Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.10.2003

OVG NRW: zumutbarkeit, tierhaltung, interessenabwägung, jahreszeit, haus, absicht, verfügung, minderung, genehmigung, erlass

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 1505/03
Datum:
28.10.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 B 1505/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 3 L 1238/02
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e:
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Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere fehlt auch nach der Fertigstellung des
Vorhabens des Beigeladenen nicht das Rechtsschutzinteresse, weil die von der
Antragstellerin geltendgemachte Rechtsbeeinträchtigung nicht vom Gebäude selbst,
sondern von dessen Nutzung ausgeht.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2000 - 7 B 2102/99 -; Beschluss vom 6. April
2000 - 10 B 409/00 -.
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Die zulässige Beschwerde hat aber in der Sache keinen Erfolg.
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Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO beschränkt ist, gibt keinen Anlass, die Interessenabwägung des
Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, wonach das Interesse der Antragstellerin an
der Aussetzung der Vollziehung der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung
zurückzustehen hat hinter dem Interesse des Beigeladenen, die ihm erteilte
Baugenehmigung auszunutzen.
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Allerdings ergibt sich dieses Ergebnis nicht bereits daraus, dass im vorliegenden
Verfahren die Erfolgsaussichten des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die dem
Beigeladenen erteilte Baugenehmigung mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden
könnten. Denn es fehlt jedenfalls an einer hinreichenden Grundlage für die Beurteilung
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der Frage, ob das Vorhaben des Beigeladenen schädlichen Umwelteinwirkungen
ausgesetzt sein wird.
Zwar bestehen keine Bedenken hinsichtlich der vom Betrieb der Antragstellerin
ausgehenden Lärmimmissionen. Das im Rahmen des Aufstellungsverfahrens zum
Bebauungsplan Nr. C 1-B "T. weg " der Gemeinde O. eingeholte Lärmgutachten der
RWTÜV Anlagentechnik GmbH vom 22. Februar 2002 kommt auf der Grundlage von
plausiblen Annahmen über den Umfang der geräuschintensiven Tätigkeiten im
derzeitigen Betrieb der Antragstellerin zu dem Ergebnis, dass für die gesamte geplante
Bebauung die für das vorgesehene Dorfgebiet maßgeblichen Immissionsrichtwerte der
TA Lärm (60/45 dB(A)) nicht überschritten werden. Nach der in dem Gutachten
enthaltenen Ausbreitungsberechnung dürfte am Vorhaben des Beigeladenen sogar in
etwa der Immissionsrichtwert für ein reines Wohngebiet (50 dB(A) tags) eingehalten
werden. Die Beurteilungspegel erhöhen sich nach der - ihrerseits schlüssigen und
nachvollziehbaren - ergänzenden Stellungnahme des Gutachters vom 31. Mai 2002
auch unter Berücksichtigung der von der Antragstellerin nach ihrem eigenen Vortrag
geplanten Betriebserweiterung auf 60 bis 65 Rinder nicht.
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Die Einwendungen der Antragstellerin gegen das Lärmgutachten sind gänzlich
unsubstantiiert geblieben. Sie hat sich darauf beschränkt, die Sachverhaltsannahmen
des Sachverständigen zu bestreiten, ohne jedoch ihrerseits den von ihr für zutreffend
gehaltenen Sachverhalt darzulegen. Beispielsweise fehlen jegliche Angaben über den
(zeitlichen) Umfang der allein lärmrelevanten mit dem Traktor ausgeführten Arbeiten.
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Demgegenüber fehlt eine brauchbare Grundlage für die Beurteilung der von dem
landwirtschaftlichen Betrieb der Antragstellerin auf das Vorhaben des Beigeladenen
ausgehenden Geruchsemissionen. Das Gutachten der FIRU - Forschungs- und
Informations- Gesellschaft für Fach- und Rechtsfragen in der Raum- und Umweltplanung
mbH von Februar 2002 kann hierfür nicht herangezogen werden, weil es auf einer
methodisch unzureichenden Grundlage erstellt wurde. Es basiert auf dem Entwurf der
VDI-Richtlinie 3474 - Emissionsminderung Tierhaltung Geruchsstoffe - vom März 2001.
Dieser Entwurf soll aufgrund erheblicher kritischer Anmerkungen - nicht zuletzt der
Landesumweltämter und des Bundesumweltamtes - in etlichen Punkten modifiziert
werden und als neuer Entwurf (Gründruck) vorgestellt werden.
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Vgl. Pressemitteilung des VDI vom 31. Oktober 2001.
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Zwar können Richtlinien des VDI - auch deren Entwürfe - grundsätzlich als brauchbarer
Anhalt für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Geruchseinwirkungen herangezogen
werden,
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vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1993 - 4 C 19.90 -, BRS 55 Nr. 175, Beschluss
vom 8. Juli 1998 - 4 B 38.98 -, BRS 60 Nr. 179 für die die Schweinehaltung betreffende
VDI-Richtlinie 3471; zur Eignung des Entwurfs der VDI-Richtlinie 3473
"Emissionsminderung Tierhaltung - Rinder" (Ausgabe 1994) als Anhalt für die
Bewertung der Zumutbarkeit von Immissionen der Rinderhaltung vgl. ferner: OVG NRW,
Beschluss vom 6. Mai 1996 - 7 B 846/96 - m.w.N..
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Das gilt jedoch nicht für den Entwurf einer Richtlinie, der - wie hier - auf Grund
erheblicher fachlicher Bedenken in dem Sinne "zurückgezogen" worden ist, dass er
grundlegend überarbeitet und sodann als neuer Entwurf veröffentlicht werden soll.
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Lässt sich danach nicht eindeutig feststellen, ob das Vorhaben des Beigeladenen
deswegen rücksichtslos ist, weil es sich unzumutbaren Geruchsimmissionen vom
Betrieb der Antragstellerin aussetzt, geht die Interessenabwägung hier zu Lasten der
Antragstellerin aus. Denn nach Einschätzung des Senats sind die Geruchsimmissionen
dem Beigeladenen jedenfalls bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens
zumutbar.
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Dabei legt der Senat die betriebliche Situation auf dem Grundstück der Antragstellerin
zugrunde, wie sie sich aus den in den Verwaltungsvorgängen und der Gerichtsakte
befindlichen Karten, Pläne, Photographien und Betriebsbeschreibungen ergibt. Danach
hält die Antragstellerin derzeit 20 bis 25 Galloway-Rinder, die sich in den Monaten
November bis März auf der an den T. weg angrenzenden Parzelle 55 aufhalten, im
übrigen auf außerhalb des Bebauungszusammenhangs gelegenen Weideflächen
stehen. Lediglich zum Abkalben stehen ganzjährig Kühe auf der Parzelle 55. Die Tiere
stehen ganzjährig im Freien, für die Wintermonate stehen ihnen auf der Parzelle 55 als
Witterungsschutz zwei Unterstände zur Verfügung. Dass die Rinder nur in den
Wintermonaten auf den Koppeln auf der Parzelle 55 stehen, hat die Antragstellerin
selbst im April 2001 gegenüber einem Sachverständigen angegeben und im Februar
2002 bestätigt.
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Auf die Erweiterungsabsichten der Antragstellerin kommt es nicht an. Denn mit welchen
landwirtschaftlichen Immissionen der Beigeladene zu rechnen hat, beurteilt sich
grundsätzlich auf der Grundlage der tatsächlichen betrieblichen Gegebenheiten im
Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung. Lediglich Veränderungen zugunsten des
Bauherrn - hier des Beigeladenen - nach Erlass der Baugenehmigung sind zu
berücksichtigen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. April 1996 - 4 B 54.96 -, BRS 58 Nr. 157.
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Bezüglich baulicher Nutzungen ist auf den vorhandenen Bestand und nicht auf
"Bewirtschaftungsmöglichkeiten" abzustellen. Denn bei der Beurteilung der
bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vorhabens ist im Außen- wie im
unbeplanten Innenbereich auf die im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt
vorhandenen Nutzungen abzustellen. Künftige tatsächliche Entwicklungen sind nicht zu
berücksichtigen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Juni 2003 - 4 B 14.03 -, ZfBR 2003, 695; OVG NRW,
Beschluss vom 10. November 2003 - 7 B 2180/03 -.
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Danach ist die von der Antragstellerin durch die Bauvoranfrage vom 10. September
2002 bekundete Absicht der Betriebserweiterung nicht zu berücksichtigen.
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Die Zumutbarkeit von Geruchsimmissionen für das Vorhaben des Beigeladenen hängt
davon ab, welchen Charakter die Umgebung des Vorhabens und des Betriebes der
Antragstellerin hat. Dabei kann hier allerdings offen bleiben, ob das Vorhaben des
Beigeladenen in einem (künftigen) Dorfgebiet, im Außenbereich oder im unbeplanten
Innenbereich an der Grenze zum Außenbereich liegt. Die Koppeln der Antragstellerin
befinden sich nach den genannten Unterlagen ersichtlich im Außenbereich. Auf die
"Stallgebäude", die lediglich offene Unterstände darstellen, in denen die Rinder nicht
gehalten werden, kommt es nicht an.
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In jedem Fall ist der Schutzanspruch des Vorhabens des Beigeladenen geringer als in
einem (allgemeinen oder reinen) Wohngebiet. In Dorfgebieten ist nach den rechtlichen
Vorgaben des § 5 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1990 auf die Belange u.a. der
landwirtschaftlichen Betriebe einschließlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten vorrangig
Rücksicht zu nehmen. Im Außenbereich sind landwirtschaftliche Betriebe privilegiert
zulässig. Darüber hinaus kommt eine Minderung des Schutzanspruchs von
Wohnbebauung auch dann in Betracht, wenn diese sich am Rand zum Außenbereich
befindet, da in einer solchen Situation im Grenzbereich unterschiedlicher Nutzungen
eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme besteht, die dazu führen kann, eine
innerhalb eines Wohngebiets nicht (mehr) zumutbare Beeinträchtigung hinnehmen zu
müssen. Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Dezember 1997 - 7 A 258/96 -, Beschluss vom
6. Mai 1996 - 7 B 846/96 -. In diesen Fällen ist - wie bei einem Aufeinandertreffen von
Baugebieten unterschiedlicher Schutzwürdigkeit - im Rahmen des
Rücksichtnahmegebots auch für Geruchsimmissionen eine Art von Mittelwert zu bilden,
der allerdings nicht das arithmetische Mittel zweier Richtwerte darstellt, sondern als
"Zwischenwert" unter Berücksichtigung der Ortsüblichkeit und der Umstände des
Einzelfalls die Zumutbarkeit bestimmt.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. September 1993 - 4 B 151.93 - BRS 55 Nr. 165.
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Baurechtlich genehmigte Wohnhäuser, die in unmittelbarer Nähe eines bereits
bestehenden landwirtschaftlichen Betriebes errichtet werden, sind regelmäßig
dahingehend vorbelastet, dass die dort Wohnenden bis zu einem gewissen Grad mit
den für die Landwirtschaft typischen Immissionen rechnen müssen.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - IV C 22.75 -, BRS 32 Nr. 155.
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Danach hält es der Senat für unwahrscheinlich, dass die von den auf der Koppel der
Antragstellerin stehenden Rindern ausgehenden Geruchsimmissionen für den
Beigeladenen nicht zumutbar sind. Zum Einen führt das Nebeneinander von am Rande
des bauplanungsrechtlichen Außenbereichs oder in einem Dorfgebiet gelegener
Wohnnutzung und Weidewirtschaft in der Regel nicht zu bewältigungsbedürftigen
Spannungen.
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Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2003 - 1 KN 1321/01 -, RdL 2003, 118.
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Im Falle der Freilandhaltung von Vieh werden Gerüche - anders als durch die
Wandöffnungen bei Ställen- nicht konzentriert an wenigen Punkten an die Umgebung
abgegeben, sondern entstehen verteilt über die gesamte Weidefläche (hier von etwa 1/2
ha) und zerstreuen sich bereits am Ort ihrer Entstehung. Zum Anderen stehen die Tiere
nach Angaben der Antragstellerin nur in der kalten Jahreszeit (November bis März) auf
den beiden hausnahen Koppeln, während in der übrigen Zeit der größte Teil der Tiere
auf entfernteren Weideflächen untergebracht ist. Lediglich Kühe stehen zum Abkalben
auch in den übrigen Monaten auf den beiden Koppeln. In der kalten Jahreszeit werden
aber die Außenbereiche eines Wohngrundstücks seltener genutzt und die Fenster eines
Wohnhauses seltener geöffnet. Schließlich ist die vorherrschende Windrichtung etwa
Südwest, während das Haus des Beigeladenen in mindestens 30 m Entfernung
nordwestlich bis westlich der Koppeln liegt, so dass Gerüche eher vom Haus des
Beigeladenen weggetrieben werden. Unter diesen Umständen spricht alles dafür, dass
die von der Rinderhaltung auf der Parzelle 55 ausgehenden Immissionen dem
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Beigeladenen jedenfalls bis zum Ende des Widerspruchsverfahrens zumutbar sind.
Die Kostenentscheidung erging nach § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1, § 20 Abs. 3 GKG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.
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