Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.02.2006

OVG NRW: treu und glauben, genehmigung, hauptsache, gewissheit, berufungskläger, nutzungsänderung, datum, anschrift, haus, garage

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 A 5032/04
Datum:
14.02.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 A 5032/04
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 8 K 172/03
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens in
beiden Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Senat entscheidet über die Berufung der Beigeladenen gem. § 130a VwGO nach
Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für
begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
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Der Senat entscheidet über die Berufung der Beigeladenen, weil weder das Verfahren
in der Hauptsache noch das Rechtsmittel der Beigeladenen erledigt ist.
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Dass die Beteiligten das Verfahren nicht in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist
unstreitig; eine Erledigungserklärung hat insoweit nur der Beklagte abgegeben.
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Der von den Klägern abgegebenen Erledigungserklärung hinsichtlich des Rechtsmittels
der Beigeladenen haben sich weder der Beklagte noch die Beigeladenen
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angeschlossen. Da die Beigeladenen überhaupt keine Erledigungserklärung
abgegeben haben, liegt auch keine Erklärung vor, die möglicherweise sachdienlich
dahin ausgelegt werden könnte, dass sie sich - auch - auf das von ihnen betriebene
Rechtsmittel bezieht. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem, der dem
Senatsbeschluss vom 3. November 2005 - 7 A 4986/04 - zu Grunde lag.
An der in dem genannten Beschluss vom 3. November 2005 geäußerten Auffassung,
dass es auf die Erledigungserklärung des Beigeladenen - auch wenn dieser
Rechtsmittelführer ist - nicht ankommt, hält der Senat nach erneuter Überprüfung für den
Fall nicht fest, dass nicht das Verfahren selbst für erledigt erklärt wird. Zwar kommt es
auf die Erledigungserklärung des Beigeladenen nicht an, wenn Kläger und Beklagte
das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklären. Die Hauptbeteiligten können dem
Rechtsmittel des Beigeladenen durch ihre übereinstimmenden Erledigungserklärungen
die Grundlage entziehen,
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vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Dezember 1959 - III C 131.57 -, NJW 1960, 594,
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der Beigeladene kann nicht verhindern, dass der Streit ohne seine Zustimmung beendet
wird.
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Anders ist es jedoch, wenn es nicht um die Erledigung der Hauptsache, sondern um die
Erledigung des Rechtsmittels geht. In diesem Fall müssen die Erledigungserklärungen
von den Hauptbeteiligten des Rechtsmittelverfahrens abgegeben werden, also vom
Berufungskläger und vom Berufungsbeklagten. Hat nur der Beigeladene gegen ein
stattgebendes Urteil Berufung eingelegt, ist er Berufungskläger und der in erster Instanz
obsiegende Kläger Berufungsbeklagter. Das Berufungsverfahren als solches kann in
diesem Fall nur vom Beigeladenen und vom Kläger für erledigt erklärt werden.
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Vgl. Neumann in Sodan/Ziekow, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, § 161
RdNr. 79; BVerwG, Beschluss vom 22. April 1994 - 9 C 456.93 -, NVwZ 1995, 372 =
DVBl. 1994, 1244 = DÖV 1994, 1011.
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Eine auf das Rechtsmittelverfahren bezogene Erledigungserklärung haben die
Beigeladenen als "Berufungskläger" gerade nicht abgegeben.
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Die zulässige Berufung der Beigeladenen ist auch begründet, denn die Klage ist
unzulässig. Die Kläger haben gegen die Baugenehmigung vom 11. November 1999, mit
der den Beigeladenen die Nutzungsänderung von Arbeitsräumen in Büroräume für
freiberufliche Tätigkeit genehmigt worden ist, nicht rechtzeitig Widerspruch eingelegt mit
der Folge, dass diese Baugenehmigung ihnen gegenüber bestandskräftig geworden ist.
Zwar ist ihnen diese Baugenehmigung nicht im Sinne von §§ 57 Abs. 1, 58, 70 Abs. 1
Satz 1 VwGO bekannt gegeben worden, sie haben von ihr aber mehr als ein Jahr vor
Einlegen des Widerspruchs (Schreiben vom 5. Juni 2002 an das Bauaufsichtsamt des
S. -T. -Kreises) Kenntnis gehabt oder hätten zuverlässig Kenntnis erlangen müssen, sie
haben daher ihr Widerspruchsrecht verwirkt.
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Auch verfahrensrechtliche Rechte unterliegen dem Grundsatz von Treu und Glauben
und können deshalb verwirkt werden. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts
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Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -,
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BRS 28 Nr. 133 (Seite 288 f)
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muss der Grenznachbar sich in aller Regel nach Treu und Glauben bezüglich der
Widerspruchseinlegung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung amtlich
bekanntgegeben worden, wenn er von der dem Bauwilligen erteilten Baugenehmigung
auf andere Weise zuverlässig Kenntnis erlangt hat. Mit Rücksicht auf das
Nachbarschaftsverhältnis muss ihn die Kenntniserlangung in aller Regel in gleicher
Weise wie eine amtliche Bekanntmachung der Genehmigung zur Geltendmachung
seiner Einwendungen in angemessener Frist veranlassen. Die Frist zur Einlegung des
Widerspruchs richtet sich deshalb für ihn vom Zeitpunkt der zuverlässigen
Kenntniserlangung an regelmäßig nach den Fristvorschriften der §§ 70 Abs. 1 und 58
Abs. 2 VwGO. Sofern ihm mit der anderweitigen Kenntniserlangung von der
Genehmigung nicht zugleich eine amtliche Rechtsmittelbelehrung erteilt wird, muss er
also seinen Widerspruch regelmäßig innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO
einlegen; ein später eingelegter Widerspruch ist unzulässig. Gleiches gilt nach Treu und
Glauben regelmäßig für den Fall, dass der Nachbar von der Baugenehmigung
zuverlässige Kenntnis hätte haben müssen, weil sich ihm das Vorliegen der
Baugenehmigung aufdrängen mußte und es ihm möglich und zumutbar war, sich
hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde -
Gewissheit zu verschaffen. Dann läuft für ihn die Frist des § 70 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 58 Abs. 2 VwGO für die Einlegung des Widerspruchs von dem Zeitpunkt ab, in dem er
zuverlässig Kenntnis von der Genehmigung hätte erlangen müssen. Eine derartige
Situation liegt hier vor.
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Die Kläger haben schon frühzeitig gewusst, dass im Haus der Beigeladenen ein
Gewerbe betrieben wird.
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Mit einem Schreiben vom 28. November 1999 wandte sich der Sachverständige S1. an
den Kläger und an die H. G. Q. Bauträgergesellschaft M.---weg 17 in einem Streit
zwischen den Klägern und der Bauträgergesellschaft. Am 26. Januar 2000 schrieb der
Beigeladene unter "Verkauf und Bauausführung" "H1. Q. Bauträgergesellschaft mbH,
M.---weg 17" die Kläger an. Unter dem 21. Februar 2000 richteten die Kläger ein
Schreiben an diese Gesellschaft unter der Anschrift M.----weg 17. Davon, dass hier
geschäftliche Post an die Privatadresse gerichtet wurde, kann keine Rede sein. Schon
Anfang 2000 war den Klägern danach bekannt, dass im Haus der Beigeladenen eine
gewerbliche Tätigkeit ausgeübt wurde. Schon zu diesem Zeitpunkt hätte sich ihnen
aufdrängen müssen, dass die Beigeladenen - ihre unmittelbaren Nachbarn - ihre
gewerbliche Tätigkeit aufgrund einer - wenn auch möglicherweise rechtswidrigen -
Baugenehmigung ausübten. Dass es ihnen nicht möglich und zumutbar war, sich
hierüber Gewissheit zu verschaffen, ist nicht ersichtlich. Wenn sie mit der gewerblichen
Tätigkeit nicht einverstanden waren, hätte es ihnen oblegen, dagegen innerhalb der
Jahresfrist Widerspruch zu erheben.
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Darüber hinaus beschwerten sich die Kläger unter dem 11. April 2001 beim Beklagten
unter anderem über in der Straße parkende Handwerker/Vertragspartner der H1. Q.
Bauträgergesellschaft mbH M.---weg 17 und wiesen darauf hin, dass in einem reinen
Wohngebiet Gewerbebetriebe nicht zulässig seien. Im Schreiben vom 30. April 2001
wiesen sie darauf hin, dass ein Mitarbeiter der Bauaufsicht des Öfteren die
Geschäftsräume der GmbH aufgesucht habe und dass aus den Bauakten deren
Anschrift ersichtlich sein müsse. Der Beklagte teilte den Klägerin daraufhin mit
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Schreiben vom 10. Mai 2001, abgesandt am 21. Mai 2001, ausdrücklich mit, dass mit
Datum vom 11. November 1999 eine Genehmigung zur Nutzung von Teilen des Hauses
für freiberufliche Tätigkeiten (Vermittlung und Ankauf von Grundstücken, Projektierung
bis zur Baureife, Vermittlung von Parzellen und Errichtung von Häusern) erteilt worden
sei. Mit diesem Schreiben hatten die Kläger Gewissheit, dass die von ihnen
wahrgenommenen Tätigkeiten aufgrund einer Baugenehmigung ausgeübt wurden.
Damit hatten die Kläger zuverlässige Kenntnis von der erteilten Baugenehmigung,
jedenfalls von da an "lief" die Frist des § 70 Abs. 1 in Verbindung mit § 58 Abs. 2 VwGO
für die Einlegung des Widerspruchs.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 1994 - 4 B 26.94 -, NVwZ 1994, 896 und
Urteil vom 25. Januar 1974 - IV C 2.72 -, a.a.O.
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Innerhalb der Jahresfrist haben die Kläger jedoch keinen Widerspruch eingelegt.
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Die Kläger haben erst mit ihrem Schreiben vom 5. Juni 2002 Widerspruch eingelegt. In
den Monaten zuvor haben sie sich in zahlreichen Schreiben an den Beklagten gewandt,
so unter dem 5. Juli 2001 u.a. Widerspruch gegen die Garage der Beigeladenen
eingelegt, am 8. August 2001 um die baurechtliche Prüfung der Zulässigkeit des
Gewerbebetriebs gebeten, unter dem 12. September 2001 die den Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung (zur Errichtung des Hauses) als nichtig bezeichnet, mit zwei weiteren
Schreiben vom selben Tag Auszüge aus dem Gewerberegister gefordert sowie ihr
Unverständnis geäußert, dass einer Bauträgergesellschaft am 11. November 1999 eine
Genehmigung für die Ausübung einer nicht freiberuflichen Tätigkeit erteilt werden
konnte. Keinem der Schreiben ist ein Widerspruch gegen die Baugenehmigung zu
entnehmen. Widerspruch ist erst mit dem an das Bauaufsichtsamt des S2. -T1. -Kreises
gerichteten Schreiben vom 5. Juni 2002 erhoben worden. Dies hat auch der
Prozessbevollmächtigte der Kläger in seinem Schreiben vom 12. Juli 2002 an den
Landrat des S2. -T1. -Kreises - Bauaufsichtsamt - so gesehen, in dem er ausgeführt hat:
" .... stimme ich Ihnen zu, nicht allerdings in dem Punkt, dass gegen die
Nutzungsänderung nochmals Widerspruch eingelegt werden müßte. Dies ist bereits in
meiner ergänzenden Widerspruchsbegründung vom 03.06.2002 (richtig 5. Juni 2002)
geschehen".
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Das Vorbringen der Kläger, es laufe überhaupt keine Widerspruchsfrist, wenn die
betreffende Baugenehmigung dem Nachbarn nicht bekannt gemacht worden sei,
verkennt die oben angeführte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum
vom Grundsatz von Treu und Glauben gekennzeichneten Verhältnis zwischen
unmittelbaren Grenznachbarn und die Auswirkungen dieses Grundsatzes auf den
Beginn der Widerspruchsfrist.
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Soweit die Kläger darauf abstellen, erst die Einsichtnahme in die Bauakte der
Beigeladenen im August 2001 habe ihnen eine Kenntniserlangung des genauen
Genehmigungsinhaltes erlaubt, verkennen sie, dass sie der Mitteilung des Beklagten
vom 10. Mai 2001 hinsichtlich des Inhalts der Baugenehmigung mehr Informationen
entnehmen konnten, als sie durch eine Bekanntgabe der Baugenehmigung vom 11.
November 1999 selbst erlangt hätten. Diese beschränkt sich auf die Bezeichnung des
Vorhabens "Nutzungsänderung von Arbeitsräumen in Büroräume für freiberufliche
Tätigkeit", wohin gegen die Mitteilung vom 10. Mai 2001 die durch die Baugenehmigung
gedeckten Tätigkeiten konkret beschrieb. Mehr Informationen benötigten die Kläger
nicht für eine sichere Kenntnis von der Baugenehmigung und für die Bewertung, ob sie
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sich gegen die Baugenehmigung wenden sollten.
Unerheblich für die hier allein entscheidende Frage, wann nach Treu und Glauben die
Widerspruchsfrist zu laufen begann, sind die Ausführungen der Kläger dahin, sie hätten
unter keinem Gesichtspunkt einen für die Beigeladenen wirkenden
Vertrauenstatbestand geschaffen, sondern vielmehr zeitlich lückenlos ihre Belange
auch gegenüber den Beigeladenen kundgetan.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
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