Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.02.2009

OVG NRW: unbestimmter rechtsbegriff, lebensstellung, angemessenheit, ermessen, bruttoeinkommen, familie, ermächtigung, zumutbarkeit, sozialhilfe, heizung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 2931/08
03.02.2009
Oberverwaltungsgericht NRW
12. Senat
Beschluss
12 A 2931/08
Verwaltungsgericht Köln, 26 K 3905/07
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beigeladene trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu den - sinngemäß geltend gemachten - ernstlichen
Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es vermag die entscheidungstragende Annahme
des Verwaltungsgerichts, die Erteilung der Zustimmung sei ermessenfehlerhaft erfolgt, weil
der Widerspruchsausschuss beim Integrationsamt des Beklagten zu Unrecht davon
ausgegangen sei, dass der dem Kläger mit der Änderungskündigung angebotene andere
Arbeitsplatz nicht i.S.v. § 89 Abs. 2 SGB IX angemessen sei, nicht in Frage zu stellen.
Soweit eine Verwaltungsbehörde - wie hier - ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu
handeln, ist das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO auf die Prüfung beschränkt, ob der
Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht
entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist; eine eigene Ermessensentscheidung ist
dem Gericht versagt.
Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung nach § 114 VwGO ist hier die Ermes-
sensentscheidung über die Erteilung der Zustimmung in der Gestalt, die sie durch den
Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt des Beklagten
vom 21. August 2008 erlangt hat. In dieser Entscheidung ist der Widerspruchsausschuss -
anders als das Integrationsamt in seinem Bescheid über die Erteilung der Zustimmung vom
24. Januar 2001 - davon ausgegangen, dass der dem Kläger angebotene andere
Arbeitsplatz sowohl angemessen als auch zumutbar i.S.v. § 89 Abs. 2 SGB IX sei. Er hat
damit die in § 89 Abs. 2 SGB IX für diesen Fall normierte Einschränkung ("Das
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Integrationsamt soll die Zustimmung erteilen, ...") des ansonsten bei einer Entscheidung auf
der Grundlage des § 88 SGB IX bestehenden freien Ermessens,
vgl. zu den insoweit maßgebenden Abwägungskriterien etwa: BVerwG, Beschluss vom 5.
Dezember 2006 - 5 B 171.06 -, Juris, m.w.N.
als gegeben angesehen und dementsprechend eine Entscheidung ohne die im Rahmen
des freien Ermessens erforderliche Aufklärung und Abwägung sämtlicher
schwerbehindertenrelevanter Einzelfallgesichtspunkte getroffen. Trifft die die Erteilung der
Zustimmung tragende Annahme des Beklagten - der dem Kläger angebotene andere
Arbeitsplatz sei sowohl angemessen als auch zumutbar i.S.v. § 89 Abs. 2 SGB IX - nicht zu,
ist die Zustimmung rechtswidrig, weil dann die konkret getroffene und allein der
gerichtlichen Überprüfung unterliegende Ermessensentscheidung auf unzutreffenden
rechtlichen Voraussetzungen (bestehende rechtliche Bindung) beruht und
dementsprechend i.S.d. § 114 VwGO von dem tatsächlich nach § 88 SGB IX bestehenden
freien Ermessen in einer dem Zweck dieser Ermächtigung nicht entsprechenden Weise
Gebrauch gemacht worden ist.
So liegt der Fall hier. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der
dem Kläger angebotene andere Arbeitsplatz nicht i.S.d. § 89 Abs. 2 SGB IX angemessen
ist. Die Angemessenheit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und unterliegt daher der
uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung. Die Frage, wann der andere Arbeitsplatz
"angemessen" ist, lässt sich nicht nach den Wünschen des Schwerbehinderten
beantworten. "Angemessen" ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
die auf der Grundlage älterer Rechtsvorschriften zum Schwerbehindertenrecht (ohne das
Kriterium der Zumutbarkeit) ergangen ist, der Arbeitsplatz, der nach Entgelt und Art der
Tätigkeit den Fähigkeiten, den durch die Behinderung bedingten Einsatzmöglichkeiten und
der Vorbildung des Schwerbehinderten entspricht.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 1966
- V C 62.64 -, BVerwGE 23, 123 ff., zu § 18 Abs. 2 Buchst. a SchwbG; Urteil vom 15. April
1959
- V C 162.56 -, BVerwGE 8, 234 ff. zu § 13 Abs. 1 Satz 2 SchwBG.
Ob und inwieweit nach der Einfügung des Zumutbarkeitskriteriums durch das Gesetz zur
Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtengesetzes vom 24. April 1974, BGBl. I S. 981,
die Begriffe der Angemessenheit und der Zumutbarkeit des anderen Arbeitsplatzes sich
insbesondere in Bezug auf das mit dem anderen Arbeitsplatz verbundene Entgelt inhaltlich
überschneiden,
vgl. hierzu etwa: OVG Rhl.-Pf., Urteil vom 28. November 1996 - 12 A 10457/96 -,
Behindertenrecht 1997, 210,
kann dahinstehen, da es hier auf etwaige Abgrenzungsfragen nicht ankommt.
Das Entgelt für den anderen Arbeitsplatz braucht nicht dem für den vorhergehenden
Arbeitsplatz zu entsprechen. Es kann auch geringer sein, sofern dadurch nicht "die
Lebensstellung als solche verschlechtert wird".
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 1966
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- V C 62.64 -, a.a.O. (126); zum Vorliegen einer unangemessenen Schlechterstellung bei
einer Einkommensminderung von 433,00 DM brutto auf 347,00 DM brutto Anfang der 50-
iger Jahre: Landesverwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 28. April 1953 - 6 K 24/53 -,
BB 1954, 320.
Der Umstand, dass - wie hier die Beigeladene geltend macht - die Arbeit auf dem anderen
Arbeitsplatz tarifgerecht entlohnt wird, beseitigt danach nur ein Hindernis für die
Anerkennung des anderen Arbeitsplatzes als angemessen, ist jedoch für die Beurteilung
der Angemessenheit des anderen Arbeitsplatzes nicht allein ausschlaggebend.
Vgl. hierzu schon: Landesverwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 28. April 1953 - 6 K
24/53 -, a.a.O.
Von einer "Verschlechterung der Lebensstellung als solche" ist im vorliegenden Fall
auszugehen. Nach den - nicht in Frage gestellten - Berechnungen des Integrati- onsamtes
in seinem Bescheid vom 24. Januar 2007 würde der monatliche Einkommensverlust durch
die Veränderung der Eingruppierung am neuen Arbeitsplatz von Lohngruppe A7 nach
Lohngruppe A4 und durch den Wegfall der außertariflichen Zulage von 558,88 Euro
insgesamt rd. 900,00 Euro (Integrationsamt: 912,00 Euro) betragen. Bei einem monatlichen
Gesamtbruttoeinkommen des Klägers auf seinem bisherigen Arbeitsplatz von ca. rd.
2.400,00 Euro führte dies zu einer Verringerung des monatlichen Bruttoeinkommens auf ca.
1.500,00 Euro; die Verringerungsquote würde 37,5 % betragen. Schon allein eine derart
hohe Einkommensminderung von rd. 900,00 Euro bzw. 37,5 % würde angesichts des
bisherigen, ohnehin nicht hohen monatlichen Bruttoeinkommens auch unter
Berücksichtigung eines fortlaufenden Kindergeldbezuges einerseits und der mit dem
niedrigeren Bruttoeinkommen verbundenen niedrigeren Steuer- und
Sozialversicherungslasten andererseits ersichtlich eine gravierende Verschlechterung der
"Lebensstellung als solche" bewirken. Hinzu kommt der mit dieser gravierenden
Einkommensminderung einhergehende soziale Abstieg. Bei einem auf dem anderen
Arbeitsplatz verbleibenden monatlichen Bruttoeinkommen von lediglich ca. 1.500,00 Euro
würde der Kläger mit seiner Familie
(Ehefrau und vier unterhaltsberechtigte Kinder) aufgrund der - wenn auch geringeren, so
doch nicht gänzlich entfallenden - Belastung durch Steuern und
Sozialversicherungsabgaben und der zusätzlich für Wohnung und Heizung zu tragenden
Aufwendungen auch unter Berücksichtigung eines zusätzlichen Bezugs von Kindergeld in
Höhe von monatlich 641,00 Euro (3x 154,00 Euro + 1x 179,00 Euro) in das Umfeld der
Sozialhilfe zurückgestuft, da in Nordrhein-Westfalen schon allein die im Zeitpunkt der
Kündigung geltenden Regelsätze für eine Familie mit vier Kindern unter 14 Jahren
Leistungen von insgesamt 1.449,00 Euro vorsehen und darüber hinaus zusätzliche
Leistungen für Unterkunft und Krankenfürsorge erfolgen; bei älteren Kindern würde sich der
Regelsatzbetrag sogar noch entsprechend erhöhen.
Vgl. Verordnung über die Regelsätze der Sozialhilfe vom 13. Juni 2006, GV. NRW. S. 291:
Haushaltungsvorstand - 345 EURO -, für sonstige Haushaltsangehörige ab Vollendung des
14. Lebensjahres - 276 EURO -, für sonstige Haushaltsangehörige bis zur Vollendung des
14. Lebensjahres - 207 EURO -)
Dem in den Ermessenserwägungen des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt
des Beklagten und in der Begründung des Zulassungsantrags thematisierten Umstand,
dass mit der Änderungskündigung wegen des Wegfalls des bisherigen Arbeitsplatzes eine
Beendigungskündigung vermieden werden sollte, kommt hier kein eigenes
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abwägungsrelevantes Gewicht zu. Vielmehr hat die Beigeladene mit der
Änderungskündigung und dem Angebot eines anderen - nach ihrer Darstellung geeigneten
und freien - Arbeitsplatzes als Vorarbeiter im Hauptbahnhof L. lediglich ihrer in einem
solchen Fall bestehenden arbeitsvertraglichen Verpflichtung genügt, dem Arbeitnehmer
entsprechend dem auch im Arbeitsrecht geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor
jeder ordentlichen Beendigungskündigung von sich aus eine Beschäftigung auf einem
geeigneten freien Arbeitsplatz auch zu geänderten Arbeitsbedingungen anzubieten.
Std. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts, vgl. etwa: Urteil vom 3. April 2008 - 2 AZR 500/06 -,
NZA 2008, 812, m.w.N.
Unabhängig davon sind der hier maßgebenden Ermessensbetätigung des
Widerspruchsausschusses Erwägungen darüber, dass im Falle einer beabsichtigten
Beendigungskündigung nach Aufklärung sämtlicher abwägungsrelevanter Umstände
- hier nicht zuletzt des Geschehens um die Aufgabe der Vorbehalte gegen die
Kontrolltätigkeiten seitens des Klägers und die Übertragung seines bisherigen
Tätigkeitsbereichs sowie der hinzugekommenen Kontrolltätigkeiten auf einen
Nachunternehmer - die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes mit der Folge einer
realistischen Gefahr des endgültigen Arbeitsplatzverlustes für den Kläger rechtmäßig hätte
erteilt werden können, nicht einmal ansatzweise zu entnehmen.
Auf die weiteren Darlegungen der Beigeladenen dazu, dass die Änderungskündigung
"jedenfalls nicht offensichtlich unwirksam" sei, kommt es danach nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 und 3, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das Urteil des
Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).