Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.10.2002

OVG NRW: religiöse erziehung, politische verfolgung, familie, anerkennung, bundesamt, anhörung, eltern, islam, inhaftierung, vergewaltigung

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 948/99.A
Datum:
23.10.2002
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 A 948/99.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 3 K 379/95.A
Tenor:
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Verwaltungsgerichts
Münster vom 4. Februar 1999 geändert. Die Ziffern 2. bis 4. des
Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 11. Januar 1995 sowie der Bescheid des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 26. März 1997
werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerinnen zu
4. und 5. als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass
hinsichtlich der Kläger zu 1. bis 5. die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG vorliegen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt die Beklagte zu 5/8,
die Kläger zu 3/8. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger zu 1. ist nach seinen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit und yezidischer Religionszugehörigkeit; er wurde am 8. März 1971
in Viransehir geboren. Die Klägerin zu 2., seine Ehefrau, ist nach ihren Angaben
ebenfalls Yezidin und wurde am 1. September 1966 in Viransehir geboren. Die Kläger
zu 3. bis 5. sind die in den Jahren 1993, 1995 und 1996 geborenen Kinder der Kläger zu
1. und 2.; die Klägerinnen zu 4. und 5. sind in Deutschland geboren.
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Die Kläger zu 1. bis 3. stellten durch anwaltliches Schreiben vom 7. November 1994
Asylanträge mit der Begründung, sie seien als Yeziden in der Türkei verfolgt worden; sie
seien auf dem Landweg nach Deutschland gelangt. Gleichzeitig legten sie türkische
Identitätskarten (nüfus) vor, in die als Geburtsort jeweils Viransehir und als
Religionszugehörigkeit "Islam" eingetragen war. Für die Kläger zu 4. und 5. stellten ihre
Eltern jeweils nach der Geburt Asylanträge.
3
In der Anhörung bei dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(Bundesamt) führte der Kläger zu 1. aus, seine Eltern seien 1970 aus dem Ort Geri Sirt
(türkisch: Kavurga) nach Viransehir umgezogen. Er habe vier Jahre lang, bis zu seinem
12. Lebensjahr, die Schule besucht. Anschließend habe er zwei Jahre lang in der
Forstwirtschaft gearbeitet und danach in einem Caféhaus als Kellner. Dort habe er sich
später als Mitinhaber eingekauft. 1990 habe er geheiratet.
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Die Klägerin zu 2. führte in der Anhörung aus, sie habe keine Schule besucht. Sie sei in
Viransehir geboren, habe aber zunächst bis zu ihrer Heirat in Geri Sirt gewohnt. Von
dort nach Viransehir gehe man zu Fuß eine Stunde.
5
Die Kläger zu 1. bis 3. überreichten zwei am 6. Dezember 1994 ausgestellte
Bescheinigungen des Pesimam J. E. über die yezidische Glaubenszugehörigkeit der
Kläger zu 1. und 2.
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Die Beklagte lehnte den Asylantrag der Kläger zu 1. bis 3. durch Bescheid vom 11.
Januar 1995 ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen und forderte die Kläger zu 1.
bis 3. unter Androhung der Abschiebung auf, innerhalb eines Monats nach
Unanfechtbarkeit des Bescheids auszureisen. Die behauptete yezidische
Religionszugehörigkeit der Kläger zu 1. bis 3. sei zweifelhaft. Diese hätten nur wenig
über ihre Religionspraxis sagen können; die vorgelegten Bescheinigungen seien als
wenig gewichtig einzustufen, weil bekannt sei, dass der Aussteller J. E. bei derartigen
Bescheinigungen sehr großzügig sei. Außerdem sei die Familie der Kläger in einem
Gutachten von Sternberg-Spohr als eine Familie benannt worden, die schon 1908 zum
Islam konvertiert sei und seither Yeziden unterdrückt habe. Auch die Eintragung der
Religionszugehörigkeit Islam in die Nüfen spreche gegen die behauptete Zugehörigkeit
zum Yezidentum. Schließlich seien Widersprüche in den Aussagen des Klägers zu 1.
gegenüber der Klägerin zu 2. festzustellen.
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Durch Schreiben vom 18. November 1996 wurden Asylanträge auch für die Klägerinnen
zu 4. und 5. gestellt, als Kinder der Kläger zu 1. und 2. in Deutschland im Juni 1995 und
November 1996 geboren. In einer Anhörung beim Bundesamt im Februar 1997 führte
der Kläger zu 1. aus, seine Eltern seien als Asylberechtigte anerkannt; er selbst habe
seinen Glauben in der Türkei aktiv ausgeübt; er habe an Zeremonien teilgenommen und
gefastet. Seine Kinder werde er ab dem 13. Lebensjahr in die Religion einführen, weil
dies so üblich sei. Für die Klägerinnen zu 4. und 5. legte er eine vom Pesimam L. D. am
14. Februar 1997 ausgestellte Bescheinigung über deren Religionszugehörigkeit vor.
Mit Bescheid vom 26. März 1997 lehnte die Beklagte die Asylanträge dieser
Klägerinnen ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen und forderte die Klägerinnen
zu 4. und 5. unter Androhung der Abschiebung auf, innerhalb eines Monats nach
Unanfechtbarkeit des Bescheids auszureisen. Die kurdische Volkszugehörigkeit
rechtfertige die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht. Die
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Klägerinnen zu 4. und 5. gehörten auch nicht der yezidischen Religionsgemeinschaft
an, weil dies schon für ihre Eltern nicht festgestellt werden könne. Die vorgelegte
Bescheinigung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit inhaltlich falsch. Der Bescheid wurde
dem Verfahrensbevollmächtigten der Klägerinnen zu 4. und 5. am 8. April 1997
zugestellt.
Gegen den an die Kläger zu 1. bis 3. gerichteten Bescheid vom 11. Januar 1995 haben
diese am 25. Januar 1995, gegen den die Klägerinnen zu 4. und 5. betreffenden
Bescheid vom 26. März 1997 haben diese 19. April 1997 Klage erhoben. Beide
Verfahren sind durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Januar 1998 zu
gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
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In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger zu 1.
ausgeführt, er habe sich in der Türkei nicht politisch betätigt, doch hätten die Gäste in
seinem Cafe den Tee auf den Boden geschüttet, als sie erfahren hätten, dass er Yezide
sei. Die Klägerin zu 2. hat angegeben, die muslimischen Nachbarn hätten ihre Ehre
beschmutzt und ihr vorgeworfen, sie mache das Wasser an der Quelle unrein; sie habe
zur Konversion gezwungen werden sollen. Die Soldaten hätten Strafanzeigen nicht
entgegengenommen.
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Die Kläger haben beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 11. Januar 1995 und 26. März 1997 zu verpflichten, die
Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen sowie die in den Bescheiden des Bundesamtes
enthaltenen Abschiebungsandrohungen aufzuheben.
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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
14
Durch Urteil vom 4. Februar 1999, zugestellt am 12. Februar 1999, hat das
Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Kläger seien unverfolgt ausgereist;
wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit müssten sie politische Verfolgung nicht
befürchten. Auch sei nicht anzunehmen, dass sie glaubensgebundene Yeziden seien,
da weder der Kläger zu 1. noch die Klägerin zu 2. die Frage nach dem Schicksal der
Seele nach dem Tode oder danach, wer bei der Totenwaschung dabei sei, richtig
beantwortet hätten.
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Auf die am 26. Februar 1999 gestellten Anträge des Klägers und seiner Familie hat der
Senat die Berufung hinsichtlich der Klägerinnen zu 4. und 5. in vollem Umfang,
hinsichtlich der Kläger zu 1. bis 3. beschränkt auf die Anträge zu § 51 Abs. 1 und § 53
AuslG durch Beschluss vom 9. Februar 2001 zugelassen, im Übrigen die
Zulassungsanträge abgelehnt.
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Zur Begründung ihrer Berufung verweisen die Kläger auf ein Gutachten des
Sachverständigen Azad Baris vom 24. August 2000, das in einem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Münster betreffend u.a. Frau T. Q. , nach Angaben des Klägers zu 1.
eine seiner Schwestern (7 K 2779/95.A), erstellt worden ist. Darin erwähnt der Gutachter
das Dorf Gire Sirt als gemischt-yezidisches Dorf, nennt die dort ansässigen yezidischen
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Familien und Sippen (S. 6) und führt aus, dass nur ein Teil der Familie des Klägers zu 1.
zum Islam übergetreten sei. Ein anderer Teil halte am yezidischen Glauben fest (S. 13,
18).
Der Kläger zu 1. ist mit Urteil des Landgerichts Münster vom 14. Oktober 1999 zu einer
Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Vergewaltigung verurteilt worden.
Er ist im Januar 2002 unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung entlassen
worden. Durch Ordnungsverfügung vom 30. Januar 2001 hat die Stadt Bocholt seine
Ausweisung angeordnet.
18
Die Kläger beantragen,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 4. Februar 1999 zu ändern und die
Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2. bis 4. des Bescheids des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11. Januar 1995 und unter Aufhebung des
Bescheids vom 26. März 1997 zu verpflichten, die Klägerinnen zu 4. und 5. als
Asylberechtigte anzuerkennen, festzustellen, dass hinsichtlich der Kläger 1. bis 5. die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, hilfsweise festzustellen, dass
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG für die Kläger 1. bis 5. vorliegen.
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Die Kläger zu 1. und 2. sowie der Zeuge J. E. sind in der mündlichen Verhandlung am
23. Oktober 2002 angehört worden. Auf die Niederschrift vom 23. Oktober 2002 wird
Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird
Bezug genommen auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens und auf die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für die Kläger. Außerdem sind die Akten der
Staatsanwaltschaft Münster 29 Js 227/99 sowie das Vollstreckungsheft 29 VRs 7/00
betreffend den Kläger zu 1. beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden.
21
Entscheidungsgründe:
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Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Berichterstatter an Stelle des Senats
entscheiden (§ 87a Abs. 2, 3 VwGO); es konnte zur Sache verhandelt und entschieden
werden, obwohl kein Vertreter der Beklagten erschienen war, da diese mit der Ladung
auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO). Der
Bundesbeauftragte für Asyl hat allgemein auf Ladung verzichtet.
23
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Kläger ist,
soweit sie zugelassen worden ist, begründet. Die Klage ist im noch anhängigen Umfang
zulässig und begründet. Die Ziffern 2. bis 4. des Bescheids des Bundesamtes vom 11.
Januar 1995 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger zu 1. bis 3. in ihren Rechten. Die
Kläger zu 1. bis 3. können die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§ 51 Abs. 1
AuslG, dazu 1.) verlangen. Der Bescheid des Bundesamtes vom 26. März 1997 ist in
vollem Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen zu 4. und 5. in ihren Rechten.
Die Klägerinnen zu 4. und 5. können die Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16 a GG,
dazu 2.) und die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§ 51 Abs. 1 AuslG, dazu
1.) verlangen. Die genannten Bescheide des Bundesamtes sind im beantragten Umfang
aufzuheben (dazu 3.).
24
1. Die Kläger zu 1. bis 5. haben einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG in ihrer Person. Ihnen droht in der Türkei politische Verfolgung,
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denn sie sind praktizierende Yeziden; ein Ausweichen innerhalb der Türkei ist ihnen
nicht zumutbar.
Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in
dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,
seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner
politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen dieser Norm sind
deckungsgleich mit denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit es
die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung betrifft.
26
BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843; Urteil vom 26.
Oktober 1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 (503); Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C
48.92 -, NVwZ 1994, 497 (498 ff.).
27
Auch im Rahmen des streitigen Abschiebungsschutzbegehrens ist deshalb von
denjenigen Grundsätzen auszugehen, die für die Auslegung des Art. 16 a Abs. 1 GG
gelten. Danach ist u.a. derjenige politisch Verfolgter, der in Anknüpfung an seine
religiöse Grundentscheidung gezielten Rechtsverletzungen ausgesetzt ist, die ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen. Dabei kann sich die Gefahr der politischen Verfolgung auch daraus
ergeben, dass der Asylsuchende Mitglied einer durch gemeinsame Merkmale
verbundenen Gruppe ist, gegen deren Mitglieder sich derartige Rechtsverletzungen
richten; die Rechtsverletzungen müssen nicht von staatlichen Stellen, sondern können
auch von Privatpersonen ausgehen.
28
Vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen OVG NRW, Urteil vom 24. November 2000 -
8 A 902/96.A -, S. 9ff. m.w.N.; Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, A II. m.w.N.
29
In Anwendung dieser Maßstäbe und unter Auswertung des zur Verfügung stehenden
Erkenntnismaterials geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ihren
Glauben praktizierende Yeziden jedenfalls in ihren angestammten Siedlungsgebieten in
der Türkei einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer
Religionszugehörigkeit ausgesetzt sind und dass sie in anderen Landesteilen der
Türkei keine inländische Fluchtalternative vorfinden. Diese Einschätzung beruht auf der
Annahme, dass Yeziden mit erkennbarer religiöser Bindung in der Südosttürkei wegen
ihrer Religionszugehörigkeit in einem Klima allgemeiner religiöser und
gesellschaftlicher Verachtung leben und einer Vielzahl von Verfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt sind, die in Relation zu der Anzahl der noch in ihren Siedlungsgebieten
verbliebenen Yeziden für jedes Mitglied dieser Bevölkerungsgruppe die Gefahr
begründen, jederzeit zum Ziel und Opfer von religiös motivierten Rechtsverletzungen
werden zu können, ohne dass der türkische Staat bereit wäre, die ihm zur Verfügung
stehenden Machtmittel zum Schutz der Yeziden einzusetzen.
30
OVG NRW, Urteile vom 24. November 2000 - 8 A 902/96.A -, S. 13 ff., 23 ff. m.w.N.; - 8 A
4/99.A -; 8 A 244/97.A -.
31
Von der Gefahr politischer Verfolgung sind nur glaubensgebundene (praktizierende)
Yeziden betroffen. Deshalb bedarf es in jedem Einzelfall der positiven Feststellung,
dass der Asylsuchende Yezide ist und seinen Glauben praktiziert.
32
OVG NRW, Urteile vom 24. November 2000 - 8 A 902/96.A -, S. 28 ff. m.w.N.; - 8 A
4/99.A -; - 8 A 244/97.A -.
33
Für die Kläger können diese Feststellungen getroffen werden.
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Die Kläger zu 1. und 2. stammen aus Giresirt und damit aus einem Ort, der nach den
vorliegenden Erkenntnissen von Yeziden und Muslimen besiedelt wurde.
35
Wießner, Auskunft vom 30. Juni 1997 an VG Hannover; Baris, Gutachterliche
Stellungnahme vom 18. Dezember 2000 an VG Hannover.
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Die Äußerungen der Kläger zu 1. und 2. hierzu sind im Kern glaubhaft. Zwar hat der
Kläger zu 1. im Rahmen der ersten Anhörung bei dem Bundesamt (S. 6 des Protokolls)
möglicherweise - der protokollierten Formulierung ist dies indes nicht mit letzter Klarheit
zu entnehmen - ausgeführt, bei dem Ort Giresirt handle es sich um einen rein yezidisch
besiedelten Ort, während seine Ehefrau zutreffend darauf hingewiesen hat, der Ort sei
gemischt besiedelt. Es spricht jedoch viel dafür, dass der Kläger zu 1. sich mit seiner
Angabe geirrt hat. Denn er ist nicht im Herkunftsort seiner Eltern aufgewachsen, sondern
nur sehr viel später besuchsweise dort gewesen, während seine Ehefrau bis zu ihrer
Heirat mit dem Kläger zu 1. dort aufgewachsen ist. Auch ist angesichts des auf die
Yeziden von Seiten der muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgeübten
Migrationsdrucks nicht auszuschließen, dass sich die Bevölkerungsstruktur des Ortes im
Laufe von Jahrzehnten stark verändert hat und dass der Ort zwar früher rein yezidisch,
inzwischen aber gemischt besiedelt ist. Für die Herkunft der Kläger zu 1. und 2. aus
Giresirt spricht schließlich, dass nach dem bereits zitierten Gutachten von Baris der
Stamm der Xalti, dem die Familie der Klägers zu 1. und 2. zuzuordnen ist, in mehreren
Sippen in Giresirt gesiedelt hat und dass auch der Zeuge E. die Herkunft sowohl der
Familie des Klägers zu 1. als auch derjenigen seiner Ehefrau aus Giresirt aus eigener
Kenntnis bestätigt hat; es besteht kein Anlass, diese Angabe des Zeugen E. in Zweifel
zu ziehen.
37
Der Kläger zu 1. und seine Ehefrau sind zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor
dem Berufungsgericht als praktizierende Yeziden einzustufen. Ihre Angaben in den
Anhörungen beim Bundesamt und in den mündlichen Verhandlungen vor dem
Verwaltungsgericht und vor dem Berichterstatter lassen in ihrer Gesamtheit erkennen,
dass die Kläger über das Bewusstsein verfügen, in der hierarchisch strukturierten
yezidischen Glaubensgemeinschaft einen festen Platz innezuhaben, dass sie sich zu
der aus religiösen Gründen bestehenden Notwendigkeit bekennen, regelmäßigen
Kontakt zu religiösen Führern aufrechtzuerhalten und dies auch praktizieren und dass
sie über hinreichende Kenntnisse von Glaubensinhalten verfügen.
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Die Kläger zu 1. und 2. haben schon in der Anhörung bei dem Bundesamt zum
Ausdruck gebracht, dass sie sich des Umstands bewusst sind, als Muriden in einer
hierarchisch strukturierten Glaubensgemeinschaft zu leben; beide konnten die wichtigen
anderen "Kasten" und ihre Funktionen - Scheich, Pesimam, Pir usw. - bezeichnen und
die für sie zuständigen Funktionsträger namentlich benennen. Sie waren auch in der
Lage, ihre eigene Stellung als Muriden innerhalb dieses Systems und die damit
verbundenen Aufgaben zu beschreiben, vor allem das Erfordernis, in regelmäßigen
Abständen religiöse Unterweisung durch einen Scheich zu empfangen und ihre Kinder
religiös zu erziehen. Außerdem war ihnen die Problematik der Zuständigkeit eines
geistlichen Amtsträgers für Muriden-Familien bewusst und die Schwierigkeiten, die das
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Leben im Exil in diesem Zusammenhang bereitet. Schließlich haben sie seit der ersten
Anhörung und bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht einen
hinreichenden - im Vergleich zu anderen vom Senat entschiedenen Fällen teilweise
überdurchschnittlichen - Grundbestand an Wissen über Glaubensinhalte zum Ausdruck
gebracht.
Diese Feststellung wird durch den Umstand, dass sie nicht alle ihnen gestellten Fragen
beantworten konnten, nicht in Frage gestellt. Denn zum einen darf von den Klägern als
Muriden nicht ein Wissen erwartet werden, das in einer durch mündliche Überlieferung
geprägten Religionsgemeinschaft ohne einen bis in Einzelheiten feststehenden Kanon
an Glaubenssätzen und religiösen Alltagsgebräuchen allenfalls die Angehörigen der
"lehrenden" Kasten - Scheich, Pir - aufweisen können. Zum anderen lässt sich den
Äußerungen der Kläger zu 1. und 2. entnehmen, dass sie über die grundlegenden
yezidischen Glaubensinhalte und Gebräuche - Gebete, Fasten, Anbetung von Melek
Taus, yezidische "Taufe", Vorhandensein von Tabus - so weit informiert sind, dass
ihnen die Führung eines auch im Alltag vom yezidischen Glauben bestimmten Lebens
möglich ist. Dass die Angaben des Klägers zu 1. von denjenigen seiner Ehefrau in
Einzelheiten abweichen, ist angesichts der Besonderheiten der yezidischen Religion
unschädlich, da von diesen Abweichungen keine zentralen Glaubensinhalte betroffen
sind. Auch der Umstand, dass die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung
vor dem Verwaltungsgericht nicht alle Fragen zur Totenwaschung "richtig" beantwortet
haben, spricht nicht gegen ihre Einstufung als praktizierende Yeziden, weil auch zu
diesem Thema kein allgemein feststehendes Wissen erwartet werden kann. In den
verfügbaren Quellen zum yezidischen Glauben besteht keine Übereinstimmung bei der
Frage, welche Personen bei dieser Zeremonie anwesend sein müssen. Die Einstufung
eines Asylsuchenden als praktizierender Yezide von seiner Antwort auf Fragen zu
diesem Thema abhängig zu machen entspricht deshalb nicht der ständigen
Rechtsprechung des Senats.
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OVG NRW, Urteil vom 24. November 2000 - 8 A 4/99.A -, S. 35-42; vgl. die
unterschiedlichen Angaben in: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Die Yeziden, März 1992, S. 21 (Scheich, Pir, Bruder der Anderen Welt) und Düchting /
Ates, Stirbt der Engel Pfau? Geschichte, Religion und Zukunft der Yezidi-Kurden, 1992,
S. 150 (auch der Murebbi muss anwesend sein).
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Schließlich kann auch nicht pauschal angenommen werden, dass alle Mitglieder der
Familie Seyrek im Jahre 1908 zum Islam übergetreten sind und dass infolgedessen kein
Familienmitglied mehr dem yezidischen Glauben angehört. Die diesbezügliche
gutachterliche Äußerung von Sternberg-Spohr wird zur Überzeugung des Gerichts
durch neuere Erkenntnisse widerlegt und entspricht in ihrer Pauschalität auch nicht der
Grundannahme, dass die Beibehaltung des yezidischen Glaubens eine
höchstpersönliche Entscheidung ist, die jeder Betroffene für sich und seine nach dieser
Entscheidung von ihm religiös geprägten Nachkommen fällen muss. Selbst wenn also
einzelne Personen und damit möglicherweise auch einzelne Nachkommen aus der
Großfamilie des Klägers zu 1. sich dem Islam zugewandt haben sollten, kann ohne
nähere Erkenntnisse dazu, ob der Vater und Großvater des Klägers zu 1. zu diesen
Personen gehört hat, nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger dem
yezidischen Glauben nicht mehr zugehören könne.
42
Zur Großfamilie des Klägers zu 1.: Sternberg- Spohr, Bestandsaufnahme der
Restbevölkerung der Volksgruppen der kurdischen Yezidi, März 1993, Aktualisierung
43
Oktober 1993, S. 13; demgegenüber Baris, Gutachterliche Stellungnahme vom 18.
Dezember 2000 an VG Hannover, S. 8 Fußnote 2 (Familie des Klägers zu 1. als
yezidische Familie in Viransehir namentlich genannt); ebenso Baris, Gutachterliche
Stellungnahme vom 24. August 2000 an VG Münster (zu einer Schwester des Klägers
zu 1.), S. 13, 18.
Für den Senat von entscheidender Bedeutung ist es vielmehr, dass die Kläger zu 1. und
2. deutlich gemacht haben, dass sie auch im Alltag und in der Erziehung ihrer Kinder ein
von Glaubenssätzen geprägtes Leben führen. Dies ergibt sich aus den Einlassungen
der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung vor dem Berichterstatter, aus den
Bekundungen des Zeugen E. sowie aus Angaben von Auskunftspersonen im Umfeld
der Justizvollzugsanstalt Münster, in der der Kläger zu 1. eine Haftstrafe verbüßt hat.
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Der Kläger zu 1. hat auch innerhalb der Justizvollzugsanstalt - mithin in einer Situation,
die für die Ausübung einer gemeinschaftsbezogenen Religion wie dem Yezidentum
ungünstig ist - versucht, seinen yezidischen Glauben im Rahmen des Möglichen zu
leben. Er hat Kontakte zu anderen yezidischen Häftlingen - darunter einem Scheich -
gepflegt und versucht, eine Zusammenlegung der Yeziden in der Haftanstalt zu
erreichen. Er hat darüber hinaus intensive Gespräche über religiöse Fragen mit dem
Gefängnisgeistlichen geführt. Sein Interesse am christlichen Glauben kann nach seinen
eigenen Angaben, dem Zeugnis seines Pesimams und dem Eindruck des vom
Berichterstatter befragten Geistlichen nicht als Abwendung vom yezidischen Glauben
gewertet werden, sondern ist ein Indiz dafür, dass er sich während der Zeit seiner
Inhaftierung religiösen Fragestellungen genähert hat. Dass eine Abwendung vom
yezidischen Glauben damit nicht verbunden war, ergibt sich insbesondere aus dem
Umstand, dass die Familie des Klägers zu 1. in derartige Gespräche eingebunden war
und dabei dem Gefängnisgeistlichen gegenüber offenbar sehr deutlich gemacht hat,
dass die yezidische Glaubenspraxis der Familie nicht gefährdet werden dürfe. Die
Angaben des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung sind überzeugend, weil er
an keiner Stelle sein Interesse für den christlichen Glauben negiert hat, obwohl ihm klar
gewesen ist, dass dieser Aspekt zu Zweifeln am Festhalten an dem yezidischen
Glauben Anlass geben könnte.
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Die Klägerin zu 2. hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Berichterstatter
überzeugend dargelegt, wie sie die Aufrechterhaltung der Glaubensregeln auch
während der Zeit der Inhaftierung ihres Ehemannes sicherzustellen versucht hat. Sie hat
- obwohl sie offensichtlich Hemmungen hatte, dem Gericht gegenüber umfassend
Auskunft zu geben - nach anfänglicher Zurückhaltung im Verlauf der Befragung
detailliert geschildert, wie sie die religiöse Erziehung ihrer Kinder unter
Berücksichtigung deren Erkenntnismöglichkeiten verwirklicht und dass sie für sich
selbst und ihre Kinder eine verstärkte religiöse Betreuung während der Zeit der
Abwesenheit ihres Ehemannes erfahren hat. Sie hat damit in nachvollziehbarer Weise
glaubhaft gemacht, dass sie die Einbindung in die yezidische Glaubensgemeinschaft
als Grundbedürfnis ihrer Existenz ansieht und dass sie diese Haltung auch ihren
Kindern vermittelt hat.
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Die Einstufung der Kläger zu 1. und 2. als praktizierende Yeziden hat angesichts des
von diesen Klägern zur religiösen Erziehung der Kläger zu 3. bis 5. Ausgeführten zur
Folge, dass auch diese als praktizierende Yeziden bei einer Rückkehr in die Türkei
verfolgungsgefährdet sind. Dabei kann die Frage offen bleiben, ab welchem Alter
welches Wissen im Einzelnen von einem yezidisch erzogenen Kind verlangt werden
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kann. Die Angaben der Kläger zu 1. und 2. zeigen nämlich in glaubhafter Weise, dass
sie sich mit der Problematik einer religiösen Kindererziehung aus der Sicht der Eltern
intensiv beschäftigt haben und dass sie versucht haben, alles, was sie für möglich
gehalten haben, auch umzusetzen. Auch der Umstand, dass die Eltern sich bei dieser
Frage offenbar nicht vollkommen einig sind - so hat der Kläger in der Anhörung beim
Bundesamt ausgeführt, die religiöse Erziehung setze eigentlich erst mit 13 Jahren ein,
während seine Ehefrau sich vor dem Berichterstatter differenzierter geäußert hat -,
spricht nicht gegen diese Einschätzung. Dies gilt schon deshalb, weil die religiöse
Erziehung der Kläger zu 3. bis 5. jedenfalls während der Inhaftierung des Klägers zu 1.
in der Hand der Klägerin zu 2. gelegen hat. Doch auch unabhängig davon hat sich die
Klägerin zu 2. zur Frage der religiösen Erziehung - gemessen an ihren intellektuellen
Fähigkeiten - so differenziert geäußert, dass das Geircht der Überzeugung gewonnen
hat, dass die Kläger zu 3. bis 5. seit Jahren in alle für sie relevanten religiös motivierten
Gebräuche und in erste Glaubensinhalte eingeführt werden, soweit diese für sie schon
verständlich sind.
Den von den Klägern vorgelegten Glaubensbescheinigungen ist vor diesem
Hintergrund keine besondere Bedeutung zuzumessen. Der Umstand, dass zahlreiche
derartige Bescheinigung inhaltlich falsch sein dürften, rechtfertigt nicht die Annahme,
dass alle von den Ausstellern E. und D. stammenden Bescheinigungen falsch seien und
damit der Umkehrschluss begründet sei, dass die in jenen Bescheinigungen genannten
Personen keine Yeziden seien. Auch der Umstand, dass die Kläger Bescheinigungen
von zwei verschiedenen Ausstellern beigebracht haben, obwohl nur ein Pesimam für sie
zuständig sein kann, spricht nicht gegen die Richtigkeit der Bescheinigungen; der
Kläger zu 1. hat diesen Umstand nachvollziehbar damit erklärt, ihm sei im Bundesamt in
Dortmund gesagt worden, eine Bescheinigung von Herrn E. werde man nicht
akzeptieren, weil die von E. ausgestellten Bescheinigungen nicht zuverlässig seien.
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§ 51 Abs. 3 Satz 1 AuslG steht dem Anspruch des Klägers zu 1. auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in seiner Person nicht entgegen. Zwar ist der
Kläger zu 1. wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs
Monaten verurteilt worden, doch ist - nachdem er 33 Monate dieser Freiheitsstrafe
verbüßt hat und unter Aussetzung des Strafrests auf Bewährung im Januar 2002
entlassen worden ist - die Prognose nicht gerechtfertigt, der Kläger zu 1. stelle aus
schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland oder eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Aus dem Beschluss des
Landgerichts Münster vom 7. Januar 2002 - StVK 474/01, StA Münster, 29 Vrs 7/00 -
ergibt sich vielmehr, dass eine Erprobung des Klägers zu 1. in Freiheit auch unter
Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit verantwortet werden
kann, eine Wiederholungsgefahr daher nicht besteht.
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2. Die Klägerinnen zu 4. und 5. haben einen Anspruch auf Anerkennung als
Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 GG. Sie müssen aus den oben dargestellten
Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, in der Türkei als Yeziden Opfer
einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung zu werden.
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3. Die nach den vorstehenden Ausführungen gebotene Aufhebung der Bescheide des
Bundesamtes betrifft die Ziffern 2. bis 4. des Bescheids vom 11. Januar 1995 (Kläger zu
1. bis 3.) sowie den Bescheid vom 26. März 1997 (Klägerinnen zu 4. und 5.) insgesamt,
weil die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 im Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) insoweit nicht vorlagen. Die Ziffer 1. des
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Bescheids vom 11. Januar 1995 ist nicht betroffen, weil die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts zum Anspruch der Kläger zu 1. bis 3. auf Anerkennung als
Asylberechtigte rechtskräftig ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b
AsylVfG. Die Klägerinnen zu 3. und 4. - auf die ein Viertel des gesetzlichen
Gegenstandswerts des Verfahrens entfallen - haben in beiden Instanzen in vollem
Umfang obsiegt, während die Kläger zu 1. bis 3. mit dem Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigte unterlegen sind. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der
Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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