Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.08.2005

OVG NRW: rechtliches gehör, gehweg, breite, gerichtsakte, einbau, dokumentation, alter, motiv, beitragspflicht, unmöglichkeit

Oberverwaltungsgericht NRW, 15 A 2267/05
Datum:
15.08.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 A 2267/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 18 K 799/04
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt der Kläger.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 571,94 EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag hat keinen Erfolg, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht
vorliegen oder bereits nicht hinreichend dargelegt i.S.d. § 124a Abs. 4 Satz 4 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sind.
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Der Zulassungsgrund eines der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden
Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) ist nicht gegeben. Der Anspruch des
Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO ist nicht deshalb
verletzt worden, weil ihm keine Möglichkeit gegeben worden wäre, sich zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern.
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Dies gilt zum einen für den geltend gemachten Umstand, dass in dem ebenfalls den hier
streitbefangenen Ausbau betreffenden Parallelverfahren 18 K 870/04, in dem die
Prozessbevollmächtigten des Klägers im vorliegenden Verfahren ebenfalls als
Prozessbevollmächtigte bestellt waren, Lichtbilder von der dortigen Klägerseite
eingereicht und im vorliegenden Verfahren verwertet worden seien, obwohl sie nicht in
das vorliegende Verfahren eingeführt worden seien. Der Kläger hatte über seinen
Prozessbevollmächtigten ausreichend Gelegenheit, sich zu diesen Lichtbildern zu
äußern.
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Das Gericht darf die Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen auf den Inhalt
beigezogener und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachter Akten
stützen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. November 1996 - 2 B 47.96 -, juris-Nr. WBRE
410002776, Abs. 6; Beschluss vom 13. September 1988 - 1 B 22.88 -, Buchholz 402.24
§ 24 AuslG Nr. 12, S. 16.
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Entgegen der Auffassung des Klägers sind die genannten Lichtbilder auch zum
vorliegenden Verfahren beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gemacht worden. Die Verwaltungsgerichtsordnung enthält keine Vorschriften darüber,
wie eine derartige Beiziehung zum Verfahren und Einbeziehung in die mündliche
Verhandlung erfolgt. Bei einem Einzelverfahren geschieht die Beiziehung dadurch, dass
Verfahrensbeteiligte die Unterlage zu den Akten reichen oder das Gericht Unterlagen
anfordert (§§ 87 Abs. 1 Nr. 2 - 4, 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Verfahrensbeteiligten
erhalten davon Kenntnis, und damit wird ihnen rechtliches Gehör gewährt, indem das
Gericht ihnen die Schriftsätze, mit denen Unterlagen bezeichnet und übersandt werden,
zur Kenntnis gibt oder die Beiziehung selbst mitteilt oder von der gerichtlichen
Anforderung von Unterlagen gemäß § 173 Satz 1 VwGO, § 273 Abs. 4 Satz 1 der
Zivilprozessordnung (ZPO) Nachricht gibt. So beigezogene Akten sind regelmäßig ohne
weiteres auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung, ohne dass dies ausdrücklich
protokolliert werden müsste.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Dezember 1988 - 3 B 29.88 -, Buchholz 310 § 86 Abs.
2 VwGO Nr. 36 S. 7 f.
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Neben einer so ausdrücklichen Beiziehung von Vorgängen zu einem gerichtlichen
Verfahren kann darüber hinaus in Parallelverfahren, also solchen Verfahren, bei denen
ein Vorgang von Bedeutung für alle Verfahren ist, aber formell nur als Beiakte zu einem
gerichtlichen Verfahren (gewöhnlich dem Leitverfahren) geführt wird, auch eine
stillschweigende Beiziehung für alle Verfahren erfolgen. Für eine wirksame Beiziehung
zu allen Verfahren ist dann allerdings Voraussetzung, dass erstens alle
Verfahrensbeteiligten Kenntnis davon erhalten, dass die Beiziehung zu einem
bestimmten Parallelverfahren erfolgte, und dass zweitens für die Verfahrensbeteiligten
erkennbar ist, dass die Unterlage auch für ihre jeweiligen Verfahren relevant ist. Nur so
kann der Forderung des § 108 Abs. 2 VwGO genügt werden, dass auch die Beteiligten
derjenigen Verfahren, in denen die Unterlage nicht zur Gerichtsakte genommen oder als
Beiakte dazu geführt wird, sich zu der Unterlage äußern können.
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Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinsichtlich
der zum Verfahren 18 K 870/04 gereichten Lichtbilder nicht dadurch verletzt worden,
dass sie im vorliegenden Verfahren verwertet wurden. Die im Verfahren 18 K 870/04
eingereichten Lichtbilder zeigen ausweislich der Seite 10 des angegriffenen Urteils den
Zustand der Straße vor dem Ausbau und betrafen somit die Beitragsfähigkeit der
Ausbaumaßnahme. Erkennbar haben sie daher nicht nur Bedeutung für das Verfahren
18 K 870/04, sondern für alle Verfahren. Die Prozessbevollmächtigten des vorliegenden
Verfahrens hatten auch Kenntnis von der in jenem Verfahren eingereichten Unterlage,
denn sie waren Prozessbevollmächtigte der Klägerseite auch jenes Verfahrens. Diese
ihre Kenntnis ist dem in diesem Verfahren vertretenen Kläger zuzurechnen. Damit lag
eine wirksame stillschweigende Beiziehung der Lichtbilder auch zum vorliegenden
Verfahren vor. Sie konnten damit zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gemacht werden, die - wie auch alle übrigen von den Prozessbevollmächtigten
vertretenen Verfahren - auf den 10. Mai 2005 um 09.30 Uhr angesetzt war. Einer
Verwertung im vorliegenden Verfahren stand damit nichts im Wege.
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Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Beiakte 3 ausdrücklich Gegenstand des
vorliegenden Verfahrens geworden, da sie mit Schriftsatz des Beklagten vom 12. März
2004 (Bl. 27 der Gerichtsakte) zum vorliegenden Verfahren eingereicht wurde. Auch
diese Beiakte konnte damit verwertet werden. Dass die Prozessbevollmächtigten deren
Inhalt nicht zur Kenntnis genommen haben, ist unerheblich. Für die Gewährung
rechtlichen Gehörs ist allein maßgeblich, dass sie durch Akteneinsicht (§ 100 Abs. 1
VwGO) hätten Kenntnis nehmen können (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).
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Vgl. dazu, dass das Risiko, dass der Verfahrensbevollmächtigte
Äußerungsmöglichkeiten nicht in sachlich gebotener Weise für seine Partei nutzt, auch
unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs der Partei auferlegt werden kann,
BVerfG, Beschluss vom 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 -, BVerfGE 81, 123 (126).
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Soweit der Kläger unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör rügt, das Verwaltungsgericht habe auf nicht veröffentlichte
Gerichtsentscheidungen Bezug genommen, wird damit schon vom Ansatz her der
gerügte Verfahrensfehler nicht begründet. Gegenstand des rechtlichen Gehörs sind
Tatsachen und Beweisergebnisse (§ 108 Abs. 2 VwGO), keine Rechtserkenntnisse.
Auch der rechtsstaatliche Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung,
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vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 26. April 1988 - 1 BvR 669/87 u.a. -, BVerfGE 78, 123
(126),
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gebietet keine den sachlichen Bereich des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs
allgemein erweiternde Einräumung einer Äußerungsmöglichkeit.
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Schließlich ist der gerügte Aufklärungsmangel (§ 86 Abs. 1 VwGO), weil das
Verwaltungsgericht keinen Ortstermin durchgeführt hat, nicht hinreichend dargelegt.
Dazu hätte begründet werden müssen, wegen welcher festzustellenden tatsächlichen
Umstände sich eine Augenscheinseinnahme aufgedrängt hätte. Der genannte Umstand,
dass die Behauptung des Beklagten falsch sei, das Pflaster sei in großen Teilen zerstört
und nicht wiederverwendbar gewesen, ist jedenfalls kein tauglicher Gesichtspunkt für
eine Augenscheinseinnahme, da das vom Ausbau betroffene Pflaster bereits beseitigt
war.
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Schließlich liegen auch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vor (§
124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), weil das Verwaltungsgericht die auf den Seiten 5 - 8 der
Antragsbegründung bezeichneten Besonderheiten wegen einer zu Unrecht
vorgenommenen Verallgemeinerung von Entscheidungen des beschließenden Gerichts
unberücksichtigt gelassen habe. Entgegen der Ansicht des Klägers ist es ein
verallgemeinerungsfähiger Rechtsgrundsatz des beschließenden Gerichts, dass der
erstmalige Einbau einer Frostschutzschicht eine beitragsfähige Verbesserung i.S.d. § 8
Abs. 2 Satz 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (KAG
NRW) darstellt.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. August 2004 - 15 A 2957/04 -, S. 2 des amtl.
Umdrucks; Beschluss vom 14. November 1997 - 15 A 529/95 -, OVGE 46, 220 (221 f.).
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Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Neuerstellung eines im
Ausbauzeitpunkt rund 75 Jahre alten Gehweges auch ohne eine Verbesserung durch
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Einbau einer Frostschutzschicht eine beitragsfähige nachmalige Herstellung i.S.d. § 8
Abs. 2 Satz 1 KAG NRW wäre. Da die übliche Nutzungszeit eines Gehweges bei
diesem Alter schon längst abgelaufen ist, bedarf es für den Nachweis der
Verschlissenheit keiner in Einzelne gehenden Dokumentation.
Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Beschluss vom 4. Juni 2002 - 15 B 745/02 -, S. 3 des
amtl. Umdrucks; Urteil vom 28. August 2001 - 15 A 465/99 -, KStZ 2002, 33 (34).
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Die vom Kläger aufgeworfenen vermeintlichen Besonderheiten, die den
beitragsrelevanten wirtschaftlichen Vorteil mindern sollen, begründen keine ernstlichen
Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Im Einzelnen:
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Der Charakter der Straße als stark belastete Bundesstraße schlägt sich im
Anliegerbeitragssatz nieder.
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Die Verschmälerung des Gehweges kann einen kompensationsfähigen Nachteil
darstellen, wenn die Verschmälerung die Verkehrsfunktion der Anlage nicht nur
unerheblich beeinträchtigt. Das bemisst sich auch danach, ob die Verschmälerung zur
Unterschreitung der anrechenbaren Breite führt.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2001 - 15 A 465/99 -, KStZ 2002, 33 (36);
Beschluss vom 28. April 1997 - 15 B 211/97 -, S. 6 f. des amtl. Umdrucks.
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Der Kläger legt nicht dar, dass bei einer heute vorhandenen Breite von 2,5 m eine
solche Beeinträchtigung der Verkehrsfunktion eingetreten ist, zumal der Gehweg, wie er
selbst ausführt, kaum von Fußgängern benutzt werde.
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Das Motiv des Ausbaus (hier: Beseitigung von durch Platanen verursachten Schäden)
ist rechtlich unerheblich.
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Vgl. zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 18. November 2004 - 15 A 4051/04 -, S. 3 des
amtl. Umdrucks.
27
Die beitragsrechtliche Bedeutung des Anlegens eines Grünstreifens auf der nördlichen
Seite hat das Verwaltungsgericht auf Seite 9 des angegriffenen Urteils behandelt. Diese
Ausführungen werden durch die Antragsbegründung nicht erschüttert.
28
Die Anordnung eines Halteverbots im nördlichen Bereich und die vom Kläger
bemängelte dadurch bewirkte Unmöglichkeit, Personen dort aussteigen zu lassen, um
zum südlichen Gehweg zu gelangen, hat keine Bedeutung für den durch den hier in
Rede stehenden Ausbau des nördlichen Gehwegs bewirkten wirtschaftlichen Vorteil.
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Die Beitragspflicht bei einem einseitigen Gehwegausbau auch für die Anlieger der
gegenüber liegenden Straßenseite hat das Verwaltungsgericht auf Seite 8 des
angegriffenen Urteils behandelt. Diese Ausführungen werden durch das
Antragsvorbringen nicht erschüttert.
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Soweit der Kläger den Umstand anspricht, dass an den nördlichen Gehweg im
Wesentlichen nur eine öffentliche, nicht beitragspflichtige Grünanlage angrenzt, kann
dies eine atypische Erschließungssituation darstellen, die zu einer Beitragsminderung
zu Gunsten der Beitragspflichtigen zwingen kann (Gesichtspunkt der einseitigen
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Anbaubarkeit).
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Oktober 1997 - 15 A 4058/94 -, S. 12 f. des amtl.
Umdrucks; Urteil vom 9. Mai 1995 - 15 A 2545/92 -, NWVBl. 1996, 61 f.
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Indes ist ausweislich des Tatbestandes des angegriffenen Urteils auf Seite 3 der Beitrag
unter diesem Gesichtspunkt gemindert worden. Der Kläger legt nicht dar, warum dies
rechtlich nicht ausreichen soll.
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Den Umstand, dass erstmalig eine Frostschutzschicht eingebaut wurde, hat das
Verwaltungsgericht auf Seite 6 des angegriffenen Urteils behandelt. Dem tritt das
Antragsvorbringen nicht substantiiert entgegen.
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Beitragsrechtlich ist es unerheblich, ob trotz Fehlens einer Frostschutzschicht im
Altzustand Frostschäden aufgetreten sind.
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Vgl. Beschluss vom 4. August 2004 - 15 A 2957/04 -, S. 2 des amtl. Umdrucks.
36
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über den
Streitwert beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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