Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.08.2009

OVG NRW (anrechnung, gebühr, gesetz, höhe, vergütung, mandant, festsetzung, zahlung, verwaltungsgericht, teil)

Oberverwaltungsgericht NRW, 4 E 1609/08
Datum:
11.08.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 E 1609/08
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 10. Oktober 2008
wird geändert: Auf die Erinnerung der Beschwerdeführerin wird der
Vergütungsfestset-zungsbeschluss vom 2. September 2008 dahin ab-
geändert, dass zusätzlich zu den festgesetzten 797,84 Euro weitere
195,45 Euro und damit insge-samt 993,29 Euro als Vergütung gegen die
Staats-kasse festgesetzt werden.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Kosten werden nicht
erstattet.
G r ü n d e :
1
I.
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Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die anteilige Anrechnung der
Geschäftsgebühr auf ihren Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Sie hatte ihren
Mandanten bereits im Vorverfahren vertreten und ist erstinstanzlich diesem im Rahmen
der Prozesskostenhilfebewilligung beigeordnet worden.
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Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss die Erinnerung der
Beschwerdeführerin zurückgewiesen, mit der sie erneut geltend machte, keine Zahlung
auf die Geschäftsgebühr erhalten zu haben, weil ihr Mandant die eidesstattliche
Versicherung abgegeben habe und eine Pfändung erfolglos sei. Zur Begründung hat es
im Wesentlichen ausgeführt, dass die nach dem Gesetz vorgesehene anteilige
Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr eine Zahlung auf die
Geschäftsgebühr nicht voraussetze und auch für die Festsetzung der aus der
Staatskasse zu zahlenden Vergütung gelte. Ausreichend sei, dass die Geschäftsgebühr
entstanden sei.
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Dagegen wendet die Beschwerdeführerin ein, es sei ohne Einschränkung
Prozesskostenhilfe für die I. Instanz bewilligt worden und das sei für das
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Festsetzungsverfahren verbindlich. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erstrecke
sich nur auf den jeweiligen Rechtszug; das Vorverfahren gehöre aber nicht zum
Rechtszug I. Instanz und könne deshalb nicht berücksichtigt werden. Abgesehen davon
sei ihr Mandant nicht in der Lage, die Geschäftsgebühr zu bezahlen, so dass eine
Anrechnung unbillig sei.
II.
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Die vom Verwaltungsgericht zugelassene und damit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m.
§ 33 Abs. 3 Satz 2 RVG trotz Nichterreichung des Beschwerdewertes zulässige
Beschwerde, über die im vorliegenden Verfahren gemäß § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG der
Berichterstatter als Einzelrichter zu entscheiden hat, hat Erfolg. Die Geschäftsgebühr,
auf die keine Zahlung erfolgt ist, ist nicht auf die aus der Staatskasse zu zahlende
Verfahrensgebühr anzurechnen.
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Eine konkrete Regelung, unter welchen Voraussetzungen die Anrechnungsregelung
nach Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (anteilige
Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr) auf die Festsetzung der
aus der Staatskasse zu zahlenden Geschäftsgebühr zu berücksichtigen ist, fehlt in dem
Gesetz. Durch das Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und
notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft
sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I. S. 2449) ist im
Artikel 7 Abs. 4 Nr. 6 § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG durch folgende Sätze ersetzt worden:
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"Der Antrag hat die Erklärung zu enthalten, ob und welche Zahlungen der
Rechtsanwalt bis zum Tag der Antragstellung erhalten hat. Bei Zahlungen
auf eine anzurechnende Gebühr sind diese Zahlungen, der Satz oder der
Betrag der Gebühr und bei Wertgebühren auch der zugrunde gelegte Wert
anzugeben. Zahlungen, die der Rechtsanwalt nach der Antragstellung
erhalten hat, hat er unverzüglich anzuzeigen."
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Aus der in § 55 Abs. 5 Satz 3 RVG (n.F.) geregelten umfassenden Erklärungspflicht
ergibt sich hinreichend deutlich, dass eine Gebührenanrechnung im Verhältnis zur
Staatskasse jedenfalls dann nicht stattfinden soll, wenn der Rechtsanwalt keine
Zahlungen erhalten hat.
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Vgl. dazu Hansens, AnwBl 2009, 535 (539); ferner: OLG Stuttgart,
Beschluss vom 15. Januar 2008 - 8 WF 5/08 -, RVGreport 2008, 108 und
Enders, JurBüro 2008, 561.
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Diese für Fälle der vorliegenden Art in Zukunft zu beachtende - indirekte - Regelung ist
nach Art. 10 des Gesetzes am 5. August 2009 in Kraft getreten. Eine Rückwirkung hat
der Gesetzgeber nicht angeordnet, so dass die allgemeine Übergangsregelung in § 60
Abs. 1 Satz 1 RVG eingreifen müsste. Dies kann aber dahinstehen. Denn auch für
diesen Fall ist bei Altfällen der in dem "Modernisierungsgesetz" vom 30. Juli 2009 zum
Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers hinsichtlich der Anrechnung der
Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr im Verhältnis zur Staatskasse zu beachten.
Der Wortlaut des § 55 Abs. 5 Satz 2 RVG in der alten Fassung spricht nicht dagegen.
Dafür spricht allerdings, dass der Gesetzgeber nunmehr lediglich das geregelt hat, was
sich seiner Auffassung nach bereits aus der früheren Fassung des RVG ergeben hat.
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Vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT
Drucks. 16/12717 S. 68; Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins
durch den Ausschuss RVG und Gerichtskosten, abrufbar unter
www.anwaltverein.de /45/08; Hansens, AnwBl 2009, 535; Kallenbach,
AnwBl 2009, 442.
13
Der – verbreiteten – Rechtsprechung,
14
vgl. dazu die Nachweise bei Hansens, AnwBl 2009, 293, Fn 7,
15
nach der die Anrechnung der Geschäftsgebühr bei der Festsetzung der
Prozesskostenhilfe-Vergütung selbst dann zu berücksichtigen war, wenn der bedürftige
Mandant dem PKH-Anwalt die Geschäftsgebühr nicht gezahlt hatte, war insbesondere
die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorausgegangen,
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Beschluss vom 22. Januar 2008 - VIII ZB 57/07 -, NJW 2008, 1323 = AnwBl
2008, 378,
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nach der die in Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG, geregelte Anrechnung der
Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren
unabhängig davon zu berücksichtigen sei, ob die Geschäftsgebühr bezahlt oder zu
Gunsten der erstattungsberechtigten Partei tituliert worden war, oder ob der
Rechtsanwalt sie seinem Auftraggeber überhaupt in Rechnung gestellt hat. Dieser
Rechtsauffassung ist durch die Einfügung des § 15 a in das RVG, in Kraft getreten
ebenfalls am 5. August 2009, bei unverändert gebliebener Anrechnungsvorschrift der
Boden entzogen worden. § 15 a Abs. 1 RVG lautet wie folgt:
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"Sieht dieses Gesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr
vor, kann der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern, jedoch nicht mehr als
den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden
Gebühren."
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Daraus folgt, dass beide Gebühren in voller Höhe entstehen müssen, ansonsten keine
Anrechnung auf den Gesamtbetrag beider Gebühren erfolgen könnte. Mit der Einfügung
des § 15 a RVG wollte der Gesetzgeber die o.g. Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs korrigieren, weil diese unmittelbar den Absichten zuwiderlief, die
der Gesetzgeber mit dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ursprünglich verfolgt hatte.
Ziel war allein, mit der Anrechnungsregel zu verhindern, dass der Rechtsanwalt für die
betreffende Tätigkeit doppelt honoriert wird.
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Vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BT
Drucksache 16/12717 S. 67 f.
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Entsteht aber die Verfahrensgebühr in voller Höhe und nicht entsprechend der BGH-
Rechtsprechung von vornherein nur in gekürzter Höhe, kann sie im Rahmen des § 55
RVG in voller Höhe berücksichtigt werden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar.
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