Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2008

OVG NRW: aphasie, beihilfe, vollmacht, genehmigung, schlaganfall, vollstreckung, psychotherapie, psychiatrie, rechtskraft, bier

Oberverwaltungsgericht NRW, 6 A 670/06
Datum:
16.12.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
6 A 670/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 19 K 4139/04
Tenor:
Die Berufung wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Klage als
unzulässig abgewiesen wird.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von
110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte
Land vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu
vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 10.000 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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I.
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Die Klägerin, eine Ruhestandsbeamtin des beklagten Landes, erlitt am 11. November
2002 einen Schlaganfall mit einer rechtsseitigen Hemiparese und einer globalen
Aphasie, die sich in einer fast aufgehobenen Sprachproduktion sowie einem schwer
beeinträchtigten Sprachverständnis äußert. Nach ärztlicher Feststellung ist die Klägerin
seither weder in der Lage, gestellte Fragen zu verstehen, zu lesen oder zu schreiben,
noch im Stande, selbst ganz einfache Aufforderungen, wie „Augen schließen" oder „Arm
hochheben", zu befolgen.
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Am 30. Januar 2004 beantragte der Sohn der Klägerin, ihr späterer
Prozessbevollmächtigter erster Instanz, zunächst formlos und sodann am 9. Februar
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2004 unter Verwendung des vorgeschriebenen Formulars die Gewährung einer Beihilfe
zu insgesamt 144 Rechnungen über krankheitsbedingte Aufwendungen in einer
Gesamthöhe von rund 55.000 EUR. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung
(LBV) lehnte diesen Antrag durch Bescheide vom 10., 12. und 16. Februar 2004 unter
anderem in Höhe eines der Klageforderung entsprechenden Teilbetrags (9.066,04
EUR) mit der Begründung ab, dass die diesbezüglichen Aufwendungen nicht binnen
der Jahresfrist des § 13 Abs. 3 BVO geltend gemacht worden seien.
Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs berief sich der Sohn der
Klägerin darauf, dass seine Mutter aufgrund ihrer Erkrankung die Frist unverschuldet
versäumt habe; ihm selbst seien die Rechnungen erst am 24. Januar 2004 bekannt
geworden, als sein Bruder bei der Suche nach Krankenversicherungsunterlagen an den
verschiedensten Orten im Hause seiner Eltern auf die betreffenden Schriftstücke
gestoßen sei. Mit Bescheid vom 30. April 2004 wies das LBV den Widerspruch zurück.
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Die rechtzeitig erhobene Klage mit dem Antrag,
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das beklagte Land unter Änderung der Beihilfebescheide des LBV vom 10., 12. und 16.
Februar 2004 und unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2004 zu
verpflichten, der Klägerin eine weitere Beihilfe in Höhe von 9.066,04 EUR zu gewähren,
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hat das Verwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen. Eine unverschuldete
Fristversäumung liege nicht vor. Die Klägerin müsse sich jedenfalls das Verschulden
ihres Sohnes zurechnen lassen, dem sie unter dem 22. September 2003 eine Vollmacht
für ihre Beihilfeangelegenheiten erteilt habe. Diesem habe es sich aufdrängen müssen,
dass wegen der Krankheit der Klägerin eine Vielzahl von Rechnungen zu erwarten
gewesen sei, zu deren Bearbeitung sie nicht im Stande sein würde. Er habe sich
deshalb Gewissheit darüber verschaffen müssen, ob nicht noch weitere Rechnungen
vorgelegen hätten, und deren unverzügliche Weitergabe an ihn sicherstellen müssen.
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Gegen dieses Urteil hat die Klägerin einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
Während des Zulassungsverfahrens hat das Amtsgericht Brühl mit Beschluss vom 12.
Juni 2007 - 80 XVII M 124/07 - für die Klägerin einen Betreuer bestellt, dessen
Aufgabenkreis unter anderem die Vermögenssorge und Gesundheitsfürsorge sowie die
Vertretung bei Behörden umfasst. Der Betreuer hat eine Genehmigung der bisherigen
Verfahrenshandlungen abgelehnt.
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Mit der vom Senat zugelassenen Berufung beantragt die Klägerin,
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das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage durch Prozessurteil abzuweisen.
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Nach Anhörung haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch Beschluss
gemäß § 130a VwGO einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
Verwaltungsvorgänge des LBV (Beiakte Heft 1) verwiesen.
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II.
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Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 130a VwGO. Er hält die Berufung
einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich.
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Die Berufung ist im Wesentlichen zurückzuweisen, allerdings nur mit der aus der
Beschlussformel ersichtlichen Maßgabe. Für eine Aufhebung des angefochtenen Urteils
ist entgegen dem Berufungsantrag kein Raum.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Es hätte
allerdings nicht in der Sache entscheiden dürfen. Die Klage war unzulässig, weil die
Klägerin schon bei Klageerhebung prozessunfähig (§ 62 Abs. 1 VwGO) und nicht nach
Vorschrift der Gesetze vertreten war. Daran hat sich auch im zweitinstanzlichen
Verfahren nichts geändert; der inzwischen bestellte Betreuer der Klägerin hat eine
Genehmigung der bisherigen Prozessführung vielmehr ausdrücklich abgelehnt.
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Im erstinstanzlichen Verfahren muss der von Amts wegen zu berücksichtigende Mangel
der Prozessfähigkeit (§ 56 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 62 Abs. 4 VwGO) zur Konsequenz
haben, dass die Klage als unzulässig abgewiesen wird. Entscheidet das
Verwaltungsgericht stattdessen in der Sache, ist dessen Urteil auf die Berufung hin
durch ein Prozessurteil zu ersetzen.
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Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. April 1975 - VIII A 1.73 -, BVerwGE 48,
201.
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Hierdurch wird zum Schutz der prozessunfähigen Partei verhindert, dass das an einem
Verfahrensverstoß leidende Urteil erster Instanz in Rechtskraft erwachsen, nur noch mit
der Nichtigkeitsklage beseitigt werden und bis dahin einem späteren - prozessual
ordnungsgemäßen - Rechtsschutzgesuch entgegengehalten werden könnte. Dem
entspricht es, dass die prozessunfähige Partei im Interesse vollständiger
Rechtsschutzgewährung für das Berufungsverfahren als prozessfähig behandelt werden
muss, die Berufung also nicht etwa als unzulässig zurückgewiesen werden darf.
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Vgl. im einzelnen Bundesgerichtshof, Urteil vom 4. November 1999 - III ZR 306/98 -,
BGHZ 143, 122; ferner Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 62 Rn. 19;
Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 62 Rn. 65.
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Dass die Klägerin schon bei Einleitung des erstinstanzlichen Verfahrens
geschäftsunfähig und infolgedessen prozessunfähig (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) war und
weiterhin prozessunfähig ist, ergibt sich zweifelsfrei aus den in zweiter Instanz
vorgelegten gutachterlichen Äußerungen der Fachklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie in A. . Die Gutachter Dr. N. , Dr. N. und Dr. N. haben anhand des
schweren Krankheitsbildes im Einzelnen dargestellt, dass Sprechvermögen und
Sprachverständnis der Klägerin praktisch aufgehoben sind. Die Klägerin sei nicht in der
Lage, gestellte Fragen zu verstehen oder einfachste Aufforderungen zu befolgen. Sie
müsse ab November 2002 als geschäftsunfähig angesehen werden. Leichte
Besserungen unter intensiver Therapie seien so minimal gewesen, dass sie an diesem
Befund nichts geändert hätten.
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Diese Aussagen stimmen mit den Feststellungen überein, die ärztlicherseits unmittelbar
nach dem Schlaganfall im November 2002 getroffen worden sind. Der mit der
Behandlung der Klägerin befasste Chefarzt Dr. C. , St. Katharinen-Hospital G. , hat
hierzu ausgeführt, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, ihre
Angelegenheiten selbst zu besorgen. Auch der für die Frührehabilitation der Klägerin
verantwortliche Privatdozent Dr. S. , Neurologische/Neurochirurgische
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Rehabilitationsklinik in L. -N. , ist zu dem Ergebnis gelangt, dass auch nach Abschluss
dieser Maßnahme weiterhin eine "globale Aphasie mit Tendenz zur Brocca-Aphasie
sowie ein Sprechapraxie" bestehe und die Patientin nur langsam „Einzelworte oder
auch Satzteile (Redefloskeln) in der Spontansprache" äußern könne.
Die Klägerin war nach alledem weder in der Lage, das erstinstanzliche Verfahren selbst
zu führen, noch im Stande, ihrem damals für sie tätig gewordenen Sohn wirksam eine
Prozessvollmacht zu erteilen. Insoweit gilt nichts anderes als für die unter dem 22.
September 2003 ausgestellte Vollmacht zur Regelung der Beihilfeangelegenheiten, die
- wie zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten bemerkt sei - mangels Geschäftsfähigkeit
der Klägerin keine rechtlichen Wirkungen äußern konnte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zu ihrer
vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO, § 127
BRRG).
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 40, § 47, § 52 Abs. 3 GKG.
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