Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.1999

OVG NRW: behandlung, ermittlungsverfahren, aufbewahrung, beteiligter, verfügung, wiederholungsgefahr, straftat, kreis, nötigung, interessenabwägung

Oberverwaltungsgericht NRW, 5 B 1785/99
Datum:
24.11.1999
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 B 1785/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 6 L 966/99
Tenor:
Der Antrag des Antragstellers auf Zulassung der Beschwerde gegen den
Beschluss des Verwaltungsgerichts Aachen vom 23. September 1999
wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 4.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag des Antragstellers auf Zulassung der Beschwerde hat keinen Erfolg.
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1. Die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der
verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO)
sind nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Recht abgelehnt. Die
gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem privaten Interesse
des Betroffenen, von der sofortigen Vollziehung bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an rascher
Durchsetzung der Anordnung, erkennungsdienstliche Maßnahmen zu dulden, fällt zu
Lasten des Antragstellers aus.
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Die angefochtene Verfügung vom 19. August 1999 leidet nicht an offensichtlichen
Rechtsfehlern, die das öffentliche Interesse an ihrem sofortigen Vollzug von vornherein
ausschließen würden. Es spricht vielmehr nach der im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung vieles dafür, dass die
Anordnung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen im Hauptsacheverfahren Bestand
haben wird. Die vom Antragsteller gerügte Verletzung der Anhörungspflicht nach § 28
VwVfG NRW ist jedenfalls deshalb unbeachtlich, weil die Anhörung vor Abschluss des
Vorverfahrens nachgeholt worden ist und der Antragsgegner zu dem Vorbringen des
Antragstellers eingehend Stellung genommen hat (§ 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG
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NRW). Die Verfügung des Antragsgegners findet ihre Rechtsgrundlage in § 81 b, 2.
Alternative StPO. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten
auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an
ihm vorgenommen werden, soweit dies für Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig
ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts werden
erkennungsdienstliche Unterlagen nach § 81 b, 2. Alternative StPO nicht für Zwecke
eines gegen den Betroffenen gerichteten oder irgendeines anderen konkreten
Strafverfahrens erhoben. Ihre Anfertigung, Aufbewahrung und systematische
Zusammenstellung in kriminalpolizeilichen Sammlungen dient nach ihrer gesetzlichen
Zweckbestimmung vielmehr der vorsorgenden Bereitstellung von sächlichen Hilfsmitteln
für die Erforschung und Aufklärung von Straftaten. Ein unmittelbarer
Zweckzusammenhang zwischen der Beschuldigteneigenschaft des Betroffenen und
den gesetzlichen Zielen der Aufnahme und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen
Unterlagen nach § 81 b, 2. Alternative StPO besteht nicht. Dass eine
erkennungsdienstliche Behandlung nach dieser Vorschrift nur gegen einen
Beschuldigten angeordnet werden darf, besagt lediglich, dass die Anordnung der
erkennungsdienstlichen Behandlung nicht an beliebige Tatsachen anknüpfen und zu
einem beliebigen Zeitpunkt ergehen kann, sondern dass sie aus einem konkret gegen
den Betroffenen als Beschuldigten geführten Strafverfahren hervorgehen und jedenfalls
auch aus den Ergebnissen dieses Verfahrens die gesetzlich geforderte Notwendigkeit
der erkennungsdienstlichen Behandlung herleiten muss.
BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1982 - 1 C 29.79 -, BVerwGE 66, 192 = DÖV 1983, 378
= NVwZ 1983, 772; Urteil vom 6. Juli 1988 - 1 B 61.88 -, Buchholz 306 § 81 b StPO Nr. 1
= NJW 1989, 2640.
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Die Notwendigkeit der Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen
Unterlagen bemisst sich danach, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen
gerichteten Ermittlungs- oder Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach
kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere
angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen zur Last
gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums,
während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist -
Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig mit guten Gründen als
Verdächtiger in den Kreis potenzieller Beteiligter an einer strafbaren Handlung
einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann
zu führenden Ermittlungen fördern könnten, indem sie den Betroffenen überführen oder
entlasten.
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Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juli 1988 - 1 B 61.88 -,
Buchholz 306, § 81 b StPO Nr. 1 m.w.N.
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Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG),
der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der präventive Charakter
der erkennungsdienstlichen Maßnahmen verlangen eine Abwägung zwischen dem
öffentlichen Interesse an einer effektiven Verhinderung und Aufklärung von Straftaten
und dem Interesse des Betroffenen, entsprechend dem Menschenbild des
Grundgesetzes nicht bereits deshalb als potenzieller Rechtsbrecher behandelt zu
werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder angezeigt worden ist.
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Vgl. Senatsurteile vom 25. Juni 1991 - 5 A 1257/90 - und vom 29. November 1994 - 5 A
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2234/93 -; Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 1994 - 5 B 2686/93 - und vom 16. Oktober
1996 - 5 B 2205/96 - .
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung nicht zu beanstanden. Auf die zutreffenden Ausführungen des
Verwaltungsgerichts, die durch das Antragsvorbringen nicht entkräftet worden sind, wird
zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. Gegen den Antragsteller ist ein
staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von
Schutzbefohlenen bzw. wegen sexueller Nötigung anhängig. Er ist verdächtig, am 7.
August 1999 an einer in seiner Anwaltskanzlei seinerzeit angestellten 17-jährigen
Auszubildenden sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben. Aufgrund der
Zeugenaussage der Betroffenen und den ergänzenden Angaben ihrer Mutter bestehen
hinreichende Verdachtsmomente gegen den Antragsteller, die durch dessen Einlassung
und die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen nicht ausgeräumt sind. Der
Antragsteller bestreitet im Kern nicht den von der Betroffenen in ihrer
Zeugenvernehmung geschilderten Sachverhalt, meint aber, der "Vorfall" sei von der
Betroffenen falsch verstanden worden. Er habe sich zu der Betroffenen besonders
hingezogen gefühlt und ihr Avancen gemacht. Das Tatgeschehen müsse angesichts
seines freizügigen Umgangs mit Körperlichkeit allen Angestellten in der Kanzlei
gegenüber in einem anderen Licht gesehen und als strafrechtlich unerheblich gewertet
werden. Es wird Aufgabe des anhängigen staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungsverfahrens und des sich gegebenenfalls anschließenden
Strafgerichtsverfahrens sein, die Tatumstände im Einzelnen zu klären. Bei der im
vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung erweisen sich jedenfalls die
Angaben der Betroffenen nicht als von vornherein unglaubhaft und aus der Luft
gegriffen. Mit seiner Einlassung hat der Antragsteller wesentliche Teile der Aussage der
Betroffenen bestätigt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten
eidesstattlichen Versicherungen von Mitarbeiterinnen des Antragstellers. Sämtliche
eidesstattlichen Versicherungen enthalten keine Angaben zum eigentlichen
Tatgeschehen, sondern lediglich Mutmaßungen, ob die Angaben der Betroffenen
glaubhaft und die vorgeworfenen Handlungen dem Antragsteller zuzutrauen sind.
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Der Antragsteller ist ferner im Jahre 1995 vom Landgericht A. ( ) wegen Nötigung zu
einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden.
Der dieser Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt wies, wie das
Verwaltungsgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat, Parallelen auf zu dem
Tatvorwurf im derzeit laufenden Ermittlungsverfahren. Die strafgerichtliche Verurteilung,
das derzeit gegen den Antragsteller geführte Ermittlungsverfahren sowie die
verharmlosenden, den entgegenstehenden Willen der betroffenen Frauen als
Einverständnis deutenden Einlassungen des Antragstellers begründen hinreichende
Anhaltspunkte für die Annahme, der Antragsteller könne mit guten Gründen als
Verdächtiger in den Kreis potenzieller Beteiligter noch aufzuklärender einschlägiger
Handlungen einbezogen werden. Die zu erstellenden erkennungsdienstlichen
Unterlagen sind auch geeignet, potenzielle zukünftige Straftaten, insbesondere in
Sachzusammenhängen, wie sie beim Antragsteller relevant geworden sind, aufklären
zu helfen, indem sie zur Feststellung oder zum Ausschluss einer Tatbeteiligung
beitragen können. Dass in den bisherigen Ermittlungsverfahren die Identität des
Antragstellers nicht zweifelhaft war, schließt nicht aus, dass der Antragsteller zukünftig
eine Tat begehen könnte, die eine Ermittlung und Identifizierung des Täters durch die
Polizei erfordert.
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Bei der weiteren, über die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren hinausgehenden
Interessenabwägung überwiegt ebenfalls das öffentliche Interesse. Im Rahmen dieser
Abwägung sind insbesondere die Schwere und Begehungsweise des Delikts, der
Umfang des Schadens für die geschützten Rechtsgüter und für die Allgemeinheit, die
Wiederholungsgefahr, die Schwierigkeit bei der Aufklärung des in Rede stehenden
Deliktstyps, die Konkretisierung des gegen den Beschuldigten gerichteten Verdachts
sowie die Häufigkeit der Fälle, in denen der Betroffene einer Straftat verdächtigt worden
ist, zu berücksichtigen.
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Vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 1994 - 5 B 2686/93 - und 16. Oktober 1996 - 5 B
2205/96 -.
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Der vom Antragsgegner beabsichtigte Grundrechtseingriff ist zwar gravierend, aber dem
Antragsteller zuzumuten, da eine Wiederholungsgefahr angesichts des dem
Antragsteller zur Last gelegten Verhaltens - auch bereits für die Dauer eines eventuellen
Hauptsacheverfahrens - keineswegs auszuschließen ist. Der Antragsteller steht im
Verdacht, dass er sich auch durch eine strafrechtliche Verurteilung nicht hat abhalten
lassen, eine weitere Straftat vergleichbaren Deliktscharakters begangen zu haben.
Zudem kann die Aufklärung von Straftaten der in Rede stehenden Art ohne
erkennungsdienstliche Unterlagen erschwert sein.
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2. Auch die Rüge besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten der
Rechtssache (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) bleibt ohne Erfolg.
Dahinstehen kann, ob Rechtssachen mit tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten
solche sind, die voraussichtlich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht größere, d.h.
überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende
Schwierigkeiten verursachen,
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vgl. etwa Schenke, NJW 1997, 81, 91,
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oder solche, deren Schwierigkeiten sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren,
sondern erst in einem Beschwerdeverfahren klären und entscheiden lassen.
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Vgl. etwa Seibert, DVBl. 1997, 932, 935.
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Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, liegt - bezogen auf das hier zu
beurteilende vorläufige Rechtsschutzverfahren - keine dieser Alternativen vor; die
Schwierigkeiten dieses Verfahrens bewegen sich vielmehr im Rahmen eines normalen
Maßes und lassen sich ohne weiteres im vorliegenden Zulassungsverfahren klären.
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3. Die Beschwerde ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 146 Abs. 4 i.V.m.
§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Der Antragsteller hat keine Frage aufgezeigt, die
in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren einer grundsätzlichen Klärung bedürfte.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
beruht auf § 14 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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