Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.07.2007

OVG NRW: beachtliche gründe, jugendhilfe, selbstbestimmungsrecht, zusammenarbeit, sozialhilfe, wohnung, form, arbeitsstelle, jugendamt, beratung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 1266/07
Datum:
04.07.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 1266/07
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 4461/04
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 51.187,87 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat unter keinem der geltend gemachten
Gesichtspunkte Erfolg.
2
Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag nicht die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts
zu erschüttern, der Erstattungsanspruch scheitere an dem Fehlen eines Antrages des
Hilfesuchenden auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen in Gestalt von
Eingliederungshilfe.
3
Grundsätzlich ist für die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe und auch der Hilfe
für junge Volljährige ein rechtzeitiger Antrag erforderlich. Dies ist in der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Senats geklärt.
4
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 2000
5
- 5 C 29.99 -, FEVS 52, 532, und OVG NRW,
6
Urteile vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 -, FEVS 55, 86 und 12. September 2002 - 12
A 4352/01 -, FEVS 54, 283.
7
Danach gehört es im Grundsatz zu den materiellen Voraussetzungen für die Gewährung
rechtmäßiger Jugendhilfe, dass ein Antrag der Erziehungsberechtigten bzw. des
leistungsberechtigten jungen Volljährigen vorliegt oder dass der jeweils
Leistungsberechtigte zumindest der Sache nach mit der Hilfegewährung einverstanden
ist.
8
Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 a.a.O.
9
Dieses Antragserfordernis wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung auch im
Kostenerstattungsstreit etwa nach § 104 SGB X als zu beachtende Voraussetzung
rechtmäßiger Leistungsgewährung angesehen.
10
Vgl. hierzu z.B. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. April 2005 - 9 S 109/03 -, JAmt
2005, 364; offen-gelassen: OVG NRW, Urteile vom 25. Oktober 2005 - 12 A 4342/03, 12
A 4384/03 (jeweils in juris) und 12 A 606/05 -.
11
Fehlt es an dem erforderlichen Antrag (oder dem Einverständnis) ist die gleichwohl
gewährte Leistung rechtswidrig. Diese Rechtswidrigkeit kann auch nicht vernachlässigt
werden. Das Antragserfordernis besitzt nicht nur formale Bedeutung,
12
vgl. dazu Schoch, in: LPK-BSHG, 6. Aufl., § 122a Rdnr. 23, m. w. N.,
13
es schützt vielmehr die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des
Leistungsberechtigten. Dieses Selbstbestimmungsrecht muss erst recht einem jungen
Heranwachsenden - wie dem Hilfeempfänger im vorliegenden Fall - zuerkannt werden.
Der Antrag ist damit unverzichtbare Voraussetzung der Leistungsgewährung.
14
Vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunkts im Erstattungsverfahren: BSG, Urteil vom 28.
April 1999
15
- B 9 V 8/98 R -, BSGE 84, 61, m. w. N. sowie BSG, Urteil vom 14. Mai 1985 - 4a RJ
21/84 -, FEVS 35, 39 (41); Urteil vom 28. Juni 1989 - 5 RJ 57/88 -, FEVS 41, 39 (44).
16
Fehlt es an dem erforderlichen Antrag, weil der Leistungsempfänger die Hilfeleistung
nicht in Anspruch nehmen will, darf die Jugendhilfe nicht gegen diesen Willen geleistet
werden.
17
Vgl. Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl., § 35a Rdnr. 14.
18
Beachtliche Gründe dafür, im Verhältnis verschiedener Sozialleistungsträger die durch
einen gravierenden Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht und damit durch
rechtwidriges Handeln entstandenen Kosten gleichwohl als erstattungsfähig
anzusehen, sind in der Begründung des Zulassungsantrags nicht dargelegt. Der
Umstand allein, dass der Erstattungsanspruch eigenständiger Natur ist, kraft Gesetzes
entsteht und ein eigenständiges Rechtsverhältnis zwischen zwei Leistungsträgern
begründet, lässt keinen zwingenden Rückschluss darauf zu, dass ein Leistungsträger in
diesem Rechtsverhältnis verpflichtet ist, Kosten einer Leistungsgewährung zu erstatten,
die wegen der Missachtung des Selbstbestimmungsrechts des Leistungsempfängers
rechtswidrig ist. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die (auch) die Erstattung
derartiger Kosten anordnet, besteht nicht. Es kann zudem nicht davon ausgegangen
werden, dass die Erstattungsregelungen konkludent auch rechtswidriges Verhalten
19
erfassen, wie es hier in Rede steht. Dem steht schon die verfassungsmäßige Bindung
der vollziehenden Gewalt aus Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), mithin auch an das
Leistungsrecht und die die in diesem Rahmen geltenden formellen und materiell-
rechtlichen Leistungsvoraussetzungen entgegen.
Eine substantiierte Darlegung wäre auch deshalb erforderlich gewesen, weil die
Zielsetzung einer gesetzlichen Konzeption sich nicht allein aus den - weitgehend isoliert
nebeneinanderstehenden - Bestimmungen der Leistungsansprüche einerseits und der
Erstattungsansprüche andererseits erschließt. Vielmehr ist die Gesamtheit der
einschlägigen Regelungen in den Blick zu nehmen. Zu diesen gehört
20
u. a. § 86 SGB X, der für alle Bereiche des vom SGB X erfassten Sozialrechts die im
Rahmen des gegliederten und auf Aufgabenverteilung ausgerichteten
Sozialleistungssystems notwendige enge Zusammenarbeit zwischen den
Sozialleistungsträgern diesen zur verbindlichen Pflicht macht. Das generelle Erfordernis
der engen Zusammenarbeit umfasst auch die Verpflichtung, bei widerstreitenden
Interessen die Belange des anderen Sozialleistungsträgers angemessen mit zu
berücksichtigen.
21
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. März 2006
22
- 12 A 2094/05 -, NWVBl. 2006, 43 ff.
23
Dafür, dass es trotz dieser Pflichtenstellung gerechtfertigt ist, einen Sozialleistungsträger
zur Kostenerstattung für eine Leistung zu verpflichten, die - wie oben dargelegt - in
Ermangelung des erforderlichen Antrags gar nicht hätte erbracht werden dürfen, fehlt es
in der Begründung des Zulassungsantrags an jeglicher substantiierter Darlegung. Diese
wird auch nicht dadurch ersetzt, dass der Kläger seine Rechtsauffassung äußert ("Der
Kläger vertritt die Auffassung, dass es im Erstattungsverfahren grundsätzlich nicht auf
das Vorliegen eines formellen Antrags ankommt") oder auf Kommentarstellen verweist,
denen sich durchgreifende Argumente ebenfalls nicht entnehmen lassen.
24
Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Funktion, die der Antragstellung hier
zukommt, hat das Verwaltungsgericht die Erklärung des Hilfeempfängers vom 5. März
2002 auch zu Recht und mit zutreffenden Argumenten nicht als Antrag auf
Jugendhilfeleistungen i. S. v. § 35a i. V. m. § 41 SGB VIII ausreichen lassen. Dies steht
insbesondere nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Senates, nach der die
Anforderungen an den Antrag auf Jugendhilfeleistungen nicht zu hoch angesetzt
werden dürfen und es unter Berücksichtigung von § 16 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB I
genügen kann, dass ein Antrag beim Sozialhilfeträger gestellt wird. Kommen nach
einem Lebenssachverhalt mehrere Leistungsansprüche - etwa nach dem
Sozialhilferecht sowie dem Jugendhilferecht - in Betracht, sollen dem
Leistungsberechtigten keine Nachteile daraus entstehen, dass der Antrag nicht an alle
in Betracht kommenden Leistungsträger gerichtet ist. Der Einzelne soll mit seinem
Begehren nach Sozialleistungen nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der
gegliederten Sozialverwaltung scheitern.
25
So etwa OVG NRW, Urteil vom 25. Oktober 2005
26
- 12 A 4342/03 -, m. w. N.
27
Diese Überlegungen haben in dem entschiedenen Fall aber lediglich zur Rechtfertigung
der Annahme gedient, der Sozialhilfeträger sei "unzuständige Stelle" i. S. v. § 16 Abs. 2
Satz 2 i. V. m. Satz 1 SGB I gewesen, und sind davon ausgegangen, dass bei wertender
Betrachtung der mit dem Antrag geltend gemachte Hilfebedarf nicht auf Leistungen der
Sozialhilfe beschränkt war, sondern auch Leistungen der Hilfe für junge Volljährige
nach dem SGB VIII erfasste. Dazu hat der Senat seinerzeit gefordert, dass der Antrag in
erkennbarer Weise zum Ausdruck bringt, dass vom Antragsrecht Gebrauch gemacht
wird. Gerade dies hat das Verwaltungsgericht hier verneint, wenn es der Erklärung des
Hilfeempfängers vom 5. März 2002 vorliegend die Bedeutung bemisst, dass er
Jugendhilfeleistungen in der vorgeschriebenen Form nicht erstrebe, es ihm vielmehr
(nur) um die Sicherung des Lebensunterhalts, sowie um Hilfe bei der Erlangung einer
Wohnung und einer Arbeitsstelle gehe. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass der -
seinerzeit bereits volljährige - Hilfesuchende sich nicht über den Inhalt seiner Erklärung
im klaren war; hierfür spricht auch nichts. Das Zulassungsvorbringen des Klägers, der
Hilfesuchende habe ausdrücklich einen Antrag auf "Hilfe zur Erziehung gemäß § 27
ff./Eingliederungshilfe gemäß § 35a i. V. m. § 41 KJHG" gestellt und sich mit seiner
Unterschrift im Antragsformular u. a. bereit erklärt, die Hilfe zur Erziehung durch gute
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und der Einrichtung in jeder Hinsicht zu fördern
sowie an der Beratung des Hilfeplans teilzunehmen (Punkt 1.01 des Formulars), weckt
keine durchgreifenden Zweifel an der gegenläufigen Bewertung des
Verwaltungsgerichts. Denn hierbei handelt es sich um im Formulartext vorgegeben
Erklärungen, die nicht dem Willen des Hilfesuchenden entsprachen, wie er in seiner
handschriftlichen Erklärung in dem Formular deutlich in Erscheinung getreten ist.
28
Auf die Fragen des Nachrangs der Sozialhilfe bzw. des vorrangigen Hilfebedarfs und
eines Ausschlusses des Erstattungsanspruches aufgrund der bestandskräftigen
Ablehnung der Jugendhilfe gegenüber dem Hilfeempfänger kommt es für die
Begründung ernstlicher Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO danach nicht an.
29
Aus dem oben Dargelegten folgt zugleich, dass die Rechtssache hier keine besonderen
tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist
und die Rechtssache auch nicht die grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 3
VwGO hat, die ihr der Kläger beimisst.
30
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1 und 3, 47 Abs. 1 und 3 GKG.
31
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3
Satz 3 GKG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4
VwGO).
32
33