Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.12.2006

OVG NRW: pauschalierung, sozialhilfe, kranker, lebenserfahrung, diskriminierung, verwaltungsgerichtsbarkeit, zukunft, zahl, bevölkerung, gewährleistung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3268/05
Datum:
21.12.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 3268/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 K 8613/04
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist unbegründet, weil die
beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1 ZPO).
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die Annahme des Verwaltungsgerichts, mit der am 1. Januar 2004 in
Kraft getretenen Einbeziehung von Kosten der Krankheit in § 1 Abs. 1 Satz 2 der
Regelsatzverordnung (Art. 29 GKV - Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 -
BGBl. I S. 2190) müsse der Kläger als chronisch Kranker die Zuzahlung zu
Medikamenten in Höhe von 35,52 EUR (1 % des Jahresbetrages der
Regelsatzleistungen für einen Haushaltungsvorstand - §§ 61, 62 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz
2, Abs. 2 Satz 5 Nr. 1 SGB V i.d.F. des GKV - Modernisierungsgesetzes) aus dem in der
Höhe unveränderten Regelsatz selbst bezahlen, weil aufgrund der Aufhebung von § 38
Abs. 2 BSHG (Art. 28 Nr. 4c GKV - Modernisierungsgesetz) eine Übernahme dieser
Kosten im Wege der sozialhilferechtlichen Krankenhilfe entfallen sei, nicht in Frage zu
stellen.
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Die Auswirkungen der Gesetzesänderungen werden vom Kläger nicht in Frage gestellt;
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er ist vielmehr der Auffassung, dass die zusätzliche Belastung gegen Art. 1 Abs. 1 Satz
1 und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
verstoße. Seine Darlegungen in der Begründung des Zulassungsantrags rechtfertigen
diese Annahme jedoch nach dem bei der gerichtlichen Überprüfung von Regelsätzen
geltenden Maßstab nicht.
Die gesetzlichen Regelungen ermächtigen die Verwaltung bei der Bemessung der
laufenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für den Regelfall zur
Generalisierung, Typisierung und Pauschalierung. In tatsächlicher Hinsicht erstreckt
sich die gerichtliche Überprüfung darauf, ob sich die Regelsatzfestsetzung auf
ausreichende Erfahrungswerte stützen kann. Soweit es um durch Generalisierung,
Typisierung
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oder Pauschalierung bedingte Wertungen geht, genügt die Vertretbarkeit der Wertung,
damit die Festsetzung der Regelsätze insoweit im Rahmen der
verwaltungsgerichtlichen Kontrolle Bestand haben kann.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1993 - 5 C 8.90 -, BVerwGE 94, 326 ff.; Urteil
vom 18. Dezember 1996 - 5 C 47.95 -, BVerwGE 102, 366 ff.
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Gemessen hieran vermag das Zulassungsvorbringen nicht zu begründen, dass die mit
der Festsetzung der Höhe des Regelsatzes und mit seiner Pauschalierung
verbundenen Wertungen unvertretbar sind.
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Dass durch die mit 2,96 EUR im monatlichen Durchschnitt relativ geringfügige
Erhöhung der Kostenbelastung chronisch kranker Sozialhilfeempfänger, wie dem
Kläger, unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG die verfassungsrechtlichen
Mindestgarantien für ein menschenwürdiges Dasein,
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BVerfG, Senatsbeschluss vom 29. Mai 1990 - 1 BvL 20/84 u.a. -, BVerfGE 82, 60 ff.,
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entzogen worden sind, ist weder substantiiert vorgetragen worden noch ist dies sonst
ersichtlich.
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So im Ergebnis zumindest konkludent auch: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 9.
März 2004
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- 12 ME 64/04 -, NJW 2004, 1817; VG Hannover, Urteil vom 15. Februar 2006 - 9 A
118/05 -, juris; VG Münster, Beschluss vom 6. Januar 2004 - 5 L 1964/03 -, SAR- aktuell
2004, 55 (57); VG Berlin, Beschluss vom 2. April 2004 - 8 A 69.04 -, ZSFH/SGB 2005,
278; Beschluss vom 27. April 2004 - 8 A 111.04 -, ZSFH-SGB 2005, 223 (224).
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Entgegen der Auffassung des Klägers kann gerade nicht davon ausgegangen werden,
dass der bis zum 31. Dezember 2003 gewährte Regelsatz den Mindestsatz zur
Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins dargestellt hat. Dabei wird schon
übersehen, dass das Bundessozialhilfegesetz selbst Kürzungen des Regelsatzes
ermöglicht (§ 25 Abs. 1 BSHG), ohne dass von einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz
1 GG auszugehen ist. Darüber hinaus liegen auch die Grundleistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz deutlich unter den Leistungen des
Bundessozialhilfegesetzes, ohne die Menschenwürde zu verletzen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. September 1998
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- 5 B 82.97 -, FEVS 49, 97 ff.
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Daraus wird ersichtlich, dass die sozialhilferechtliche Hilfe zum Lebensunterhalt nicht
mit der verfassungsrechtlich gebotenen Mindesthilfe gleichgesetzt werden darf.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. September 1998, a. a. O.
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Ob und ggfs. inwieweit die Erbringung der Zuzahlung aus dem Regelsatz chronisch
kranke Sozialhilfeempfänger in ihrer individuellen Lebensgestaltung gegenüber der
übrigen Bevölkerung einer allgemein als unzumutbar zu bewertenden Diskriminierung
ausgesetzt hat,
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vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, Beschluss vom 18. November 1991 - 5 B 43.90 -,
Buchholz 436.0 § 1 BSHG Nr. 9; Urteil vom 14. März 1991 - 5 C 70.86 -, FEVS 41, 397
ff.,
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wird nicht einmal ansatzweise vorgetragen; weder ist dargelegt, dass hierdurch konkrete
elementare menschliche Bedürfnisse mit den verbleibenden Mitteln der Sozialhilfe nicht
befriedigt werden können noch sind sonstige diskriminierende Einschränkungen in der
Lebensführung geltend gemacht.
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Soweit der Kläger rügt, Sozialhilfeempfänger, die nicht wie er chronisch krank, sondern
gesund seien, müssten diese Zuzahlung nicht leisten, so dass ihnen zur Lebensführung
mehr Geld verbleibe, kann hiermit ein die Vertretbarkeitsgrenze überschreitender
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht begründet werden. Denn es ist angesichts der
verhältnismäßig geringen Kosten (2,96 EUR im Monat) im Rahmen der gebotenen
Typisierung und aufgrund der Lebenserfahrung nicht unvertretbar, darauf abzustellen,
dass jeder Sozialhilfeempfänger in die Lage kommen kann, krankheitsbedingt
Medikamente - ggfs. auch auf Dauer - in Anspruch nehmen zu müssen. Ob und ggfs. in
welchem Umfang dies tatsächlich erfolgt, ist - wie auch in Bezug auf die sonstigen in § 1
der Regelsatzverordnung aufgeführten Bedarfe - von der individuellen Lebensführung
und darüber hinausgehenden, teilweise von dem Sozialhilfeempfänger nicht zu
beeinflussenden Faktoren abhängig. Die hierdurch bedingte individuell unterschiedliche
Verteilung der für alle von der jeweiligen Regelsatzgruppe erfassten
Sozialhilfeempfänger in gleicher Höhe gewährten Regelsatzmittel auf die einzelnen
über den Regelsatz abgedeckten Bedarfe ist Folge der in zulässigerweise pauschaliert
und nicht individuell gewährten Sozialleistungen.
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Dementsprechend weist die Rechtssache besondere rechtliche Schwierigkeiten i.S.v. §
124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht auf.
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Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
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(§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen, weil die aufgeworfenen Fragen ausgelaufenes
Recht betreffen. Zum 1. Januar 2005 ist gemäß Art. 70 Abs. 1 des Gesetzes zur
Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003
(BGBl. I S. 3022, 3071) das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) - Sozialhilfe - in
Kraft getreten. Dieses Gesetzbuch ersetzt zusammen mit dem zum selben Zeitpunkt in
Kraft getretenen SGB II u. a. das Bundessozialhilfegesetz, das mit Wirkung vom selben
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Tag aufgehoben worden ist. Angesichts des grundsätzlich anders strukturierten Systems
von Regel- und sonstigen Leistungen des SGB XII/SGB II kann nicht davon
ausgegangen werden, dass sich unter der Geltung des neuen Rechts die streitigen
Fragen in gleicher Weise stellen.
Unabhängig davon kann eine zukunftsweisende Wirkung einer Berufungsentscheidung
deshalb nicht angenommen werden, weil für Streitigkeiten nach dem neuen
Leistungsrecht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG in der Fassung des zum 1. Januar 2005
in Kraft getretenen 7. Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 9.
Dezember 2004, BGBl. I S. 3302 (Art. 1 Nr. 10 Buchstabe b), nicht die Gerichte der
Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern die der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. März 2005 - 5 B 55.04 -; OVG NRW, Beschluss vom
18. Juli 2005
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- 16 A 857/02 -.
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Soweit die Zulassung eines Rechtsmittels wegen grundsätzlicher Bedeutung auch bei
ausgelaufenem Recht in Betracht kommt, wenn noch eine erhebliche Zahl von Fällen
nach dem ausgelaufenen Recht zu entscheiden wäre, vermag das dem
Zulassungsantrag nicht zum Erfolg zu verhelfen, denn eine grundsätzliche Bedeutung
kann in diesen Fällen nur dann angenommen werden, wenn die Klärung noch für einen
nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Juli 2005,
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a. a. O., m. w. N.
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Das Vorliegen einer solchen Sachlage hat der als Rechtsmittelführer
darlegungspflichtige,
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vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 1995
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- 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712,
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Kläger nicht dargetan.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das angefochtene Urteil ist
rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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