Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.12.2001

OVG NRW: berufliche tätigkeit, aufschiebende wirkung, gesundheit, vermietung, familie, automat, videoüberwachung, berufsausübungsfreiheit, medien, interessenabwägung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
1
Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 20 B 1248/01
11.12.2001
Oberverwaltungsgericht NRW
20. Senat
Beschluss
20 B 1248/01
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 L 1853/01
Der angefochtene Beschluss wird geändert. Die aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung des
Antragsgegners vom 5. Juli 2001 wird wiederhergestellt. Der
Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen. Der
Streitwert wird auch für das zweitinstanzliche Verfahren auf 10.000,-- DM
festgesetzt.
Gründe Die Beschwerde mit dem aus dem Beschlussausspruch ersichtlichen Antrag ist
begründet. Die dem Gericht bei der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO obliegende
Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Dessen Interesse an einem
Aufschub der Vollziehung können nicht mangelnde Erfolgsaussichten des Widerspruchs
entgegengehalten werden. Die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 5. Juli 2001
begegnet vielmehr Bedenken, die ihren Bestand in Frage stellen. Bei der im Rahmen des
vorliegenden Verfahrens nur möglichen summarischen Prüfung ist wenig dafür ersichtlich,
dass der Antragsteller gegen § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjSM verstößt und dadurch im Sinne des §
14 Abs. 1 OBG eine Störung der öffentlichen Sicherheit bewirkt. Der Senat geht dabei
davon aus, dass § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjSM die Fälle gewerblicher Vermietung oder
vergleichbarer gewerblicher Gewährung des Gebrauchs jugendgefährdender Schriften (§ 1
Abs. 3 GjSM) speziell und abschließend regelt und daher insbesondere Nr. 2 des § 3 Abs.
1 GjSM verdrängt. Ob ein Verstoß gegen § 7 Abs. 4 JÖSchG vorliegt, der das öffentliche
Anbieten bespielter Bildträger in Automaten verbietet, ohne diese näher zu qualifizieren,
kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen; denn der Antragsgegner hat sich nicht auf
diese Vorschrift gestützt und insofern keine Ermessenserwägungen angestellt.
Anzumerken ist dazu aber vorsorglich, dass das Eingreifen des § 7 Abs. 4 JÖSchG aus
Gründen fraglich ist, die den nachfolgenden ähnlich sind. Vgl. auch VG Karlsruhe,
Beschluss vom 23. Juli 2001 - 11 K 455/01 -. Es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass
ein System der gewerblichen Vermietung von indizierten oder sonst schwer
jugendgefährdenden Videos aus einem Automaten, wie es vom Antragsteller praktiziert
wird, der in § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjSM vorgesehenen Ausnahme zuzuordnen ist. Das dort
geregelte Verbot gilt nämlich nicht für Ladengeschäfte, die Kindern und Jugendlichen nicht
zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können. Entgegen der Auffassung
des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts kann diese Ausnahme zum Tragen
kommen. Zwar hat das Verwaltungsgericht richtig dargelegt, dass mit dem Begriff
"Ladengeschäft" nach der ursprünglichen Vorstellung des Gesetzgebers das
Vorhandensein von Aufsichtspersonal gewährleistet war. Dieses Verständnis des Begriffs
entspricht dem Wortsinn, der im Kern auf die Abwicklung von Geschäften im Sinne eines
Warenaustauschs unter Personen abzielt. Bei Einfügung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 in das Gesetz
durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit
vom 25. Februar 1985 (BGBl. I S. 425) bot sich nach dem seinerzeitigen Stand der
technischen Entwicklung, der den Horizont des Gesetzgebers prägte, die Verwendung des
Begriffs an, weil eben nur eingewiesenes und überwachtes Personal als in der Lage
angesehen wurde, dem Gesetzeszweck Genüge zu tun, also wirksam zu unterbinden, dass
die jeweils angebotenen jugendgefährdenden Medien auch nur in den
Wahrnehmungsbereich von Kindern und Jugendlichen geraten. Vgl. dazu
Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestags-Ausschusses für Jugend, Familie und
Gesundheit vom 30. November 1984,, BT-Drucks. 10/2546, S. 25; Runderlass des
Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales über die Durchführung des Jugendschutzes
in der Öffentlichkeit vom 11. Mai 1988 - IV B 4 - 6300.2 -, MBl. S. 820, 824 zu Nrn. 2.5.1 und
2.5.2. Nur diese Ausgangssituation spiegelt sich in der vom Verwaltungsgericht zitierten -
durchweg älteren, nämlich aus den Jahren 1985 bis 1988 stammenden - Literatur und
Rechtsprechung sowie in der Begriffserläuterung des erwähnten Runderlasses. Indes ist
zwischenzeitlich, wie gerade der vorliegende Fall zeigt und auch das Verwaltungsgericht
zutreffend erkannt hat, die technische Entwicklung über die historische Ausgangslage so
deutlich hinweggegangen, dass eine Ausblendung der veränderten Randbedingungen
kaum angängig erscheint. Die derzeit erkennbaren Umstände ergeben, dass das vom
Antragsteller eingesetzte Klubkarten(sicherheits-)system durchaus in ähnlicher Weise wie
Personal geeignet ist, den oben genannten Gesetzeszweck zu erfüllen: Die
Aufnahmeformalitäten gewährleisten, dass Klubmitglieder (d.h. Karteninhaber) nur
Volljährige werden können. Eine eigenständige Benutzung der Karten durch Kinder und
Jugendliche wird - was unbestritten ist - von der technischen Ausgestaltung der Vermietung
sicher ausgeschlossen. Ein Missbrauch ist allenfalls in Fällen einer Begleitung durch
Karteninhaber möglich, also im gezielten Zusammenwirken mit Erwachsenen; denn der
Automat lässt sich erst nach Identifizierung über die eingescannten Fingerabdrücke
benutzen, weshalb das Überlassen einer Klubkarte (gegebenenfalls in Verbindung mit
einer Kodenummer) als solches keine unberechtigte Benutzung ermöglicht. Durch das
Erfordernis dieses unverwechselbaren und nicht reproduzierbaren Körpermerkmals
unterscheidet sich das in Rede stehende Klubkartensystem wesentlich von der dem
Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Januar 1987 - 1 BvR 533/85 -,
GewArch 1987, 369 ff., zugrunde liegenden Fallgestaltung, wo der Automat lediglich mit
Hilfe einer Magnetkarte und einer persönlichen Kodenummer bedient werden konnte.
Selbst gegen Missbräuche, die wegen der für sie bestehenden Strafandrohung (vgl. § 184
StGB) von vornherein auf Sonderfälle beschränkt bleiben dürften, hat der Antragsteller im
Rahmen des Möglichen Vorsorge getroffen, etwa durch Hinweise auf einschlägige
Vorschriften, durch die vertraglich ausbedungene Möglichkeit des Ausschlusses von der
Benutzung sowie durch die Videoüberwachung des Automatenraums. Ob das
Klubkartensystem den Gesetzeszweck letztlich tatsächlich in zureichendem Maße abdeckt,
mag der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Ebenso kann vorliegend
dahinstehen, ob Kindern und Jugendlichen Einblick und Zutritt in den Automatenraum
ausreichend verwehrt sind; den insofern zu stellenden Anforderungen kann gegebenenfalls
durch mildere Maßnahmen als die hier in Rede stehende Untersagung Rechnung getragen
werden. Die getroffenen Feststellungen reichen jedenfalls aus, um an der Gleichwertigkeit
des Schutzniveaus von Ladengeschäften herkömmlicher Art und dem vom Antragsteller
praktizierten Weg keine entscheidungserheblichen Zweifel aufkommen zu lassen. Dann
aber hat sich ein Wandel der Normsituation vollzogen, der aus verfassungsrechtlichen
Gründen auf die Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjSM in der Weise durchschlägt, den
Geschäftsraum des Antragsteller nicht als bloßen "Automatenstandort", sondern als
Ladengeschäft im Sinne der Vorschrift zu behandeln, in dem der Kontakt Jugendlicher mit
jugendgefährdenden Schriften effektiv unterbunden werden kann. Bei der Auslegung und
Anwendung der Vorschrift, zu deren Durchsetzung die angefochtene Ordnungsverfügung
ergangen ist, ist nämlich zu berücksichtigen, dass die aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 GjSM
hergeleiteten Konsequenzen in die Berufsausübungsfreiheit eingreifen. Einschränkungen
der Befugnis oder rechtlichen Möglichkeit, sich rechtsgeschäftlich zu betätigen oder ein
Unternehmen nach eigenen Vorstellungen zu führen, berühren den Schutzbereich (auch)
des Art. 12 Abs. 1 GG, wenn sie sich unmittelbar auf die Berufsausübung beziehen oder
aber zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz haben. Da Art. 12 Abs. 1 GG auf
möglichst unreglementierte berufliche Tätigkeit abzielt, stellt jede Regelung einen Eingriff
in dieses Grundrecht dar, die bewirkt, dass eine berufliche Tätigkeit nicht in der
gewünschten Weise - darum geht es hier - ausgeübt werden kann. Vgl. BVerfG,
Kammerbeschluss vom 9. Oktober 2000 - 1 BvR 1627/95 -, GRUR 2001, 266 m.w.N. Die
Fachgerichte sind daher gehalten, zu prüfen und darzulegen, ob ihre Auslegung der
Bedeutung des Grundrechts der Berufsausübungsfreiheit gerecht wird. Kommen mehrere
Auslegungsvarianten in Betracht, so fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, bei
gleicher Übereinstimmung der Auslegungsmöglilchkeiten mit den Absichten des
Gesetzgebers die Auslegung mit der geringeren Eingriffstiefe vorzuziehen. Dies gilt auch,
wenn erst ein nachträglicher Wandel der Normsituation (hier in Gestalt einer elektronischen
Sicherung) ein bei gleicher Gewährleistung des Normzwecks weniger eingreifendes
Normverständnis gestattet. So liegt der Fall hier: Vor dem verfassungsrechtlichen
Hintergrund bestand schon in der parlamentarischen Diskussion um die Neuregelung des
Jugendschutzes in der Öffentlichkeit, die zum genannten Gesetz vom 25. Februar 1985
führte, Übereinstimmung darüber, dass der Zugang zu jugendgefährdenden Schriften nur
soweit beschränkt werden dürfe, als dies für einen wirksamen Jugendschutz unerlässlich
sei. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestags-Ausschusses für Jugend,
Familie und Gesundheit vom 30. November 1984, BT-Drucks. 10/2546, a.a.O. S. 24.
Dementsprechend weisen die Jugendschutzgesetze mittlerweile eine - teilweise
ausdrücklich erklärte - Öffnung für die neuerdings verfügbaren Techniken auf. So
schränken etwa § 3 Abs. 2 Satz 2 GjSM und § 4 Abs. 3 Satz 2 JÖSchG (dort sogar mit Blick
auf Automatenvertrieb) Verbotsvorschriften ein, wenn durch technische Vorkehrungen bzw.
Vorrichtungen sichergestellt ist, dass das Angebot auf den berechtigten Benutzerkreis
beschränkt bleibt. Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass der Gesetzgeber sich hinreichend
verlässlichen technischen Sicherungen im Bereich des Jugendschutzes nicht verschließen
will. Wird somit das vom Gesetz für regelmäßig schutzwürdig gehaltene Aufschubinteresse
des Antragstellers (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO) nicht wegen ersichtlicher Erfolglosigkeit seines
Rechtsbehelfs gemindert, so bedürfte es gewichtiger Aspekte, um in der weiteren
Interessenabwägung die Belange des Antragstellers zurückzustellen. Die
Gegenüberstellung der Positionen führt indes zu einem Übergewicht der - nach § 80 Abs. 1
VwGO ohnehin als regelmäßig schützenswert - anzuerkennenden Belange des
Antragstellers. Er würde für die Dauer des Widerspruchs- und eines sich gegebenenfalls
anschließenden Klageverfahrens erhebliche wirtschaftliche Einbußen erleiden; denn er
wäre bei Fortdauer der sofortigen Vollziehbarkeit gezwungen, die Ausgabe eines
beträchtlichen Spektrums von Videos aus dem Automaten gänzlich einzustellen oder den
Verleih über kostenintensives Personal abzuwickeln. Auf der Seite des öffentlichen
Interesses am Sofortvollzug fällt demgegenüber nur die Möglichkeit von Missbräuchen des
Klubkartensystems in die Waagschale, da auf regulärem Weg, wie ausgeführt, ein Kontakt
von Kindern und Jugendlichen mit den Videos und damit konkrete Jugendgefährdungen
auszuschließen sind. Der Antragsgegner hat Missbräuche nicht belegt. Die rein
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theoretische - und also stets gegebene - Möglichkeit des Missbrauchs fällt hier nicht ins
Gewicht. Derartige Vorkommnisse sind nicht wahrscheinlich, da sie mit Hilfe der
Videoüberwachung festgestellt werden können, mit Ausschluss und Strafe bedroht sind
und missbrauchsbereite Erwachsene jugendgefährdende Medien außerhalb der durch den
Antragsteller kontrollierten Räumlichkeiten ohne die Gefahr solcher Konsequenzen
Jugendlichen zugänglich machen könnten. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1
VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG, wobei der
Senat sich der Einschätzung der wirtschaftlichen Bedeutung durch das Verwaltungsgericht
anschließt.