Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 19.01.1998

OVG NRW (kläger, bundesrepublik deutschland, sprache, eltern, deutsch, familie, 1995, erhebliche bedeutung, psychischer zustand, rücknahme)

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 3264/95
Datum:
19.01.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 A 3264/95
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 17 K 7020/92
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der
Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d:
1
Der Kläger wurde am 8. Mai 1970 in D. in Kasachstan geboren. Seine Eltern sind der
am 29. Juni 1940 in dem Dorf S. im Gebiet Saratow geborene deutsche
Volkszugehörige W. R. und die am 24. März 1942 in N. Z. geborene deutsche
Volkszugehörige K. R. , geb. D. . Der Kläger ist seit dem 25. August 1990 mit der noch
im Aussiedlungsgebiet lebenden russischen Volkszugehörigen N. J. verheiratet.
2
Mit am 12. November 1990 beim Bundesverwaltungsamt eingegangenem
Aufnahmeantrag stellte der Kläger einen Antrag auf Aufnahme als Aussiedler. In diesem
Aufnahmeantrag gab er als Volkszugehörigkeit, als Muttersprache und als jetzige
Umgangssprache in der Familie jeweils "deutsch" an. Zur Frage der Beherrschung der
deutschen Sprache erklärte er, die deutsche Sprache zu verstehen, zu sprechen und zu
schreiben. In der Familie werde von den Großeltern/Großelternteil, von den
Eltern/Elternteil, vom Antragsteller und dessen Kindern deutsch gesprochen.
3
In der Zustimmungsanfrage an das Land B. nannte das Bundesverwaltungsamt als
Gründe für die beabsichtigte Erteilung eines Aufnahmebescheides unter der Überschrift
"Sonstige Indizien" auch "Deutsch als Umgangssprache" und "Deutsch als
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Muttersprache".
Nachdem das Bundesverwaltungsamt dem Kläger am 15. August 1991 einen
Aufnahmebescheid als Aussiedler erteilt hatte, reiste der Kläger am 5. März 1992 in die
Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Antrag auf Registrierung. Ausweislich
des bei der Registrierung vom Bundesverwaltungsamt erstellten Erfassungsbogens
beherrschte der Kläger bei seiner Einreise die deutsche Sprache überhaupt nicht.
5
Mit Bescheid vom 14. April 1992 nahm die Beklagte den Aufnahmebescheid des
Klägers zurück. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Der
Aufnahmebescheid sei rechtswidrig, da der Kläger die rechtlichen Voraussetzungen für
die Anerkennung als Aussiedler nicht erfülle. Er beruhe auf Angaben, die in
wesentlicher Beziehung unrichtig seien. Der Kläger sei aufgrund der Angaben im
Aufnahmeantrag als Person angesehen worden, die die Voraussetzungen für eine
Aufnahme als Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland erfülle. Bei seiner
Anhörung am 12. und 18. März 1992 sei festgestellt worden, daß der Kläger über keine
deutschen Sprachkenntnisse verfüge. Eine Verständigung in deutscher Sprache sei mit
ihm nicht möglich gewesen. Deshalb habe sein Vater als Sprachmittler fungiert. Nach
seinen Angaben habe er die deutsche Sprache als Mutter- oder Umgangssprache
weder in seiner jetzigen Familie noch in der elterlichen Familie gepflegt. Eine prägende
Erziehung im deutschen Volkstum in der Familie sei unterblieben. Weitere objektive
Bestätigungsmerkmale seien nicht glaubhaft vorgetragen worden. Die Angaben im
Aufnahmeantrag hätten zu einer fehlerhaften Entscheidung im Aufnahmeverfahren
geführt. Die Rücknahme sei auch ermessensgerecht. Gegenüber dem öffentlichen
Interesse an einer gleichmäßigen Anwendung des Gesetzes trete das Vertrauen des
Klägers auf den Bestand des Aufnahmebescheides zurück, da die Rechtswidrigkeit des
Aufnahmebescheides auf unzutreffende Angaben im Aufnahmeantrag insbesondere zur
Mutter- und Umgangssprache in der Familie des Klägers zurückzuführen sei. Der vom
Kläger geltend gemachten familiären Bindung an seine mit ihm eingereisten Eltern sei
keine wesentliche Bedeutung zuzumessen, da die dadurch berührte Frage des
Bleiberechts in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren berücksichtigt werden könne.
6
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 22. April 1992 Widerspruch ein und machte
geltend: Er sei seit seiner Geburt schwerhörig. Er habe in Rußland einen
Behindertenausweis erhalten und eine spezielle Schule besucht. Dort habe er die
Gebärdensprache erlernt und am Deutschunterricht teilgenommen, so daß er deutsch
lesen und schreiben könne. Wenn seine Eltern mit ihm deutsch sprächen, verstehe er
es. Bei anderen falle es ihm schwer. Er sei auf seine Eltern angewiesen. Er habe auch
massive Schwierigkeiten, die russische Sprache zu verstehen. Seine Eltern sprächen
untereinander deutsch. Ihre Aussprache unterscheide sich vom reinen Hochdeutsch.
Weil er in der Schule bereits Deutsch gelernt habe, hätten sie deshalb mit dem Kläger
oft russisch gesprochen.
7
Mit Schreiben vom 5. Oktober 1992 reichte der Kläger eine Übersetzung seines
Rentenausweises des Russischen Ministeriums für Sozialversorgung vom 29. Mai 1991
zu den Verwaltungsvorgängen. Wegen des Inhaltes dieses Ausweises im einzelnen
wird auf Blatt 116 der Beiakte Heft 2 Bezug genommen.
8
Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 1992 wies das Bundesverwaltungsamt den
Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.
9
Am 16. November 1992 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zu ihrer
Begründung hat er im wesentlichen vorgetragen: Als er nach Deutschland gekommen
sei, habe er das hiesige Deutsch wirklich schlecht verstehen können, da die
Aussprache wie auch der Dialekt "nicht weit" mit dem russischen Dialekt
übereinstimme.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 14. April 1992 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 1992 aufzuheben und die Beklagte zu
verpflichten, ihn in das Registrier- und Verteilungsverfahren einzubeziehen.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch den angefochtenen Gerichtsbescheid, der
hinsichtlich Tatbestand und Entscheidungsgründe auf den Prozeßkostenhilfebeschluß
des Verwaltungsgerichts vom 19. Januar 1995 verweist, abgewiesen.
15
Gegen diesen ihm am 10. April 1995 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1.
Mai 1995 die nicht näher begründete Berufung eingelegt.
16
Der Kläger beantragt,
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den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und nach seinen Schlußanträgen in
erster Instanz zu erkennen.
18
Die Beklagte beantragt,
19
die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verfahrensakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 14.
April 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 1992 ist
rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
23
Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Aufnahmebescheides kommt § 48 Abs. 1
und 3 VwVfG in Betracht, da er nicht eine Geldleistung oder teilbare Sachleistung
gewährt oder hierfür Voraussetzung ist (§ 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG). Danach kann ein
rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder
teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier vor.
24
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Aufnahmebescheid
vom 15. August 1991 bezüglich des Klägers rechtswidrig ist. Denn der Kläger hatte
25
nach dem damals maßgeblichen § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Gesetzes über die
Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG)
in der Fassung des Aussiedleraufnahmegesetzes (im folgenden: BVFG a.F.) keinen
Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides. Nach dieser Vorschrift ist
Vertriebener, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger
nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen u.a. die Sowjetunion
verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben
und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen
Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Die Vorschrift findet auf nach
Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geborene Personen
(Spätgeborene) wie den 1970 geborenen Kläger entsprechende Anwendung.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. November 1976 - 8 C 92.75 -, BVerwGE 51, 298; BVerwG,
Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 20.93 - , DVBl 1994, 935.
26
Eine deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers ist weder vorgetragen worden noch
ersichtlich.
27
Der Kläger hat die ehemalige Sowjetunion auch nicht als deutscher Volkszugehöriger
verlassen. Nach dem hier anzuwendenden § 6 BVFG a.F. ist deutscher
Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat,
sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache,
Erziehung, Kultur bestätigt wird. Da der Kläger als Spätgeborener zum Zeitpunkt des
Beginns der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen noch nicht geboren war, ist er nur
dann deutscher Volkszugehöriger, wenn ihm bis zum Eintritt seiner Selbständigkeit ein
Bekenntnis zum deutschen Volkstum prägend im Sinne eines durch Weitergabe
hergestellten Bekenntniszusammenhangs übermittelt worden ist.
28
Vgl. BVerwG, Beschluß vom 22. Mai 1989 - 9 B 4.89 -, Buchholz, Sammel- und
Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (im folgenden:
Buchholz) 412.3 § 6 BVFG Nr. 61.
29
Das setzt voraus, daß die Eltern oder ein Elternteil sich im maßgebenden Zeitpunkt zum
deutschen Volkstum bekannt haben. Mit der hieraus resultierenden Bekenntnislage,
nämlich dem Bewußtsein, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägter
Kulturgemeinschaft anzugehören, muß sich der Spätgeborene bis zu seiner
Selbständigkeit identifizieren, so daß auch er sich als Angehöriger des deutschen
Volkes in dem bezeichneten Sinne ansieht und fühlt. Eine solche innere Einstellung
muß durch äußere Tatsachen belegt sein, die eine diesbezügliche
Überzeugungsbildung gestatten. Diese Tatsachen können so beschaffen sein, daß sie
unmittelbar positiv ergeben, daß das spätgeborene Kind in die subjektive
Bekenntnislage der volksdeutschen Eltern oder des volksdeutschen Elternteils
hineingewachsen ist und sich mit deren Volkstumsbewußtsein identifiziert hat. Dies
steht einem ausdrücklich oder in Form schlüssigen Gesamtverhaltens abgelegten
Bekenntnis durch frühgeborene bekenntnisfähige Personen mit der Folge gleich, daß
als objektive Bestätigung ein einzelnes der in § 6 BVFG a.F. angeführten Merkmale
ausreicht. Eine Beherrschung der deutschen Sprache ist dann nicht unbedingt
erforderlich.
30
Vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Mai 1990 - 9 C 51.89 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 64,
vom 19. April 1994 - 9 C 20.93 -, DVBl 1994, 935, 937 f. sowie vom 13. Juni 1995 - 9 C
31
293.94 - und - 9 C 392.94 -, DVBl 1995, 1302.
So kann ein konkretes aktives Einwirken zumindest eines volksdeutschen Elternteils auf
das Kind bei diesem hinsichtlich seines Volkstums zu einem entscheidenden, bis zur
Selbständigkeit fortwirkenden Schlüsselerlebnis geführt haben.
32
Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1986 - 9 C 6.86 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr.
47.
33
Dabei bedarf es im Hinblick auf das besondere Schicksal der deutschen Volksgruppe in
der früheren Sowjetunion, die dort auch heute noch - wenn auch größtenteils nicht mehr
territorial verwurzelt - besteht, des Nachweises eines speziellen "Schlüsselerlebnisses"
als Voraussetzung eines Sachverhaltes, aus dem sich die Überlieferung
volksdeutschen Bewußtseins unmittelbar ergibt, nicht.
34
Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juni 1995 - 9 C 293.94 - und - 9 C 392.94 -, DVBl 1995,
1302.
35
Vor dem geschichtlichen Hintergrund der Entwicklung der Situation der deutschen
Volksgruppe in der Sowjetunion seit Beginn der Vertreibungsmaßnahmen am 22. Juni
1941 ist trotz der in den letzten Jahren teilweise erfolgreichen Bemühungen um eine
weitere allgemeine Verbesserung der Lage der Volksdeutschen in der früheren
Sowjetunion davon auszugehen, daß diejenigen Volksdeutschen, die die Zeit der
Deportation und die damit verbundenen jahrzehntelangen - auch physischen -
Ausgrenzungen als Feinde, Faschisten und Verräter bewußt erlebt haben, sich in
bleibender Weise als ausgegrenzte Opfer eines mit ihrer deutschen Volkszugehörigkeit
verknüpften ungerechten Schicksals fühlen, und daß ein solcher psychischer Zustand
auch die in der Familie aufwachsenden Kinder beeinflussen kann, da in der Familie
während der Entwicklung des Kindes auch Herkunft und Erlebnisse der Eltern in der
Regel zur Sprache kommen. Wo die Ausgrenzung der eigenen Familie als
Dauerschicksal mit- und nacherlebt wird, liegt es nicht fern, sich auch die Ursache
dieses Schicksals, die deutsche Volkszugehörigkeit, zu eigen zu machen.
36
Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juni 1995 - 9 C 293.94 - und - 9 C 392.94 -, DVBl 1995,
1302.
37
Liegt kein Sachverhalt vor, aus dem sich unmittelbar ein Bekenntnis zum deutschen
Volkstum ergibt, kann jemand gleichwohl deutscher Volkszugehöriger sein. In diesem
Fall kommt namentlich den in § 6 BVFG genannten Merkmalen eine wichtige
Indizwirkung für ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum zu. Allerdings reicht dazu die
Abstammung von einem Elternteil deutscher Volkszugehörigkeit nicht aus. Vielmehr
müssen weitere, eine Überlieferung volksdeutschen Bewußtseins indizierende
Umstände vorliegen. In dieser Hinsicht kommt der deutschen Sprache als Muttersprache
oder jedenfalls als bevorzugte Umgangssprache eine erhebliche Bedeutung zu. Für
Antragsteller aus den Vielvölkerstaaten ist danach die deutsche Volkszugehörigkeit nur
dann widerleglich zu vermuten, wenn die objektiven Bestätigungsmerkmale,
insbesondere die Kenntnisse der deutschen Sprache, hinreichend für ein Bekenntnis
zum deutschen Volkstum sprechen.
38
Vgl. BVerwG, Beschluß vom 26. Februar 1997 - 9 B 684.96 - mit weiteren Nachweisen.
39
Auf der Grundlage dieser Bewertungsmaßstäbe kann der Senat nicht feststellen, daß
der Kläger die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG a.F. erfüllt. Der Senat ist
nicht davon überzeugt, daß dem Kläger durch seine Eltern bis zum Eintritt seiner
Selbständigkeit ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum prägend im Sinne eines durch
Weitergabe hergestellten Bekenntniszusammenhanges übermittelt worden ist.
40
Anhaltspunkte dafür, daß dies durch ein aktives Einwirken zumindest eines Elternteils
auf den Kläger geschehen ist, das bei diesem hinsichtlich seines Volkstums zu einem
entscheidenden, bis zur Selbständigkeit fortwirkenden Schlüsselerlebnis geführt hat,
sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Auch vor dem Hintergrund der
Entwicklung der Situation der deutschen Volksgruppe in der ehemaligen Sowjetunion
seit Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen sind hier keine Indizien
vorhanden, die ein Bekenntnis des Klägers zum deutschen Volkstum unabhängig von
deutschen Sprachkenntnissen objektiv bestätigen. Denn in diesem Zusammenhang
kommt einer Vermittlung der Familiengeschichte maßgebende Bedeutung zu.
Anhaltspunkte dafür, daß in dem Kläger durch Erzählungen über die Herkunft seiner
Eltern sowie über ihre tiefgehenden Erlebnisse als ausgegrenzte Volksdeutsche
während der Deportation das Bewußtsein geweckt worden ist, Teil einer wegen ihrer
Volkszugehörigkeit zu Unrecht ausgegrenzten Familie zu sein, und er sich mit diesem
besonderen Familienschicksal identifiziert hat, sind nicht vorgetragen worden und auch
nicht ersichtlich.
41
Sonstige Tatsachen, aus denen sich unmittelbar positiv ergeben könnte, daß der Kläger
in die subjektive Bekenntnislage seiner volksdeutschen Eltern hineingewachsen ist und
sich mit deren Volkstumsbewußtsein identifiziert hat, sind ebenfalls nicht erkennbar. Die
Eintragung der deutschen Nationalität des Klägers in seinem Inlandspaß kann ein
solches unmittelbares Bekenntnis nicht belegen, da diese Eintragung nach den
einschlägigen Vorschriften der damals maßgeblichen sowjetischen Paßverordnung vom
Sommer 1974 aufgrund der deutschen Nationalität beider Eltern des Klägers erfolgte,
ohne daß der Kläger sich ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekennen mußte.
42
Läßt sich eine Überlieferung des deutschen Volkstums an den Kläger danach nicht
unmittelbar feststellen, kommt - wie dargelegt - der deutschen Sprache als Indiz zur
mittelbaren Herleitung des Bekenntniszusammenhanges entscheidende Bedeutung zu.
Der Senat kann jedoch nicht feststellen, daß dem Kläger die deutsche Sprache in
ausreichendem Maße vermittelt worden ist. Zwar hat der Kläger im Aufnahmeantrag
angegeben, daß sowohl seine Muttersprache als auch seine bevorzugte
Umgangssprache innerhalb seiner Familie Deutsch sei und er die deutsche Sprache
beherrsche. Diese Angabe ist jedoch nach dem Ergebnis seiner Anhörung im
Registrierverfahren und nach seinem eigenen Vortrag im Widerspruchsverfahren
unzutreffend.
43
Denn nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsamtes am 12. und 18. März 1992
wies der Kläger bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland keinerlei
deutsche Sprachkenntnisse auf, die ihn zu einer muttersprachlichen oder
umgangssprachlichen Benutzung der deutschen Sprache befähigt hätten. Daß der
Kläger Deutsch weder als Muttersprache spricht noch bis zu seiner Ausreise als
bevorzugte Umgangssprache gesprochen hat, ergibt sich auch aus seiner
Widerspruchsbegründung. Dort hat er angegeben, daß seine Eltern untereinander zwar
deutsch in Dialektform gesprochen hätten, mit den Kindern allerdings "oft russisch
sprachen", weil er ja bereits in der Schule Deutsch als Hochdeutsch lernte, was sich von
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dem deutschen Dialekt seiner Eltern unterschieden habe. Dieser Vortrag kann unter
verständiger Würdigung nur dahin verstanden werden, daß Deutsch als Mutter- oder
Umgangssprache in der Dialektform, die seine Eltern sprachen, an den Kläger nicht
vermittelt worden ist.
Aus diesem Grunde ist es rechtlich unerheblich, daß der Kläger behauptet, von Geburt
an einem im einzelnen nicht näher dargelegten und belegten Grad von Schwerhörigkeit
gelitten zu haben.
45
Da für die Vermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit zudem nicht allein die
Kenntnis der deutschen Sprache entscheidend ist, kommt es im übrigen nicht darauf an,
warum der Kläger diese nicht beherrscht. Selbst wenn man unterstellt, daß der Kläger
infolge angeborener Schwerhörigkeit nur eine Sprache erlernen konnte, stand diese
Behinderung der Vermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit an den Kläger auf
andere Weise nicht entgegen.
46
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NW), Beschluß
vom 6. September 1996 - 2 A 3544/93 -.
47
Dafür, daß dies erfolgt ist, ist hier nichts vorgetragen oder ersichtlich.
48
Die Rücknahme des nach alledem rechtswidrigen Aufnahmebescheides ist auch im
übrigen rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG steht die
Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes grundsätzlich im
Ermessen der Behörde. Die Ermessensausübung ist unter anderem dann fehlerhaft,
wenn die Behörde bei der Rücknahmeentscheidung von einer unzutreffenden
rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzung ausgeht.
49
Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Denn die Beklagte hat die Rücknahme des
Aufnahmebescheides ausweislich der Begründung des Rücknahmebescheides damit
gerechtfertigt, daß das öffentliche Interesse an der Rücknahme dem privaten Interesse
des Klägers an der Aufrechterhaltung des Bescheides im Hinblick auf die fehlende
Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers überwiege. Dabei war sie grundsätzlich
nicht gehindert, die allein für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 2
Satz 1 VwVfG sprechenden Gesichtspunkte fehlenden Vertrauensschutzes des § 48
Abs. 2 Satz 3 VwVfG auch bei der Ermessensentscheidung nach § 48 Abs. 1 und 3
VwVfG zu berücksichtigen.
50
Vgl. Kopp, VwVfG, 6. Auflage 1996, § 48 Rdn. 34.
51
Die Beklagte ist bei ihrer Ermessensentscheidung auch zutreffend davon ausgegangen,
daß die vom Kläger im Rahmen des Aufnahmeverfahrens gemachten Angaben in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2
VwVfG). Der Kläger hat im Aufnahmeantrag ausdrücklich und eindeutig angegeben,
daß er Deutsch als Muttersprache und als bevorzugte Umgangssprache in der Familie
spricht. Diese Angabe ist jedoch, wie sich bei der Anhörung des Klägers im
Registrierverfahren herausgestellt hat, tatsächlich nicht zutreffend. Die Angabe der
Sprachkenntnisse des Klägers steht auch in wesentlicher Beziehung zu der Frage, ob
ihm der geltend gemachte Aufnahmeanspruch zusteht. Denn dieser Anspruch setzt die
Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit des Klägers voraus, die - wie oben
dargelegt - im wesentlichen von der Beurteilung der Kenntnisse der deutschen Sprache
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als Mutter - oder bevorzugte Umgangssprache abhängt.
Die Klage auf Einbeziehung des Klägers in das Registrier- und Verteilungsverfahren ist
ebenfalls ohne Erfolg. Denn die zum Zeitpunkt seiner Einreise geltende
Verteilungsverordnung vom 28. März 1952 (BGBl. I S. 236) ist gemäß Art. 8 des
Kriegsfolgenbereinigungsgesetzs vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2094) mit
Wirkung zum 1. Januar 1993 ersatzlos aufgehoben worden. Die nunmehr die
Registrierung bzw. Verteilung regelnde Vorschrift des § 8 BVFG knüpft an die
Spätaussiedlereigenschaft des Verteilungsbewerbers nach § 4 Abs. 1 BVFG an. Es
kann offenbleiben, ob eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf Aussiedler in
Betracht zu ziehen ist. Denn der Kläger erfüllt deren Voraussetzung schon mangels
eines wirksamen Aufnahmebescheides nicht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 der
Zivilprozeßordnung.
54
Die Revision ist nicht zuzulassen, da Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht
vorliegen.
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