung des betreuten Wohnens des T1. B. in der C1.---
--straße unterzubringen. In dem Abschlussbericht des T1. B. über die Betreuung von
Mutter und Kind vor der Haft vom 20. August 2003 wurde ausgeführt, dass man mit Blick
auf die Unterbringung von U. und J. F. nach dem Haftende bereits einen
Besichtigungstermin in der C1.-----straße durchgeführt habe und sich Frau F. bei der
dortigen Leiterin vorgestellt habe. Während der Inhaftierung der Kindesmutter in der JVA
G. leistete die Beklagte der Kindesmutter und dem Kind Hilfe nach § 19 SGB VIII.
Während ihrer Inhaftierung in der JVA G. nutzte die Kindesmutter wiederholt Urlaube
dazu, mit ihrem Kind nach B. zu dem mutmaßlichen Kindesvater zu fahren, zu dem sie
zwischenzeitlich wieder eine Beziehung aufgenommen hatte, die jedoch gegen Ende
der Haftzeit wieder beendet wurde. In einem am 12. Juli 2004 durchgeführten
Fachgespräch und der anschließenden Hilfeplankonferenz teilte eine Mitarbeiterin des
T1. B. mit, dass der mit Blick auf eine zwischenzeitlich in Betracht gekommene
frühzeitige Entlassung der Kindesmutter für August 2004 reservierte Kindergartenplatz
und die reservierte Wohnung in der Einrichtung C1.-----straße zunächst aufgegeben
werden müssten, man aber bemüht sei, für Ende 2004 bzw. Anfang 2005 erneut einen
Kindergartenplatz für J. zu bekommen und wieder eine Wohnung für Mutter und Kind in
der C1.-----straße in B. zu reservieren.
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Am 13. September 2004 flüchtete die Kindesmutter mit ihrem Kind aus der Einrichtung.
Die Hilfe nach § 19 SGB VIII wurde nach der Flucht mit Wirkung vom 15. September
2004 wegen mangelnder Mitarbeit der Kindesmutter eingestellt.
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Am 18. September 2004 meldete sich beim Pflegekinderdienst der Klägerin eine Frau
O. H1. aus N. -C2. und gab an, seit dem vorangegangenen Tag, dem 17. September
2004, das Kind J. F. zu betreuen. J. Mutter sei aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) G.
(Mutter-Kind-Einrichtung des offenen Vollzuges) abgängig und habe ihr das Kind zur
Betreuung überlassen. Der Name der Mutter sei U. , der Nachname sei ihr unbekannt.
Am Tag der Kontaktaufnahme zum Jugendamt, also am 18. September 2004, habe die
Mutter von J. ihr mitgeteilt, dass sie J. vorerst nicht abholen könne, da sie weiter auf der
Flucht sei. J. wurde am 18. September 2004 vom Pflegekinderdienst der Klägerin in
Obhut genommen und im Pflegenest Beier im Zuständigkeitsbereich der Klägerin
untergebracht; sie blieb dort während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums.
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Am 20. September 2004 wurde die Kindesmutter in G. aufgegriffen. Am selben Tag
richteten sowohl der damalige Betreuer der Kindesmutter als auch diese selbst einen
Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege an das
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Jugendamt der Klägerin. Mit Bescheid vom 18. Oktober 2004 bewilligte diese die
beantragte Hilfe zur Erziehung gemäß den §§ 27, 33 SGB VIII mit Wirkung ab dem 20.
September 2004. Die Kindesmutter setzte die Strafhaft vom 21. September 2004 bis
zum 17. Februar 2005 in der JVA L1. fort. Sie wurde am 17. Februar 2005 entlassen; am
selben Tag erfolgte ihre polizeiliche Anmeldung in E1. .
Mit Schreiben vom 18. Oktober 2004 forderte die Klägerin von der Beklagten die
Erstattung der durch ihre Leistungen in dem Hilfefall J. F. entstandenen Kosten dem
Grunde nach. Diese lehnte die begehrte Kostenerstattung mit Schreiben vom 26. Januar
2005 ab.
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Am 2. Juni 2005 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie den Erstattungsanspruch
weiterverfolgt. Sie hat geltend gemacht, dass die Kindesmutter aufgrund ihres - vor den
Ereignissen in G. liegenden - lückenlosen Aufenthaltes in B. zu erkennen gegeben
habe, dass sie sich an diesem Ort aufhalten wolle. Sie habe damals den Mittelpunkt
ihrer gesamten Lebensbeziehungen in B. aufgebaut. Trotz des Antritts der Haftstrafe in
der JVA G. habe die Kindesmutter diesen Lebensmittelpunkt nicht aufgegeben. Eine
solche Absicht sei jedenfalls weder vor noch während der Inhaftierung bekannt
geworden. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Kindesmutter während ihrer Haftzeit
in G. mehrmals über die Wochenenden beurlaubt worden sei. Diese Zeiten habe sie
zusammen mit ihrem Kind in B. bei dem mutmaßlichen Kindesvater verbracht. Für die
Zeit nach ihrer - zunächst geplanten - vorzeitigen Entlassung sei ebenfalls eine
Anschlusshilfe in Form des betreuten Wohnens in B. angedacht gewesen. Die Klägerin
hat die Auffassung vertreten, dass die Kindesmutter jedenfalls in G. keinen neuen
gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe. Aufgrund der feststehenden Dauer der Haft
(hier: 18 Monate) handele es sich bei einem Aufenthalt in einer JVA um ein nur
vorübergehendes Verweilen im Sinne des § 30 SGB I, welches nicht geeignet sei, einen
gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.
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Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie, die Klägerin, die im Hilfefall des Kindes J. F.
aufgewendeten Jugendhilfekosten für die Maßnahme der Inobhutnahme in der Zeit vom
18. September 2004 bis 19. September 2004 in Höhe von 50,49 Euro sowie für die
Maßnahme in Form der Hilfe zur Erziehung in der Zeit vom 20. September 2004 bis 16.
Februar 2005 in Höhe von 3.544,64 Euro, jeweils nebst Prozesszinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 2. Juni 2005 zu erstatten.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie hat vorgetragen, dass die Kindesmutter unstreitig seit Februar 2002 ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in B. gehabt habe. In der JVA G. aber habe die Kindesmutter
dann einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Die Erfüllung des Merkmals des
gewöhnlichen Aufenthaltes sei am Ort einer Justizvollzugsanstalt durchaus möglich, wie
sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 4. Juni
1997 - 1 C 25.96) ergebe. Dass es sich bei dem Aufenthalt der Kindesmutter um einen
Zwangsaufenthalt in der JVA gehandelt habe, stehe der Begründung des gewöhnlichen
Aufenthaltes nicht entgegen. Hinzu komme, dass die Kindesmutter mit ihrer Flucht am
13. September 2004 diesen gewöhnlichen Aufenthalt wiederum aufgegeben habe.
15
Hierfür spreche auch der Umstand, dass sie nach ihrer Ergreifung in die JVA L1. verlegt
worden und dort bis zum Ende ihrer Haftstrafe am 17. Februar 2005 verblieben sei.
Unter diesen Umständen sei zum Zeitpunkt der Inobhutnahme des Kindes J. F. am 18.
September 2004 ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kindesmutter nicht feststellbar
gewesen. Im Hinblick darauf richte sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 4 SGB VIII
nach dem gewöhnlichen bzw. tatsächlichen Aufenthalt des Kindes. Dieser liege im
Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Es sei nicht ersichtlich, dass J. F. in den
mütterlichen Haushalt habe rückgeführt werden sollen.
Soweit die Klägerin ab dem 20. September 2004 Hilfe zur Erziehung im Pflegenest
Beier gem. §§ 27, 33 SGB VIII gewährt habe, habe es sich - gemessen an den
vorgenannten Zielen bei der Hilfe zur Erziehung - um eine qualitativ andere Leistung zur
Deckung des jugendhilferechtlichen Bedarfs von J. F. gehandelt. Vor dieser neuen
jugendhilferechtlichen Leistung habe J. F. ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei Frau O.
H1. und seit dem 18. September 2004 in einem Pflegeheim im Zuständigkeitsbereich
der Klägerin gehabt.
16
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt,
dass die Voraussetzungen für die geltend gemachten Erstattungsansprüche nach den
§§ 89b, 89c SGB VIII nicht vorlägen, da beide Anspruchsnormen davon ausgingen,
dass derjenige örtliche Träger der Jugendhilfe erstattungsverpflichtet sei, dessen
Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet werde.
In den beiden streitgegenständlichen Zeiträumen habe die insoweit maßgebliche
Kindesmutter jedoch ihren gewöhnlichen Aufenthalt zu keinem Zeitpunkt mehr im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten innegehabt. Dabei hat das Verwaltungsgericht die
Frage offen gelassen, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt im Rechtssinne auch am Ort einer
Justizvollzugsanstalt begründet werden könne. Denn jedenfalls habe die Kindesmutter
mit ihrer Flucht ab dem 13. September 2004 einen möglicherweise zuvor zu bejahenden
gewöhnlichen Aufenthalt am Ort der Justizvollzugsanstalt beendet. Durch die Flucht
hätten sich alle noch konstruierbaren Bindungen der Kindesmutter an den
Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgelöst. Wegen der Einzelheiten der
Begründung wird auf den Inhalt des Urteils Bezug genommen.
17
Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung wiederholt und vertieft die
Klägerin ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Sie macht geltend, dass
die Absicht der Kindesmutter, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in B. auch während der
Haftzeit aufrechtzuerhalten, insbesondere anhand der Rückkehrplanungen während der
Haft deutlich werde. Diese Rückkehrplanungen habe die Kindesmutter bereits vor
Haftantritt gemeinsam mit ihrem damaligen Betreuer, dem Zeugen B2. E2. , sowie den
Mitarbeitern der Beklagten angestellt. Dies gehe schon aus dem Protokoll der
Hilfeplankonferenz der Beklagten vom 10. Juli 2003 hervor, wonach der psychosoziale
Dienst der Beklagten die Kindesmutter bei ihrer Rückkehr nach B. nach der Haft
unterstützen wollte. Bereits zum Zeitpunkt des Haftantritts habe die Kindesmutter
beabsichtigt, nach der Haftentlassung nach B. zurückzukehren und dort in eine
Einrichtung des T1. B. in der C1.-----straße zu ziehen. Die Betreuer des T1. B. hätten für
die Kindesmutter als Familienersatz fungiert. Diese Zukunftsplanungen der
Kindesmutter hätten sich auch in objektiven Umständen während der Haft manifestiert.
So habe die Kindesmutter ihre Wochenendbeurlaubungen dazu genutzt, die Kontakte
nach B. aufrechtzuerhalten. Unter anderem habe sie diese Urlaube mehrfach dazu
genutzt, mit ihrem Kind den mutmaßlichen Kindesvater in B. zu besuchen. Als sich nach
einem Jahr der Haftverbüßung die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung ergeben
18
habe, sei zum August 2004 ein Kindergartenplatz für J. F. sowie eine Wohnung in der
C1.-----straße reserviert und die Kostenfrage zwischen dem Betreuer und der Beklagten
geklärt worden. Auch die Gewährung von jugendhilferechtlichen Leistungen durch die
Beklagte während der gesamten Inhaftierung bis zur Flucht der Frau F. bestätige, dass
auch die Beklagte selbst den Willen der Kindesmutter zur Aufrechterhaltung ihres
Lebensmittelpunktes und damit ihres gewöhnlichen Aufenthaltes in B. akzeptiert habe.
In der JVA G. habe die Kindesmutter auch deshalb keinen gewöhnlichen Aufenthalt
begründen können, weil sie sich dort nicht im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs bis
auf Weiteres aufgehalten habe, sondern ihre Inhaftierung lediglich einen von Anfang an
vorübergehenden Verbleib dargestellt habe. Schließlich habe die Kindesmutter auch in
der Zeit ihrer Flucht keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können. Im
Hinblick auf den nach § 86 Abs. 4 SGB VIII maßgeblichen gewöhnlichen Aufenthalt des
Kindes J. F. macht die Klägerin geltend, dieses habe schon deshalb keinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der JVA G. begründen können, da ein natürlicherweise
hilfloses Kleinkind in einer Anstalt derartigen Charakters nicht auf Dauer untergebracht
werden könne, so dass dessen Aufenthalt von vornherein als vorübergehend zu
betrachten sei. Lediglich außergewöhnliche Umstände könnten ein ausschließlich
befristetes Verweilen eines Kleinkindes in einer Justizvollzugsanstalt zulassen. Auch
das Kind habe während der Flucht der Mutter keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt
begründen können.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und nach dem erstinstanzlichen
Klageantrag zu erkennen.
20
Die Beklagte beantragt,
21
die Berufung zurückzuweisen.
22
Die Beklagte hat im Termin der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, die
Kindesmutter habe mit ihrer Trennung von dem vermutlichen Kindesvater etwa im
August 2004 ihre Bindungen zu B. gelöst. Ab diesem Zeitpunkt habe sie nicht mehr
vorgehabt, nach B. zurückzukehren. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass sie nicht
etwa nach B. geflohen sei, sondern sich nach ihrer Flucht in G. aufgehalten habe. Ihre
Beziehung zu G. bzw. N. werde auch dadurch belegt, dass sie ihr Kind auf der Flucht
bei einer Freundin in N. gelassen habe. Außerdem habe sie vermutlich einen Freund in
G. gehabt, bei dem sie dann ja auch von der Polizei aufgegriffen worden sei.
23
Der Senat hat im Termin zur mündlichen Verhandlung über die Umstände der
Aufenthaltsnahme des Kindes J. F. Beweis erhoben durch Vernehmung des
seinerzeitigen Betreuers der Kindesmutter, des Zeugen E2. .
24
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen
Verhandlung am 16. Februar 2009 und wegen der weiteren Einzelheiten des
Sachverhaltes und des Vortrags der Beteiligten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
von den Beteiligten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
25
Entscheidungsgründe:
26
Die Berufung ist zulässig und begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein
27
Anspruch auf Erstattung der Kosten zu, die die Klägerin für jugendhilferechtliche
Leistungen an das Kind J. F. in den Zeiträumen vom 18. September 2004 bis 19.
September 2004 sowie vom 20. September 2004 bis zum 16. Februar 2005
aufgewendet hat.
Im Hinblick auf den ersten Leistungszeitraum vom 18. bis 19. September 2004 ergibt
sich ein Erstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte in Höhe von 50, 49 Euro
aus § 89b Abs. 1 SGB VIII in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des
Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 3. Mai 1993 (BGBl. I, 239). Danach sind Kosten,
die ein örtlicher Träger im Rahmen der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (§
42 SGB VIII) aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen
Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird.
Die Klägerin ist hier im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit nach § 87 SGB VIII tätig
geworden, da sich das Kind J. F. vor Beginn der Inobhutnahme tatsächlich in seinem
Zuständigkeitsbereich - nämlich bei Frau O. H1. in N. -C2. - aufhielt.
28
Die Zuständigkeit der Beklagten wird nach § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII begründet, da
das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung
29
- der Inobhutnahme - seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten innehatte.
30
Auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter, die mangels Anerkennung oder
gerichtlicher Feststellung der Vaterschaft der nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII
maßgebliche Elternteil ist, kann nicht abgestellt werden, da diese zum Zeitpunkt der
Inobhutnahme auf Grund ihrer Flucht aus der JVA G. und des Untertauchens keinen
feststellbaren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Angesichts der Angaben von Frau O. H1. ,
bei der die Kindesmutter ihr Kind gelassen hatte, sie könne J. vorerst nicht abholen, da
sie weiterhin auf der Flucht sei, sowie des Umstandes, dass die Kindesmutter zur
Fahndung ausgeschrieben worden war und erst am 20. September polizeilich
aufgegriffen werden konnte, da sie tatsächlich untergetaucht war, waren weitere
Ermittlungen der Klägerin betreffend den Aufenthaltsort der Kindesmutter entbehrlich.
31
Vgl. zum Erfordernis der Nutzung der Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde nach § 21
SGB X: Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 86, Rn. 25; Kunkel, in:
Kunkel, LPK-SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 86, Rn. 31.
32
Ist aber der gewöhnliche Aufenthaltsort des maßgeblichen Elternteils nicht feststellbar,
so richtet sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nach dem
gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung. Vor
der Inobhutnahme am 18. September 2004 befand sich J. F. tatsächlich in der Obhut von
Frau O. H1. . Einen gewöhnlichen Aufenthalt jedoch konnte J. F. bei dieser nicht
begründen.
33
Da der Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthaltes im SGB VIII nicht näher
umschrieben ist, gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB I,
34
vgl. Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 86, Rn. 6; Kunkel. In: Kunkel,
LPK-SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 86, Rn. 18; Münder, Frankfurter Kommentar zum SGB
VIII, 5. Auflage 2006, § 86, Rn. 2; W. Schellhorn, in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII,
35
3. Auflage 2007, § 86, Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - 5 C 46.01 und
5 B 37.01 -, FEVS 54, 198; BayVGH, Beschluss vom 12. Februar 2008 - 12 ZB 07.921 -,
juris; HessVGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 10 ZU 2031/05 - ASR 2006, 38,
mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn
und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist.
36
Vgl. BVerwG, Urteile vom 31. August 1995 - 5 C 11.94 -, BVerwGE 99, 158, 162, und
vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434.
37
Den gewöhnlichen Aufenthalt begründet eine Person nach § 30 Abs. 3 SGB I dort, wo
sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in
diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.
38
Vgl. zur Legaldefinition zusammenfassend: OVG
39
NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A
40
4352/01 -, FEVS 54, 283 m. w. N.
41
Diese Feststellung ist aufgrund einer die tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigenden
Prognose zu treffen.
42
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C
43
25.96 -, NVwZ-RR 1997, 751.
44
Erforderlich ist zunächst auch bei Minderjährigen eine tatsächliche
45
Aufenthaltsnahme,
46
vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 - 5 C
47
9.04 -, NVwZ 2006, 97; Urteil vom 26. September 2002 - 5 C 46.01 und 5 B 37.01 -,
a.a.O.,
48
wie sie hier durch die Unterbringung des Kindes am 17. September 2004 bei Frau H1.
erfolgt ist. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist zwar nicht erforderlich. Notwendig
ist jedoch, dass sich der Betroffene an einem bestimmen Ort "bis auf weiteres" im Sinne
eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hat.
49
Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, a.a.O.
50
Bei einem Kleinkind, das zu einer Willensbildung im genannten Sinne noch nicht fähig
ist, sind allein die objektiven Umstände i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I entscheidend.
51
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -, a.a.O.
52
Ein Minderjähriger hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Regel an dem Ort, an dem
er seine Erziehung erhält, wobei es darauf ankommt, ob sie nur vorübergehend oder auf
53
Dauer erfolgen soll.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - 5
54
C 46.01, 5 B 37.01 -, a.a.O. mit Hinweis auf
55
Urteile vom 26. November 1981 - 5 C 56.80 -,
56
BVerwGE 64, 224 und vom 15. Mai 1986 - 5 C 68.84 -, BVerwGE 74, 206; OVG NRW,
Urteil vom 6. Juni 2008 - 12 A 576/07 -, juris.
57
In Anwendung dieser Grundsätze hat das Kind J. F. keinen gewöhnlichen Aufenthalt bei
Frau O. H1. begründet. Denn die Umstände ihres Aufenthaltes waren eindeutig weder
auf einen zukunftsoffenen Verbleib noch auf eine Verlegung des Lebensmittelpunktes in
den Haushalt der Frau O. H1. ausgerichtet. Dafür spricht schon der Umstand, dass die
Kindesmutter ihr Kind bei Frau H1. auf der Flucht untergebracht hat, ohne mit dieser
irgendwelche Vereinbarungen über einen weiteren, ggfls. zukunftsoffenen Verbleib zu
treffen. Dies wird durch das Telefonat zwischen Frau H1. und der Kindesmutter am Tag
der Kontaktaufnahme zum Jugendamt belegt, in dem die Kindesmutter mitgeteilt haben
soll, dass sie J. vorerst nicht abholen könne, da sie weiterhin auf der Flucht sei. Damit
hat die Kindesmutter zugleich deutlich gemacht, dass J. keineswegs auf gewisse Dauer
bei Frau H1. ihren Lebensmittelpunkt haben sollte, sondern die Aufenthaltnahme dort
lediglich vorübergehender Natur sein sollte, bis sie, die Mutter einen Ort gefunden hätte,
wo sie bleiben könnte. Offensichtlich war die Beziehung zwischen Frau F. und Frau H1.
auch nicht derart eng und freundschaftlich, dass ohne Weiteres davon ausgegangen
werden konnte, dass das Kind J. bei Frau H1. zunächst einmal für einen nicht näher
umrissenen Zeitraum verbleiben hätte können. Dies wird zum einen dadurch bestätigt,
dass Frau H1. noch nicht einmal den Nachnamen der Kindesmutter kannte. Zum
anderen spricht auch der Umstand, dass Frau H1. unverzüglich, nämlich schon einen
Tag nach Überlassung des Kindes, Kontakt zum Jugendamt der Klägerin aufgenommen
hat und das Kind offensichtlich ohne jede Gegenwehr dem Jugendamt überlassen hat,
dafür, dass sie nicht bereit war, das Kind für längere Zeit bei sich aufzunehmen, und
sich dafür auch nicht verantwortlich sah. Die objektiven Umstände der Aufenthaltnahme
des Kindes bei Frau H1. , insbesondere deren Verhalten, sprechen insoweit eindeutig
gegen die von der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung geäußerte
Vermutung, es müsse sich bei Frau H1. wohl um eine sehr gute Freundin der
Kindesmutter gehandelt haben, was für die Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthaltes des Kindes dort spreche - die Kindesmutter hätte ihr Kleinkind doch sonst
dort nicht in Obhut gegeben.
58
Hat das Kind J. F. aber unmittelbar vor Beginn der Leistung keinen gewöhnlichen
Aufenthalt innegehabt, so kommt es nach § 86 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Satz 2 SGB VIII
darauf an, ob das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung einen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diesen gewöhnlichen Aufenthalt hatte das Kind im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
59
Dabei scheidet allerdings der Zeitraum vom 13. September 2004 bis zum 17. September
2004 von vornherein aus, da sich J. F. in dieser Zeitspanne gemeinsam mit ihrer Mutter
auf der Flucht befand, mithin ein Anknüpfungspunkt für eine Verlagerung des
Lebensmittelpunktes und Umstände, die auf ein nicht nur vorübergehendes Verbleiben
an einem bestimmten Ort haben schließen lassen, gerade nicht gegeben waren. Soweit
60
die Beklagtenvertreterin diesbezüglich geltend macht, die Kindesmutter habe sich
während ihrer Flucht in G. aufgehalten und nicht in B. , was für die Begründung eines
gewöhnlichen Aufenthaltes in G. spreche, so entbehrt eine solche Aufenthaltsnahme
jeder nachhaltbaren tatsächlichen Grundlage. Denn bis auf den Zeitpunkt der Abgabe
des Kindes bei Frau H1. in N. (17. September) und den Zeitpunkt des Aufgreifens der
Kindesmutter in G. (20. September), ist über deren Aufenthalt während der Flucht nichts
bekannt. Auch der Zeuge E2. konnte hierüber keine Angaben machen. Der Umstand
alleine, dass die Kindesmutter möglicherweise einen Freund in G. hatte - sie wurde bei
einem Herrn P1. T2. von der Polizei aufgegriffen - gibt für sich genommen ebenfalls
nichts her für die Annahme der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes in dem
Zeitraum zwischen dem 13. September und dem 17. September 2004.
Vor der Flucht der Kindesmutter mit ihrem Kind und damit noch innerhalb des Sechs-
Monats-Zeitraums des § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII hatte das Kind J. F. seinen
gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Denn es hat den
unstreitig vor Antritt der Strafhaft der Mutter am 25. August 2003 in B. innegehabten
gewöhnlichen Aufenthalt während des Aufenthaltes in der Mutter-Kind- Einrichtung der
JVA G. nicht aufgegeben und einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in der Einrichtung
nicht begründet.
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Ob der Haftort bei der Verbüßung einer Freiheitsstrafe - hier der Mutter des betroffenen
Kindes, das dieser in den Strafvollzug gefolgt ist -, die als objektiver Umstand der
Aufenthaltnahme des Kindes für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes des
Kindes maßgeblich ist, den Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes begründen kann, ist eine
Frage des Einzelfalles, zu deren Beantwortung nicht alleine auf die Dauer der
Inhaftierung abzustellen ist, sondern auch die sonstigen Lebensumstände zu
berücksichtigen sind.
62
Vgl. zu vergleichbaren ausländerrechtlichen Fallkonstellationen: BVerwG, Urteil vom 4.
Juni 1997 - 1 C 25.96 -, a.a.O.; Beschluss vom 8. Oktober 1993 - 1 B 71.93 -, InfAuslR
1994, 13; zum Kinder- und Jugendhilferecht: BayVGH, Beschluss vom 19. April 2000 -
12 ZB 98.2862 -, ZfJ 2000, 417 m.w.N.
63
Dabei ist zu berücksichtigen, dass angesichts des Umstandes, dass der tatsächliche
Aufenthalt eine zwar nicht hinreichende aber notwendige Bedingung für die
Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes darstellt, der sich aus einer ex-ante
Beurteilung ergibt,
64
vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 2002 - 5 C 46.1 und 5 B 37.01 -, a.a.O.,
65
der Fortfall des bisherigen tatsächlichen Aufenthaltes, der mit einer Aufenthaltnahme zur
Verbüßung einer Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt zwangsläufig einhergeht,
ein gewichtiges Indiz für die Aufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes ist.
66
Vgl. VG Ansbach, Urteil vom 13. Dezember 2007 - AN 14 K 06.04115 -, juris.
67
Allerdings kann dieses Indiz im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung in den
Hintergrund treten, sofern es andere konkrete Anhaltspunkte gibt, die für eine
Aufrechterhaltung des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes sprechen wie etwa
familiäre, häusliche, soziale oder berufliche Bindungen, die sich beispielsweise in
konkreten Rückkehrplanungen manifestieren.
68
Vgl. HessVGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 10 UZ 2031/05 -, a.a.O.; BayVGH,
Beschluss vom 19. April 2000 - 12 ZB 98.2862 -, a.a.O.; VG Ansbach, Urteil vom 4.
Oktober 2007 - AN 14 K 05.00925 -, juris.
69
Gemessen an diesen Grundsätzen geht der Senat davon aus, dass der unstreitig bis
zum Antritt der Haftstrafe der Kindesmutter am 25. August 2003 durch das Kind J. F.
innegehabte gewöhnliche Aufenthalt in B. auch während des Aufenthaltes in der Mutter-
Kind-Einrichtung der JVA G. aufrechterhalten wurde.
70
Denn es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass der Lebensmittelpunkt in B.
beibehalten werden sollte. Dies gilt für die Planungen unmittelbar vor Eintritt in die
Mutter-Kind-Einrichtung genauso wie für die Begleitung des Aufenthaltes des Kindes in
der Einrichtung durch die Beklagte. Bereits vor Beginn des Aufenthaltes in der JVA G.
wurden von der Kindesmutter, unterstützt durch die Beklagte, den T1. B. sowie ihren
damaligen Betreuer konkrete Planungen für eine Rückkehr des Kindes und seiner
Mutter nach B. getroffen. Dies geht aus dem Protokoll der Hilfeplankonferenz am 25.
Juni 2003 hervor, wonach das Jugendamt der Beklagten mit der Vertreterin des T1. B. ,
der die Kindesmutter und das Kind im Rahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe
nach §§ 27, 31 SGB VIII betreut hat, vereinbart hat, dass versucht werden solle, Mutter
und Kind nach Haftende in einer Einrichtung des Betreuten Wohnens des T1. B. in der
C1.-----straße unterzubringen. Diese Planungen werden ferner bestätigt durch den
abschließenden Bericht des T1. B. vom 20. August 2003 - also kurz vor Haftantritt der
Kindesmutter. In diesem Bericht wird ausgeführt, dass man im Hinblick auf eine
geplante Unterbringung nach der Haftentlassung mit der Kindesmutter bereits einen
Besichtigungstermin in der Einrichtung in der C1.-----straße durchgeführt habe und ein
Vorstellungsgespräch mit der dortigen Leiterin geführt worden sei, die sich gut habe
vorstellen können, dass sich Frau F. in das dortige Konzept integrieren würde. Während
des Aufenthaltes in der Mutter-Kind-Einrichtung der JVA G. wurden diese Planungen
weiter konkretisiert. Dies ergibt sich zum einen aus dem Protokoll der Beklagten über
das Fachgespräch am 12. Juli 2004, wonach der T1. B. für die in Aussicht genommene,
dann jedoch nicht realisierte vorzeitige Entlassung der Kindesmutter aus der Haft bereits
einen Kindergartenplatz für J. F. sowie eine Wohnung in der Einrichtung C1.-----straße
B. ab August 2004 reserviert hatte. Dass diese Planungen trotz der aufgeschobenen
vorzeitigen Haftentlassung nicht fallen gelassen wurden, bestätigt das Protokoll der
Hilfeplankonferenz am 12. Juli 2004, wonach sich der T1. B. weiter darum bemühen
werde, nunmehr für Dezember 2004 oder Januar 2005 einen Kindergartenplatz für J. F.
und eine Wohnung in der C1.-----straße zu reservieren. Nach dem Protokoll des
Hilfeplangesprächs vom 16. März 2004 war für die Zeit nach der Haftentlassung
außerdem eine intensive Betreuung im Rahmen eines sozialpädagogischen
Familienhilfe geplant, wobei davon ausgegangen werden kann, dass diese wiederum
vom T1. B. , der bereits wieder in die Hilfeplanung ab Juli 2004 einbezogen wurde,
durchgeführt werden sollte. Dass sich der als Zeuge in der mündlichen Verhandlung vor
dem Senat vernommene seinerzeitige Betreuer der Frau F. nicht mehr an Einzelheiten
dieser Rückkehrplanungen erinnern konnte, ist insoweit unschädlich, als die Planungen
sich in erster Linie aus den eigenen Vermerken und Protokollen der Beklagten ergeben
und von dieser nicht bestritten werden. Ein weiterer konkreter Anknüpfungspunkt für die
Aufrechterhaltung des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes in B. sind die wiederholten
Kontakte des Kindes J. F. zu seinem mutmaßlichen Vater. Ausweislich zweier Vermerke
der Beklagten vom 11. Februar 2004 und vom 11. Januar 2005, eines Berichtes der
Mutter-Kind-Einrichtung an die Beklagte vom 15. März 2004 sowie des Protokolls über
71
das Hilfeplangespräch am 16. März 2004 hat die Kindesmutter die ihr gewährten
Wochenendbeurlaubungen wiederholt dazu genutzt, mit dem Kind J. nach B. zu dem
mutmaßlichen Vater des Kindes zu fahren. Diese Kontakte rissen erst kurz vor der
Flucht der Kindesmutter aus der JVA auf deren Veranlassung ab. Dass das
mutmaßliche Ende der Beziehung zu dem vermutlichen Kindesvater nicht zugleich auch
ein Ende der Rückkehrplanungen bezogen auf B. darstellte, wird schon daraus deutlich,
dass nach dem Fachgespräch am 12. Juli 2004 die Rückkehrplanungen nach B.
unabhängig von dem weiteren Verhältnis zu dem Kindesvater verfolgt wurden. So sollte
die geplante Unterbringung von Mutter und Kind in der C1.-----straße ohne den
mutmaßlichen Kindesvater erfolgen. Auch aus dem behördeninternen Vermerk der
Mitarbeiterin der Beklagten vom 13. Juli 2004, in dem sich diese für eine
Weitergewährung der Hilfe nach § 19 SGB VIII zunächst bis zum Ende des Jahres 2004
aussprach, wird deutlich, dass die Beklagte die Rückkehr der Kindesmutter und des
Kindes nach B. unabhängig von der Rolle des mutmaßlichen Vaters plante. Denn
diesbezüglich wurde von Seiten der Mitarbeiterin der Beklagten lediglich festgestellt,
dass sie diesen mit Blick auf Versorgung und Betreuung des Kindes bisher nicht
beurteilen könne.
Dass die Kindesmutter ihren Lebensmittelpunkt in B. gesehen hat und die
Rückkehrplanungen dorthin bis zu ihrer Flucht am 13. September 2004 auch nicht
aufgegeben hat, wird durch die Angaben des Zeugen E2. bestätigt. Dieser führte aus,
dass Frau F. persönliche Kontakte zu einigen Personen in B. hatte, darunter zu einem
Bekannten, bei dem sie vor ihrem Haftantritt gewohnt hatte und bei dem sie auch einige
persönliche Gegenstände (Sofa, Fotoalben etc.) zurückgelassen hatte, die allerdings im
Zuge einer Zwangsräumung der Wohnung später abhanden gekommen sind. Dass die
Kindesmutter auch zum Ende ihres Aufenthaltes in der JVA G. die feste Absicht hatte,
nach B. zurückzukehren betätigen die Angaben des Zeugen zu den Gründen ihres
Untertauchens. Denn der Zeuge hat angegeben, dass Frau F. ihm anlässlich eines
Gesprächs in der JVA L1. erläutert habe, dass sie aus der JVA G. geflohen sei, weil sie
den Eindruck gehabt habe, dass man sie im Umkreis von G. in einer Einrichtung
unterbringen wolle, sie aber nach B. habe zurückkehren wollen. Die Bekundungen des
Zeugen E2. sind glaubhaft, da er ohne ein eigenes Interesse an einem bestimmten
Ausgang des Verfahrens detailliert und lebensnah die Fragen des Gerichts und der
Beteiligten beantwortete, wobei er auch jeweils differenziert deutlich machte, inwieweit
er sich überhaupt erinnern konnte, ob er Kenntnisse aus eigener Wahrnehmung oder
nur vom Hörensagen hatte und, ob er eigene Wertungen abgab.
72
Dafür, dass die Mutter von J. F. seit dem Bruch mit Herrn T3. etwa im August 2004 ihren
Lebensmittelpunkt in G. und nicht mehr in B. gesehen habe, fehlen demgegenüber
jegliche konkreten Anhaltspunkte. Soweit die Beklagte hierzu geltend macht, die
Kindesmutter habe offensichtlich kurz vor ihrer Flucht eine neue Beziehung zu einem
Mann aus G. begründet, ergeben sich daraus keinerlei konkreten Hinweise darauf, dass
die Rückkehrplanungen der Kindesmutter nach B. schon während der Haft in G. - und
zwar während des für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes J. F.
maßgeblichen Zeitraumes von sechs Monaten vor Beginn der Leistung - aufgegeben
worden waren. Selbst wenn es sich bei dem in einem Vermerk der Klägerin vom 30.
September 2004 genannten Herrn P1. T2. , bei dem die Kindesmutter am 20. September
2004 aufgegriffen wurde, um den Freund der Frau F. gehandelt haben sollte, lässt sich
hierauf alleine nicht die Annahme der Aufgabe der konkreten Rückkehrplanungen nach
B. , die sich in den oben genannten Umständen manifestiert haben, stützen. Auch der
Umstand, dass die Kindesmutter auf der Flucht ihr Kind bei einer Bekannten in N. und
73
nicht in B. abgegeben hat, lässt keinerlei Rückschlüsse auf die Aufgabe der konkreten
Zukunftspläne bezogen auf B. in dem hier allein maßgeblichen Zeitraum von 6 Monaten
vor Leistungsbeginn zu. Denn - wie bereits oben dargelegt - sprechen die Umstände der
Aufenthaltnahme des Kindes bei der Bekannten O. H1. insgesamt dafür, dass diese
Unterkunft lediglich eine Notlösung für die Zeit des Untertauchens der Kindesmutter
war. Ausdruck irgendwelcher bestimmter Zukunftspläne, die sich bereits während der
Haft konkretisiert hätten, ist dies sicherlich nicht.
Der Annahme, dass der ursprünglich in B. begründete gewöhnliche Aufenthalt des
Kindes angesichts der sozialen und familiären Bindungen sowie der konkreten
Rückkehrplanungen durch den Aufenthalt in der Mutter-Kind-Einrichtung der JVA G.
nicht aufgegeben worden ist, steht auch nicht entgegen, dass der in B. begründete
gewöhnliche Aufenthalt nach der Aufgabe des letzten tatsächlichen Aufenthaltsortes in
B. (B1.------------weg ) nicht an eine bestimmte Unterkunft, eine Wohnadresse, eine
Wohnung oder ein Haus anknüpft. Denn der gewöhnliche Aufenthalt wird nicht für ein
bestimmtes Haus oder für eine bestimmte Wohnung, sondern an einem bestimmten Ort
begründet, worunter die jeweilige politische Gemeinde zu verstehen ist,
74
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1973 - V C 107.72 -, BVerwGE 42, 196; BayVGH,
Urteile vom 29. Juli 1999 - 12 B 97.3431 -, FEVS 51, 517 und vom 25. Januar 2001 - 12
B 99.512 -, FEVS 52, 373; Beschluss vom 12. Februar 2008 - 12 ZB 07.921 - a.a.O.
75
Der Klägerin steht im Hinblick auf die im Leistungszeitraum vom 20. September 2004
bis zum 16. Februar 2005 erbrachten jugendhilferechtlichen Leistungen ein
Erstattungsanspruch in Höhe von 3.544,64 Euro gemäß § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII in
der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch
vom 3. Mai 1993 (BGBl. I, 239) zu.
76
Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach §
86d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen
Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach den §§ 86, 86a und 86b SGB
VIII begründet wird. Die Klägerin war im vorliegenden Fall nach § 86d SGB VIII vorläufig
verpflichtet, die beantragte Hilfe zur Erziehung in der Form der Vollzeitpflege des Kindes
J. F. zu erbringen, da nach § 86d SGB VIII der nach § 86 SGB VIII für die
Leistungserbringung örtlich zuständige Träger, die Beklagte, nicht tätig geworden ist.
Die Beklagte war auch für den hier in Rede stehenden Zeitraum der nach § 86 Abs. 4
Satz 2 SGB VIII örtlich zuständige Träger.
77
Denn auch bezogen auf den Leistungsbeginn am 20. September 2004 kann von einem
gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter im Inland nicht ausgegangen werden. Der
nach dem oben Gesagten zuvor noch während des Aufenthaltes in der JVA G.
aufrechterhaltene gewöhnliche Aufenthalt in B. war, wie das Verwaltungsgericht in
seinem Urteil zutreffend festgestellt hat, mit der Flucht und dem Untertauchen der
Kindesmutter aufgegeben worden, da sie damit alle noch zuvor bestehenden
Bindungen, die sich insbesondere in den konkreten Rückkehrplanungen nach B.
manifestiert hatten, gekappt hatte. Einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt hatte die
Kindesmutter am 20. September 2004 indes auch noch nicht begründet. Wo sie sich
während ihres Untertauchens aufgehalten hat, ist nicht bekannt, so dass
Anknüpfungspunkte für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes nicht gegeben
sind. Der Umstand, dass sie in der Wohnung eines bzw. ihres Freundes von der Polizei
angetroffen wurde, besagt - wie bereits oben ausgeführt - nichts über ihren Verbleib
78
während der Flucht. Am 20. September war sie von der Polizei in G. aufgegriffen
worden. Dass sie in dieser Situation, in der über ihren Verbleib noch keine auch nur
annähernd auf eine gewisse Dauer angelegte Entscheidung getroffen war, keinen
neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, liegt auf der Hand.
Ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes vor dem Beginn der Leistung i. S. d. § 86 Abs. 4
Satz 1 SGB VIII bestand nicht.
79
Dabei kann der Senat vorliegend offen lassen, ob mit der Formulierung in § 86 Abs. 4
SGB VIII "vor Beginn der Leistung" die konkrete jugendhilferechtliche Leistung im Sinne
des § 2 Abs. 2 SGB VIII, für die Kostenerstattung begehrt wird - hier also die Hilfe zur
Erziehung in Form der Vollzeitpflege, die im Gegensatz zur Inobhutnahme nach § 42
SGB VIII eine Leistung und nicht eine "andere Aufgabe der Jugendhilfe" im Sinne des §
2 Abs. 3 SGB VIII darstellt - gemeint ist, wobei insoweit auf den Zeitpunkt des Antrages
abzustellen wäre,
80
in diesem Sinne: OVG NRW, Urteil vom 6. Juni 2008 - 12 A 576/07 -, a.a.O. m.w.N.,
81
oder ob man den Beginn der Leistung mit der Inobhutnahme des Kindes am 18.
September 2004 zusammenfallen lässt, da der Gegenstand der Leistung bzw. Aufgabe
der Jugendhilfe im vorliegenden Fall mit der Unterbringung und Betreuung in dem Q.
C3. identisch ist und sich lediglich die rechtliche Einkleidung - einmal als Inobhutnahme
und einmal als Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege - unterscheidet.
82
Denn zu beiden Zeitpunkten - am 18. September 2004 genauso wie am Tag der
Antragstellung durch die Mutter am 20. September 2004 - hatte das Kind J. F. keinen
gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Stellt man auf den 18. September 2004 ab, so kann
vollinhaltlich auf das oben zu dem ersten Anspruchszeitraum Gesagte Bezug
genommen werden. Das Kind hatte danach am 18. September 2004 keinen
gewöhnlichen Aufenthalt begründet.
83
Knüpft man an den 20. September 2004 an, so scheidet die Annahme der Begründung
eines neuen gewöhnlichen Aufenthaltes im Q. C3. , wo sich J. seit dem 18. September
aufgehalten hat, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch aus.
84
Denn nach den oben geschilderten Grundsätzen für die Annahme eines gewöhnlichen
Aufenthaltes fehlte es zu diesem frühen Zeitpunkt der Aufenthaltnahme in dem Q. C3. -
ausgehend von einer prognostischen Bewertung - an Umständen, die haben erkennen
lassen, dass das Kind J. F. an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilen würde. Die
äußeren Umstände der Aufenthaltnahme sprachen im Gegenteil sogar eher dafür, dass
es sich nur um eine vorübergehende Unterbringung des Kindes handeln würde.
Schließlich war das Kind rein zufällig im Zuständigkeitsbereich der Klägerin von seiner
Mutter bei einer Bekannten hinterlassen worden. Im Übrigen stellte sich die Situation
bezüglich des weiteren Verbleibs des Kindes am 20. September 2004 - insbesondere
angesichts der ungeklärten Situation seiner Mutter, die am selben Tag von der Polizei
aufgegriffen wurde - als noch völlig offen dar. Aus einem Vermerk der Klägerin über ein
Gespräch mit dem Betreuer der Kindesmutter geht ferner hervor, dass die Klägerin erst
am 21. September 2004 erstmals mit diesem sprechen konnte, um einige Hintergründe
des Falles zu erfahren, die für den weiteren Aufenthalt des Kindes J. F.
ausschlaggebend sein konnten. Dass die Klägerin zudem bestrebt war, eine
frühestmögliche Klärung der Zuständigkeitsfrage für den Hilfefall herbeizuführen, geht
85
schon aus einem Gesprächsvermerk der Klägerin über ein Telefonat mit einer
Mitarbeiterin der Beklagten vom 30. September 2004 hervor, wonach die Mitarbeiterin
der Klägerin auf eine mögliche Zuständigkeit der Beklagten hinwies. Dass sich die
Klägerin für die Hilfeleistung als unzuständig erachtete, belegt ihr Schreiben vom 18.
Oktober 2004 an die Beklagte, in dem sie die Kostenerstattung für die geleistete Hilfe
verlangte.
Bestand - wie hier - ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes i. S. d. § 86 Abs. 4 Satz 1
SGB VIII vor dem Beginn der Leistung nicht, ist nach § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII der
gewöhnliche Aufenthalt des Kindes während der letzten sechs Monate vor dem Beginn
der Leistung maßgebend, der, wie oben dargelegt, im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten aufrechterhalten worden ist.
86
Der Zinsanspruch folgt bezüglich beider Erstattungsansprüche aus einer analogen
Anwendung von §§ 288, 291 BGB,
87
Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00 -, BVerwGE 114, 61.
88
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO.
89
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung
90
beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
91
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2
92
VwGO nicht gegeben sind.
93
94