Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.2003

OVG NRW: örtliche zuständigkeit, aufenthalt, familie, jugendhilfe, eltern, haushalt, jugendamt, volljährigkeit, unechte rückwirkung, unterbringung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 1622/01
Datum:
24.11.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 A 1622/01
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 2 L 1051/03
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das angefochtene Urteil geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, trägt in beiden Rechtszügen die Klägerin.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin beansprucht vom Beklagten die Erstattung von Kosten, die sie für
Jugendhilfeleistungen zugunsten von K. B. in der Zeit vom 22. Oktober 1993 bis zum 15.
November 1993 und vom 1. Januar 1994 bis zum 30. September 1997 aufwendete.
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Die am 13. März 1978 geborene K. B. lebte zunächst im Haushalt ihrer Eltern in L. .
Bereits kurz nach ihrer Geburt schaltete ihre damals in C. wohnende Großmutter
mütterlicherseits das Jugendamt der Klägerin ein und wies daraufhin, dass K. nur
unzureichend versorgt würde. Im Juli 1978 trennten sich K. Eltern. In der Folgezeit
wechselte sie zusammen mit ihrer Mutter des öfteren im Stadtgebiet L. und im
Zuständigkeitsbereich des Beklagten den Aufenthaltsort. In der Regel veranlasst durch
die Großmutter kam es zu wiederholten Kontrollen der Wohn- und Lebensverhältnisse
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durch die jeweils zuständigen Jugendämter. Fürsorgerechtliche oder sonstige
Maßnahmen wurden nicht eingeleitet. Im Herbst 1979 verzog K. mit ihrer Mutter nach X.
- S. . Mit Schreiben vom 31. Oktober 1979, gerichtet an das Vormundschaftsgericht
(Amtsgericht X. ), beantragte die Großmutter die Einleitung vormundschaftsgerichtlicher
Maßnahmen und wies im Einzelnen darauf hin, dass K. durch ihre Mutter nur
unzureichend versorgt werde. Wenig später teilte sie fernmündlich dem Beklagten mit,
dass ihre Enkelin seit dem 2. November 1979 vorübergehend Aufnahme in ihrem
Haushalt in C. - O. gefunden habe. Das Jugendamt des Beklagten regte darauf
gegenüber dem Vormundschaftsgericht an, das Aufenthaltsbestimmungsrecht über K.
der Kindesmutter im Wege der einstweiligen Anordnung zu entziehen und der
Großmutter zu übertragen, um so den Aufenthalt von K. in deren Haushalt zu
gewährleisten. Ohne vorherige Anhörung entzog das Amtsgericht X. mit Beschluss vom
22. November 1979 der Mutter von K. vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und
bestellte das Jugendamt des Beklagten insoweit zum Pfleger. Dieses bat mit Schreiben
vom 26. November 1979 K. Großmutter, ihr Enkelkind bis auf Weiteres aufzunehmen
und in ihrem Haushalt zu belassen. Bei ihrer nachträglichen Anhörung am 27.
November 1979 bestritt die mittlerweile nach F. verzogene Kindesmutter die von ihrer
Mutter erhobenen Vorwürfe und erklärte, dass sie K. , die weiter bei ihrer Großmutter
und deren Ehemann in Norddeutschland lebte, wieder zu sich nehmen wolle. Ein im
August 1980 gestellter Antrag auf Pflegegeld wurde abgelehnt. Im November 1984
wurde die Großmutter, die im Juli 1983 mit ihrem Ehemann und K. nach L. gezogen war,
zu deren Vormund bestellt.
K. erhielt in der Zeit vom 1. November 1983 bis zum 31. Dezember 1990 sog.
pauschalierte Sozialhilfe von der Klägerin. Die dafür aufgewendeten Kosten wurden von
dem Beklagten erstattet. Ab dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch -
Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) zum 1. Januar 1991 bewilligte die Klägerin Hilfe zur
Erziehung in Vollzeitpflege bei der Großmutter. K. Eltern lebten zu dieser Zeit, wie auch
anschließend, weiterhin getrennt.
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Nach dem Tode ihrer Großmutter fand K. ab dem 12. Juni 1991 Aufnahme im
Kinderhaus S. in L. und erhielt Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung. Die
Vormundschaft über K. wurde auf das Jugendamt der Klägerin übertragen. Am 11.
Oktober 1993 entwich K. aus dem Kinderhaus und wurde noch am selben Tag in der
Jugendschutzstelle des S. -T. -Kreises untergebracht. Sie verblieb dort bis zum 15.
November 1993. Die hierfür in Rechnung gestellten Kosten wurden von der Klägerin
übernommen. Seit dem 16. November 1993 war K. im Jugendwohnheim St. T. in L.
untergebracht.
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Unter Berufung auf § 89e SGB VIII beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 28.
Dezember 1994, beim Beklagten eingegangen am 3. Januar 1995, die Übernahme der
ab dem 1. April 1993 aufgewendeten Kosten und wies darauf hin, dass der Aufenthalt
von K. bei ihrer Großmutter gemäß § 89e SGB VIII erstattungsrechtlich geschützt
gewesen sei. Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 22. Februar 1995 eine
Kostenerstattung mit der Begründung ab, dass K. ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der
Großmutter in L. begründet habe und daher auf den Aufenthalt der Mutter in F. nicht
mehr zurückgegriffen werden könne.
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Ab Eintritt der Volljährigkeit gewährte die Klägerin Hilfe für junge Volljährige. Zum 30.
September 1997 beendete sie die Jugendhilfemaßnahme.
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Am 18. November 1997 hat die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung
ausgeführt: Nach den Kostenerstattungsbestimmungen des KJHG in der bis zum 31.
März 1993 geltenden Fassung habe gegen den Beklagten kein
Kostenerstattungsanspruch bestanden. Unter Berücksichtigung der Neuregelung der
örtlichen Zuständigkeit und der Kostenerstattung ab dem 1. April 1993 bestehe nach §
89e KJHG (gemeint ist SGB VIII) nunmehr ein Kostenerstattungsanspruch gegen den
Beklagten. Die örtliche Zuständigkeit richte sich gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Sätze
2 und 4 SGB VIII nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen vor
Beginn der Leistung. Denn die Eltern von K. hätten schon vor Beginn der
Jugendhilfegewährung zum 1. Januar 1991 - wie auch heute noch - unterschiedliche
gewöhnliche Aufenthalte gehabt. Die Personensorge habe ebenfalls seit Jahren keinem
Elternteil zugestanden. Die an den gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen
anknüpfende Zuständigkeit sei auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Rahmen der
Bestimmung des § 86a Abs. 4 SGB VIII erhalten geblieben. Gemäß § 89e Abs. 1 SGB
VIII sei der örtliche Träger der Jugendhilfe zur Kostenerstattung verpflichtet, in dessen
Bereich die Person vor Aufnahme in die andere Familie oder sonstige Wohnform den
gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Als andere Familie im Sinne des § 89e SGB VIII sei jede
Person zu verstehen, die nicht Elternteil sei. Für die Kostenerstattung sei auf den
gewöhnlichen Aufenthalt abzustellen, den K. B. vor der Aufnahme in den
großmütterlichen Haushalt begründet habe. Vor der Aufnahme bei ihrer Großmutter
habe K. zusammen mit ihrer Mutter im Bereich des Beklagten gelebt. Auf den Zeitpunkt
des Beginns der Jugendhilfemaßnahme komme es nicht an. Für eine Anwendung des §
89e SGB VIII sei auch nicht entscheidend, dass in der anderen Familie Erziehungshilfen
und Jugendhilfe gewährt worden seien. Es sei ausschließlich darauf abzustellen, dass
die andere Familie der Erziehung, Pflege oder Betreuung diene. Dies sei bei der
Aufnahme von K. in den Haushalt ihrer Großmutter der Fall gewesen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die für die Heimerziehung von K. B. in der
Zeit vom 22. Oktober 1993 bis 15. November 1993 und vom 1. Januar 1994 bis 30.
September 1997 entstandenen Jugendhilfeaufwendungen in Höhe von 173.711,57 DM
zu erstatten.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat geltend gemacht, dass die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nach §
89e SGB VIII nicht erfüllt seien. Da die Klägerin ihre Erstattungsansprüche erstmals am
3. Januar 1995 bei seiner Behörde angemeldet habe, seien alle Erstattungsansprüche
für Leistungen, die vor dem 31. Dezember 1993 erbracht worden seien, nach der
Ausschlussfrist in § 111 SGB X gesetzlich ausgeschlossen. Die örtliche Zuständigkeit
für die Bewilligung der Jugendhilfemaßnahmen zu Gunsten der minderjährigen K. richte
sich nach § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. Anknüpfungspunkt sei der
gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung. Danach sei die Klägerin
auch nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes zum 1. April 1993 weiterhin örtlich
zuständig. Ab dem Eintritt der Volljährigkeit knüpfe die örtliche Zuständigkeit gemäß der
Sondervorschrift des § 86a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII jedoch nicht mehr an den
gewöhnlichen Aufenthaltsort von K. an, sondern an die vor Volljährigkeit begründete
eigene örtliche Zuständigkeit der Klägerin. Ein Anspruch auf Kostenerstattung sei auch
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im Übrigen nicht gerechtfertigt, da nach § 89e SGB VIII als Zeitpunkt "vor der Aufnahme"
der Zeitpunkt vor Beginn der Jugendhilfemaßnahme zu verstehen sei. Das Gesetz
knüpfe damit an die vor Beginn der Jugendhilfe bestehende Zuständigkeitsverteilung
an. Vor Beginn der Jugendhilfemaßnahme am 1. Januar 1991 sei jedoch bereits die
Klägerin für K. örtlich zuständig gewesen. Der Rückgriff auf eine davor bestehende
örtliche Zuständigkeit, die nach den Regelungen des Sozialhilferechts bereits zu einer
Erstattung geführt habe, sei demnach vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 15. Februar 2001 der Klage stattgegeben und
zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe Anspruch auf Erstattung der
aufgewendeten Kosten aus § 89e Abs. 1 SGB VIII. Die Voraussetzungen dieser
Vorschrift seien zunächst für den Zeitpunkt der Heimunterbringung vom 1. Januar 1994
bis zum 12. März 1996, dem Tag vor Eintritt der Volljährigkeit, erfüllt. Die Zuständigkeit
der Klägerin hierfür richte sich gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII
nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Jugendlichen K. B. . Deren Eltern hätten
verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt und die Personensorge habe keinem
Elternteil zugestanden, sodass sich die Zuständigkeit daher analog § 86 Abs. 2 Satz 2
und 4 SGB VIII bestimme. Der gewöhnliche Aufenthalt von K. B. sei auch in einer
anderen Familie im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII begründet worden. Von dieser
Vorschrift würden auch die sog. Verwandtenpflegestellen erfasst. Hierfür spreche bereits
der Wortlaut der Norm, nach dem gerade nicht vorausgesetzt werde, dass in der
"anderen Familie" Vollzeitpflege oder andere Jugendhilfemaßnahmen erbracht werden
müssten. Es sei vielmehr ausreichend, dass die in § 89e Abs. 1 SGB VIII genannten
Unterbringungsmöglichkeiten der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem
Strafvollzug dienten. Eine ganztägige Aufnahme bei Verwandten sei regelmäßig mit
Erziehung und Betreuung des Kindes bzw. Jugendlichen verbunden. Aus der
Systematik des SGB VIII lasse sich ableiten, dass die andere Familie lediglich den
Gegenbegriff zur eigenen Familie darstelle und nicht mit einer Vollzeitpflegestelle
gleichzusetzen sei. Diese Auslegung ergebe sich besonders deutlich aus dem aus der
Gesetzesbegründung ersichtlichen Zusammenhang mit der Vorschrift des § 104 BSHG.
Nach dieser Vorschrift spiele es keine Rolle, ob in dieser anderen Familie
Jugendhilfeleistungen erbracht würden, ausschlaggebend sei allein, dass die
Unterbringung nicht bei den Eltern erfolge. Bestätigt werde die Auslegung ferner durch
Sinn und Zweck des § 89e SGB VIII. Da K. B. vor der Aufnahme in die Familie der
Großmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der Mutter in F. und damit im
Zuständigkeitsbereich des Beklagten gehabt habe, sei der Beklagte gemäß § 89e Abs.
1 SGB VIII kostenerstattungspflichtig. Wie sich bereits aus dem Wortlaut ergebe, knüpfe
§ 89e SGB VIII an eine Kette von Einrichtungsaufenthalten an. In der
Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber dies ausdrücklich klargestellt. Die Kette
von Einrichtungsaufenthalten sei durch die zwischenzeitliche Unterbringung in einer
Bereitschaftspflegestelle des S. -T. -Kreises nicht in rechtlich relevantem Sinne
unterbrochen worden. Ein wesentlicher Zwischenaufenthalt sei hier nicht gegeben. Ein
solcher scheide aus, wenn sich ein Jugendlicher unerlaubt aus dem Heim entferne und
alsbald nach dem Entweichen eine Rückführung in das Heim erfolge. Die Tatsache,
dass § 89e SGB VIII erst zum 1. April 1993 in Kraft getreten sei, der maßgebliche
Anknüpfungspunkt aber bereits im November 1979 liege, führe zu keinen Bedenken
gegen dieses Ergebnis. § 89e KJHG sei ohne Übergangsregelung eingeführt worden
und somit auf den hier streitigen Leistungszeitraum anwendbar. Eine unzulässige
Rückwirkung liege nicht vor.
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Die Ausschlussfrist des § 111 SGB X stehe der Geltendmachung des Anspruchs auch
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hinsichtlich der für den 1. und 2. Januar 1994 erbrachten Leistungen nicht entgegen.
Diese Vorschrift knüpfe grundsätzlich an den Zeitpunkt an, für den eine Leistung
erbracht werde. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu Sozialhilfeleistungen sei auch
bei Jugendhilfeleistungen davon auszugehen, dass diese in der Regel nicht
kalendertäglich, sondern monatlich erbracht würden.
Die Klägerin könne auch die ab Volljährigkeit von K. B. angefallenen Kosten gemäß §
89e Abs. 1 SGB VIII ersetzt verlangen. Nach dem Eintritt der Volljährigkeit richte sich die
Zuständigkeit der Klägerin weiterhin nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der
Jugendlichen. Die Zuständigkeit für eine Hilfe für junge Volljährige sei in § 86a SGB VIII
geregelt. In den Fällen der fortgesetzten Hilfe bestimme § 86a Abs. 4 SGB VIII, dass der
örtliche Träger zuständig bleibe, der bis zu diesem Zeitpunkt zuständig gewesen sei.
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Aus § 89e Abs. 1 SGB VIII folge schließlich auch ein Anspruch auf Erstattung der im
Rahmen der Kostenerstattung gemäß § 89b SGB § VIII für die Unterbringung in der
Jugendschutzstelle des S. -T. -Kreises aufgewendeten Kosten. Die Klägerin sei für die
Inobhutnahme zwar selbst nicht zuständig gewesen, in einem solchen Fall reiche es
aber aus, dass die Klägerin für die Kostentragung gemäß § 89b i.V.m. § 86 Abs. 3, Abs.
2 Satz 4 SGB VIII zuständig gewesen sei. Die Geltendmachung dieser Kosten sei auch
nicht durch § 111 SGB X ausgeschlossen. Zwar liege der Zeitraum, für den die
Leistungen erbracht worden seien, mehr als 12 Monate vor der Anzeige des
Kostenerstattungsanspruchs gegenüber dem Beklagten am 3. Januar 1995. Die Frist
des § 111 SGB VIII beginne nach Satz 2 jedoch erst in dem Moment, in dem der
Kostenerstattungsanspruch entstehe. Jedenfalls in den Fällen, in denen Leistungen
zunächst durch einen dritten Träger erbracht würden, entstehe der
Kostenerstattungsanspruch frühestens mit der Übersendung einer Abrechnung über die
dem dritten Träger entstandenen Kosten. Bedenken gegen die Höhe der im Einzelnen
geltend gemachten Kosten bestünden nicht.
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Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht der Beklagte geltend: Ein Anspruch
auf Kostenerstattung nach § 89e SGB VIII stehe der Klägerin nicht zu. Das Urteil
widerspreche der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts, nach der der
kostenerstattungsrechtliche Schutz des § 89e SGB VIII nur ausgelöst werde, wenn die
Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes oder Jugendlichen in einer
anderen Familie unter Mitwirkung des Jugendhilfeträgers erfolgt sei. Vorliegend sei K.
B. nach Aktenlage zum 2. November 1979 hin ohne Beteiligung des Jugendamtes auf
Grund einer privaten Vereinbarung zwischen der Mutter und der Großmutter in den
großmütterlichen Haushalt gewechselt. Die Großmutter habe zu dieser Zeit in
Norddeutschland außerhalb seines Zuständigkeitsgebietes gelebt. Das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für K. sei erst nachträglich auf Anregung der Großmutter
auf das Jugendamt als Pfleger übertragen worden. K. sei zunächst ohne die
Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen bei der Großmutter verblieben. Sozialhilfe
sei erst nach dem Umzug der Großmutter nach L. ab November 1983, Jugendhilfe erst
ab 1991 bewilligt worden. Hier liege der typische Fall einer Konfliktlösung im
innerfamiliären Bereich vor. Das Jugendamt selbst habe keinen Einfluss auf die
Unterbringung von K. bei der Großmutter gehabt. Durch die gerichtliche Bestellung als
Pfleger zur Absicherung des Aufenthaltsortes von K. sei es erst später punktuell in den
Sachverhalt einbezogen worden. Es bestehe mithin kein Anlass, § 89e SGB VIII auf den
vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Darüber hinaus sei in dem Urteil des
Verwaltungsgerichts die Vorschrift des § 111 SGB X sowohl hinsichtlich der Ansprüche,
die am 1. und 2. Januar 1994 entstanden sein könnten, als auch für die Zeit der
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Inobhutnahme vom 22. Oktober 1993 bis zum 15. November 1993 fehlerhaft
angewendet worden. Über die Tatsache der Inobhutnahme sei die Klägerin spätestens
am 24. November 1993 informiert gewesen, so dass eine Anmeldung der Kosten ohne
Weiteres innerhalb der Jahresfrist möglich gewesen sei.
Der Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen,
22
und - im Wege der Anschlussberufung -
23
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin über den erstinstanzlich ausgeurteilten
Betrag hinaus seit Rechtshängigkeit 4 % Zinsen über dem jeweiligen Basissatz zu
zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Anschlussberufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung macht sie geltend: Die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts
überzeuge nicht. § 89e SGB VIII sei in das Gesetz aufgenommen worden, weil eine dem
§ 104 BSHG entsprechende Regelung gefehlt habe. Ausgangspunkt für die Regelung
des § 89e SGB VIII sei daher § 104 BSHG in der seinerzeit geltenden Fassung. Nach
der ständigen Rechtsprechung der Spruchstellen sei anerkannt gewesen, dass es für
den kostenerstattungsrechtlichen Schutz nach § 104 BSHG nicht auf den Anlass und
die Ursache für den Aufenthalt in der anderen Familie ankomme. Mit dem Begriff der
Unterbringung sei nicht der Vorgang gemeint, sondern das Leben bei einer anderen
Familie oder anderen Personen als den Eltern. Es sei auch nicht von Bedeutung, ob bei
der anderen Familie Kosten entstanden seien und wer diese getragen habe. Diese
Auslegung sei folgerichtig in der Spruchstellenpraxis auf § 89e SGB VIII übertragen
worden. Mit dieser Regelung habe der Gesetzgeber ein den §§ 103 ff. BSHG in der
damaligen Fassung entsprechenden Schutz der Einrichtungsorte in das SGB VIII
aufnehmen wollen. Das im Gesetzgebungsverfahren angeführte Beispiel der
Pflegefamilie bedeute nicht, dass sich der Begriff "andere Familie" allein auf
Pflegefamilien beschränke. Der Begriff der „Pflegeperson" im Sinne des SGB VIII stelle
nämlich nicht darauf ab, ob die betreffende Person eine Pflegeerlaubnis besitze oder die
Aufenthaltsnahme des Minderjährigen dort unter Mitwirkung des Jugendhilfeträgers
erfolgt sei und Jugendhilfeleistungen erbracht würden. Wenn das SGB VIII eine solche
Mitwirkung aber bereits nicht bei einer Pflegeperson voraussetze, so gelte dies erst
recht bei dem weniger einschränkenden Begriff der „anderen Familie". Ein besonderes
Engagement des Jugendhilfeträgers solle durch § 89e SGB VIII nicht geschützt werden,
was sich schon daran zeige, dass nach § 109 SGB X Verwaltungskosten bei einer
Kostenerstattung nicht von Bedeutung seien. Entscheidend sei, dass die
Aufnahmebereitschaft von zur Erziehung geeigneten anderen Familien gefördert werde.
Dies sei durch gute Öffentlichkeitsarbeit und Beratung zu beeinflussen. Diese Tätigkeit
dürfe nicht dadurch unterlaufen werden, dass aus Kostengründen Aufnahmen im
Verwandtenkreis entweder nicht gefördert würden oder ihnen entgegengearbeitet werde
27
und sich der Jugendhilfeträger in diese Pflegeverhältnisse ohne Notwendigkeit
hineindränge. Der systematische Aufbau des § 89e SGB VIII rechtfertige kein anderes
Ergebnis. Die stationäre Aufnahme in eine Einrichtung oder sonstige Wohnform erfolge
nicht grundsätzlich erst nach vorheriger Bedarfsfeststellung durch einen
Sozialhilfeträger. Sie könne auch privat erfolgen und im Falle der Selbstzahler sei
ebenfalls kein Träger der Jugendhilfe eingeschaltet. Eine Mitwirkung des
Jugendhilfeträgers oder die Gewährung von Jugendhilfeleistungen würden bei der
Aufnahme in diese Einrichtungsformen nicht verlangt, um den Schutz des § 89e SGB
VIII auszulösen. Auch im Erstattungsrecht des BSHG sei der Schutz des
Einrichtungsortes nicht von der Gewährung von Sozialhilfe abhängig. Die Kriterien
eines geschützten Einrichtungsaufenthalts seien erfüllt, wenn der gewöhnliche
Aufenthalt zu einem der in § 89e SGB VIII genannten Zwecke und nicht durch einen
üblichen Umzug erfolgt sei. Der Wortlaut und die Gesetzesmaterialien enthielten keinen
Hinweis, dass der Aufenthalt in einer anderen Familie Anforderungen unterliege, die
über das Merkmal der Erziehung und Betreuung hinausgingen. Ungeachtet dessen sei
die Aufenthaltsnahme bei der Großmutter und der weitere Verbleib dort aber auch
erforderlich gewesen, um Gefährdungen für das Kindeswohl auszuschließen. Sie hätten
der Befriedigung eines ansonsten gegebenen jugendhilferechtlichen Bedarfs und somit
eines besonderen öffentlichen Anliegens gedient. Der Aufenthalt bei der Großmutter sei
zudem mit Zustimmung bzw. auf ausdrückliche Bitte des Kreisjugendamtes erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beteiligten und des Landrats des Kreises Harburg Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
29
I. Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
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Die als Leistungsklage statthafte Klage ist zwar auch im Übrigen zulässig.
31
Vgl. zur Statthaftigkeit der Leistungsklage in kostenerstattungsrechtlichen Verfahren:
OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2001 - 12 A 4215/00 -, ZfJ 2002, 307 = ZfSH/SGB
2002, 681; Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4352/01 -, ZfJ 2003, 152, m.w.N.
32
Die Klage ist aber unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch
auf Erstattung der geltend gemachten Kosten für die in der Zeit vom 22. Oktober 1993
bis zum 15. November 1993 und vom 1. Januar 1994 bis 30. September 1997 erbrachte
Jugendhilfe.
33
Die Klägerin kann die begehrte Kostenerstattung nicht nach § 89e Abs. 1 SGB VIII in der
bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993,
BGBl. I S. 637 (SGB VIII F. 1993) bzw. in der unverändert gebliebenen, bis zum 30. Juni
1998 gültigen Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches
Sozialgesetzbuch vom 15. Dezember 1995, BGBl. I S. 1775 (SGB VIII F. 1996)
beanspruchen. Für den Fall, dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen
Aufenthalt der Eltern, eines Elternteils, des Kindes oder des Jugendlichen richtet und
dieser in einer Einrichtung, einer anderen Familie oder sonstigen Wohnform begründet
worden ist, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug
dient, ist nach § 89e Abs. 1 SGB VIII der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten
34
verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung, eine
andere Familie oder sonstige Wohnform den gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
1. Die Voraussetzungen dieser Kostenerstattungsvorschrift sind zunächst insoweit
erfüllt, als sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII
nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Jugendlichen K. B. richtete. Dies hat die
Vorinstanz für die während der Minderjährigkeit der Hilfeempfängerin geleistete
Jugendhilfe bereits zutreffend herausgestellt. Etwas anders gilt auch nicht für die ab
Volljährigkeit geleistete Hilfe. Denn hier setzt sich über § 86a Abs. 4 SGB VIII die bisher
geltende Zuständigkeitsregelung fort. Die für die Hilfe für junge Volljährige über diese
Vorschrift vermittelte Fortgeltung der bisherigen Zuständigkeit steht auch einer
Erstattung dieser Jugendhilfekosten nach § 89e Abs. 1 SGB VIII nicht entgegen.
35
Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2001 - 5 C 42.01 - FEVS 53, 193.
36
2. Entgegen der Auffassung der Klägerin löst der gewöhnliche Aufenthalt von K. B. vor
Aufnahme in den Haushalt ihrer Großmutter indes keine Kostenerstattungspflicht des
Beklagten aus. Zwar erfasst, wie die Vorinstanz zutreffend unter Hinweis auf den
Wortlaut der Erstattungsnorm und die Gesetzesbegründung herausgearbeitet hat, § 89e
Abs. 1 SGB VIII auch eine Kette von Einrichtungsaufenthalten, so dass
kostenerstattungsrechtlich maßgeblich allein der gewöhnliche Aufenthalt vor der
Aufnahme in die erste Einrichtung, andere Familie oder sonstige Wohnform ist.
37
Vgl. auch Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, § 89e Rndr. 6; Schellhorn, in: Schellhorn
SGB VIII/KJHG, § 89e Rdnr. 9.
38
Dabei wäre es für eine kostenerstattungsrechtliche Relevanz des Aufenthalts von K. im
Zuständigkeitsbereich des Beklagten ohne Belang, dass sie sowohl im Kinderhaus S. in
L. als auch im Jugendwohnheim St. T. jeweils gewöhnliche Aufenthalte begründet hatte.
39
An den gewöhnlichen Aufenthalt der minderjährigen K. vor ihrer Aufnahme in den
Haushalt der Großmutter im November 1979 ist aber deshalb im Rahmen des § 89e
Abs. 1 SGB VIII nicht anzuknüpfen, weil K. mit dieser Aufnahme keinen gewöhnlichen
Aufenthalt in einer "anderen Familie" im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII begründete.
40
a) Allerdings handelte es sich bei der Lebensgemeinschaft zwischen K. und ihrer
Großmutter um eine von der Herkunftsfamilie unterschiedene Gemeinschaft zwischen
dem Kind oder Jugendlichen mit zumindest einer Bezugsperson außerhalb des
Elternhauses.
41
Vgl. zur Begrifflichkeit auch Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Rn. 21
zu § 33.
42
Hiergegen spricht auch nicht, dass es sich bei der Großmutter um eine nahe Verwandte
der Hilfeempfängerin handelte. Denn Großeltern gehören nicht zur Herkunftsfamilie, aus
der das Kind bzw. der Jugendliche ursprünglich entstammte.
43
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. September 1996 - 5 C 31.95 -, FEVS 47, 433, 436.
44
b) Die Inpflegenahme der Hilfeempfängerin und der weitere Verbleib bei der Großmutter
auf Bitte des Jugendamts des Beklagten als Aufenthaltsbestimmungspfleger genügte
45
allerdings nicht dem in § 89e Abs. 1 SGB VIII vorausgesetzten Erfordernis der
Mitwirkung des Trägers der Jugendhilfe bei der Begründung des gewöhnlichen
Aufenthalts.
aa) Nach der Rechtsprechung des Senats setzt § 89e Abs. 1 SGB VIII für eine
Kostenerstattungspflicht nach Aufenthaltsnahme in einer Pflegestelle voraus, dass der
Aufenthalt in einer "anderen Familie" unter Mitwirkung des Trägers der Jugendhilfe
erfolgt ist.
46
Die Mitwirkung des Jugendhilfeträgers bei der Begründung des gewöhnlichen
Aufenthalts in einer „anderen Familie" im Sinne von § 89e Abs. 1 SGB VIII erfordert,
dass der Träger der Jugendhilfe zur Befriedigung eines gegenwärtigen
jugendhilferechtlichen Bedarfs tätig wird und eine der im Zweiten Kapitel SGB VIII
aufgeführten Leistungen der Jugendhilfe gewährt. Maßstab für die Beurteilung des
jeweiligen Mitwirkungsakts ist folglich, ob die Beteiligungshandlung öffentlich- rechtlich
zur Erfüllung der in § 2 Abs. 2 SGB VIII erfassten Aufgaben vorgenommen wird. Erst
eine solche Mitwirkung rechtfertigt es, den Schutz nach § 89e SGB VIII eingreifen zu
lassen.
47
Vgl. Urteil des Senats vom 17. Juli 2003 - 12 A 183/00 -.
48
An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch unter Berücksichtigung des hiergegen
gerichteten Vorbringens der Klägerin weiterhin fest. Ihre Argumentation wie auch die in
den von ihr zitierten Spruchstellenentscheidungen berücksichtigt nicht hinreichend die
besondere Bedeutung des Schutzzwecks des § 89e SGB VIII für die Auslegung seines
Regelungsinhalts. Mag der Wortlaut der in § 89e Abs. 1 SGB VIII getroffenen Regelung
für sich nicht eindeutig sein, gebietet der Schutzzweck jedenfalls eine teleologische
Reduktion im oben dargelegten Sinn.
49
§ 89 e SGB VIII bezweckt - wie bereits seine gesetzliche Überschrift ausweist - den
"Schutz der Einrichtungsorte". Hiermit soll verhindert werden, dass kommunale
Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, in denen
Kinder, Jugendliche oder ihre Eltern einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, im
Verhältnis zu kommunalen Gebietskörperschaften ohne eine solche Infrastruktur
überproportional finanziell belastet werden.
50
Vgl. die Begründung des Entwurfs eines ersten Gesetzes zur Änderung des Achten
Buches Sozialgesetzbuch, BT-Drucks. 12/2866, S. 25 zu § 89 e SGB VIII.
51
Der Schutz der Einrichtungsorte vor unbilligen Kostenbelastungen hat in der Jugend-
und Sozialhilfe seit jeher einen besonderen Stellenwert und war auch bereits unter
Geltung des Jugendwohlfahrtgesetzes über den in § 83 Abs. 1 JWG erfolgten Verweis
auf die Kostenerstattungsvorschriften des Bundessozialhilfegesetzes gesetzlich
verankert. Der Gesetzgeber hat diesen Schutz hinsichtlich der Unterbringungsformen
„Einrichtung" und „sonstige Wohnform" in § 89e SGB VIII aufgenommen, um die
Vorhaltung und das Betreiben einer jugendhilferechtlichen Infrastruktur, die
überörtlichen Bezug aufweist, kostenerstattungsrechtlich nicht zu hintertreiben.
52
Vgl. zu dem Aspekt des überörtlichen Einzugsbereichs Krug-Grüner-Dalichau, Kinder-
und Jugendhilfe, Kommentar, § 89e, S.5; siehe auch
Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, a. a. O.,§ 89e Rn.1. und Frankfurter Lehr- und
53
Praxiskommentar zum KJHG/SGB VIII, 3. Aufl., Stand 1.1.1999, § 89e Rdnr. 1.
Damit ist es für den kostenerstattungsrechtlichen Schutz in Bezug auf diese
Einrichtungsformen, wie die Klägerin zu Recht ausführt, nicht von Bedeutung, ob die
Aufnahme dort privat erfolgt oder ob die mit dem stationären Aufenthalt verbundenen
Zahlungen selbst erbracht oder im Rahmen von Sozialleistungen von der öffentlichen
Hand zur Verfügung gestellt werden. Anknüpfend an die im Urteil vom 17. Juli 2003 - 12
A 183/00 - näher beschriebene Intention des Gesetzgebers, Pflegestellen in den Schutz
der Einrichtungsorte einzubeziehen, um eine Ungleichheit zwischen einer
Heimunterbringung und der Aufnahme in einer Pflegefamilie zu beheben, ist der
kostenerstattungsrechtliche Schutz auch der Aufnahme in eine andere Familie indes
gerade dieses gleichheitsrechtlichen Ansatzes wegen nicht an das Bestehen einer
bestimmten Infrastruktur geknüpft. Schlicht auf das Vorhandensein von Familien
abzustellen, wäre zu weitgehend, weil damit keinerlei Unterschied zwischen den
einzelnen Orten markiert wäre. Es entbehrte dann jeden Sinnes, von einem
Einrichtungsort zu sprechen. Auf das Vorhandensein unabhängig von einem konkreten
Bedarf bereitstehender Pflegefamilien abzustellen, wäre hingegen zu eng, da damit die
kostenerstattungsrechtlich schutzbedürftigen Fälle nicht erfasst würden, in denen
gerade zur Befriedigung eines konkreten jugendhilferechtlichen Bedarfs eine Familie
erst zur Pflegefamilie wird. Um diesen Fällen im gebotenen Umfang Rechnung zu
tragen, tritt bei der Aufnahme in eine andere Familie an die Stelle des in § 89e SGB VIII
für die anderen Unterbringungsformen vorausgesetzten Merkmals des Vorhandenseins
der Einrichtung das Kriterium der Mitwirkung eines Jugendhilfeträgers bei der Aufnahme
zur Deckung eines jugendhilferechtlichen Bedarfs.
54
bb) Eine solche Mitwirkung lag in dem Handeln des Jugendamts des Beklagten im
November 1979 nicht. Hierbei spielt zunächst keine Rolle, dass Anknüpfungspunkt für
diese rechtliche Einordnung Geschehensabläufe sind, die sich weit vor dem Inkrafttreten
der maßgeblichen Erstattungsvorschrift zum 1. April 1993 zugetragen haben. Denn § 89
e Abs. 1 SGB VIII ist, wie die Vorinstanz zu Recht betont hat, ohne Übergangsregelung
in Kraft getreten und damit auf den hier streitigen Leistungszeitraum anwendbar. Soweit
dies dazu führt, dass an Aufenthaltsverhältnisse angeknüpft wird, die zeitlich schon vor
dem Inkrafttreten der Erstattungsnorm liegen, ist dies als "unechte Rückwirkung" bzw.
"tatbestandliche Rückanknüpfung" verfassungsrechtlich unbedenklich.
55
Vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 18. Mai 2000 - 5 C 27.99 -,
FEVS 51, 546 (549) m.w.N.
56
Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kleinkinds K. im November 1979 im
Haushalt ihrer Großmutter in C. -O. vollzog sich zwar unter Einbeziehung des
Beklagten. Erst die von seinem Jugendamt nach Bestellung zum Aufenthaltspfleger
durch Beschluss des Amtsgerichts X. vom 22. November 1979 im Schreiben vom 26.
November 1979 an die Großmutter geäußerte Bitte, K. bis auf Weiteres in ihre Wohnung
aufzunehmen, verfestigte den Aufenthalt von K. bei ihrer Großmutter.
57
Diese Mitwirkung des Beklagten unter Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes bei der
Aufenthaltsbegründung genügte aber nicht, den Anwendungsbereich des § 89 e Abs. 1
SGB VIII zu eröffnen. Der Beklagte ist nämlich ausschließlich im Rahmen des seinem
Jugendamt zugewiesenen Aufgabenbereichs "Vormundschaftswesen" (vgl. § 4 Nr. 2
JWG) tätig geworden, und nicht etwa, um erzieherische und wirtschaftliche Einzelhilfen
nach §§ 5, 6 JWG zu leisten. Damit ist das Jugendamt zur Bewerkstelligung einer rein
58
innerfamiliären Lösung an die Stelle einer Privatperson getreten.
Scheidet damit der kostenerstattungsrechtliche Schutz für den Aufenthalt der
Hilfeempfängerin bei ihrer Großmutter aus und ist deshalb ein
Kostenerstattungsanspruch der Klägerin nicht gegeben, so stellen sich die übrigen,
zwischen den Beteiligten kontrovers behandelten Fragen nicht mehr.
59
II. Die nach § 127 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen Fassung (vgl. §
194 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.d.F. von Art. 1 Nr. 28 des Gesetzes zur Bereinigung des
Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess vom 20. Dezember 2001 - BGBl. I S. 3987 -)
zulässige Anschlussberufung der Klägerin ist unbegründet. Nach den vorstehenden
Ausführungen steht ihr bereits kein Anspruch auf die Hauptforderung zu, sodass sie
auch die mit der Anschlussberufung allein geltend gemachten Zinsen nicht
beanspruchen kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des
Verfahrens ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001
geltenden Fassung (vgl. § 194 Abs. 5 VwGO i.d.F. von Art. 1 Nr. 28 des Gesetzes zur
Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess vom 20. Dezember 2001 -
BGBl. I S. 3987 -).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO, §§
708 Nr. 10, 711 ZPO.
62
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil nach wie vor
umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt ist, ob die Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthalts in einer „anderen Familie" im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII eine unter
Mitwirkung des Jugendamts zur Deckung eines jugendhilferechtlichen Bedarfs erfolgte
Aufenthaltsnahme erfordert und welche Anforderungen diese Beteiligung des
Jugendhilfeträgers erfüllen muss.
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