Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.11.2005

OVG NRW: rechtseinheit, gefahr, zukunft, sicherheit, ausnahmefall, billigkeit, bad, datum, aufenthalt, verfügung

Oberverwaltungsgericht NRW, 11 A 2482/03.A
Datum:
29.11.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
11 A 2482/03.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 25 K 6476/01.A
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladen; Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Die Berufung ist nicht wegen der vom Kläger geltend gemachten grundsätzlichen
Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG) zuzulassen. Die von ihm als grundsätzlich
klärungsbedürftig angesehene Frage,
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„ob für russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit die
Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative im Sinne der Grundsätze des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86) insofern
vorliegen, als dieser Personenkreis in allen anderen Landesteilen der Russischen
Föderation außerhalb Tschetscheniens, vornehmlich in den benachbarten
Teilrepubliken Dagestan und Inguschetien, hinreichend sicher vor
Verfolgungsmaßnahmen durch russische Staatsorgane ist und dort auch eine
ausreichende Existenzmöglichkeit vorfindet",
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rechtfertigt nicht mehr die Durchführung eines Berufungsverfahrens. Denn der Senat hat
hinsichtlich eines möglichen Anspruches auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1
AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) - nichts anderes gilt in Bezug auf das Asylrecht -
mit Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A - (n. v., Langtext in juris) bereits
rechtsgrundsätzlich in Übereinstimmung mit weiterer obergerichtlicher Rechtsprechung
entschieden, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens in anderen Bereichen
der Russischen Föderation im Regelfall eine inländische Fluchtalternative zur
Verfügung steht. Der Senat hat in dieser Entscheidung unter Auswertung umfangreichen
Erkenntnismaterials dargelegt, dass sich Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens in
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anderen, genau bestimmten Bereichen der Russischen Föderation tatsächlich aufhalten
können. Dieser Aufenthalt ist ihnen dort in rechtlicher Hinsicht vom Grundsatz her
möglich. Mancherorts gegebene behördliche Verweigerungen einer Registrierung oder
in bestimmten Bereichen der Russischen Föderation festzustellende sonstige staatliche
Maßnahmen begründen vorbehaltlich besonderer Einzelfallumstände keinen generellen
Abschiebungsschutz. Tschetschenen drohen in Bereichen einer inländischen
Fluchtalternative nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab grundsätzlich keine
abschiebungsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen und nach dem allgemeinen
Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch keine anderen unzumutbaren
Nachteile, die an ihrem Herkunftsort so nicht bestünden. Tschetschenen droht
außerhalb Tschetscheniens auch keine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure.
Ein weitergehender grundsätzlicher Klärungsbedarf ist aus Anlass des vorliegenden
Verfahrens weder dargetan noch ersichtlich.
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Falles sog. nachträglicher Divergenz
zuzulassen. Nach der Rechtsprechung kann ein Antrag auf Zulassung der Berufung
wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) in einen Antrag auf
Berufungszulassung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umgedeutet werden,
wenn zwischenzeitlich - wie hier - die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beantwortet worden ist; denn die
Divergenzberufung ist ein Unterfall der Grundsatzberufung und dient ebenso wie diese
der Sicherung der Rechtseinheit.
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Vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senates), Beschluss vom 21. Januar 2000 - 2 BvR
2125/97 -, InfAuslR 2000, 308 (310 f.); BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 2000 - 9 B
57.00 -, n.v. (Langtext in juris); OVG NRW, Beschluss vom 24. Juni 1996 - 23 A
3221/95.A -, n. v. (Leitsatz in Juris), S. 3 des Beschlussabdrucks m. w. N. aus der
früheren Rspr.
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Zwar hat das Verwaltungsgericht im Gegensatz zu der zeitlich nachfolgenden
Senatsrechtsprechung im Grundsatz das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative
verneint. Die Durchführung eines Berufungsverfahrens wegen nachträglicher Divergenz
ist zur Sicherung der Rechtseinheit im vorliegenden Einzelfall allerdings nicht geboten.
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Zum einen hat das Verwaltungsgericht - bezogen auf den Zeitpunkt seiner
Entscheidung (hier: 12. Mai 2003) - seine Beurteilung auf Erkenntnisse gestützt, die im
Wesentlichen aus den Jahren 2000 bis 2002 stammten. Demgegenüber hat der Senat in
seinem Urteil vom 12. Juli 2005 vorwiegend Quellen ausgewertet, die mehrheitlich in
den Jahren 2003 bis 2005 veröffentlicht worden sind, damit dem Verwaltungsgericht
noch gar nicht bekannt sein konnten, und die auf eine grundsätzliche Stabilisierung der
Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in den übrigen Landesteilen der
Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens hingedeutet haben.
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Vgl. hierzu Hess. VGH, Beschluss vom 12. März 1999 - 9 UZ 969/98.A -, NVwZ 1999,
Beilage Nr. 9, 96 (nur Leitsatz; Langtext in juris).
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Zum anderen hat der Senat die Frage des Bestehens einer inländischen
Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige nur für den Regelfall anders
bewertet als das Verwaltungsgericht. Zugleich hat der Senat aber auch die Möglichkeit
einer Ausnahme vom Bestehen einer inländischen Fluchtalternative im Falle solcher
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politisch Verdächtiger bejaht, die sich in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert
haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder einer nur
vermuteten Involvierung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden. Denn für solche
Personen könne angesichts der staatlichen Übergriffe, die vorgekommen seien und
auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden könnten, die Gefahr einer Verfolgung
nicht mit der erforderlichen Sicherheit verneint werden.
OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A -, a. a. O., S. 38 des
Urteilsabdrucks.
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Ohne sich im Ergebnis in Widerspruch zu der vorzitierten Entscheidung des Senats zu
setzen, hat das Verwaltungsgericht aber nach seinen tatsächlichen Feststellungen hier
einen solchen Ausnahmefall bejaht. An diese Feststellungen ist der Senat im
Zulassungsverfahren gebunden ist, weil sie der Kläger über eine pauschale Darstellung
einer anderen Sichtweise hinaus nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat.
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Vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7. Mai 1992 - A 16 S 552/92 -, VGHBW-Ls
1992, Beilage 9, B 4-5 (nur Leitsatz; Langtext in juris), und OVG Rh.-Pf., Beschluss vom
31. Mai 1995 - 7 A 10891/95 -, n. v. (Langtext in juris).
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Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG abgesehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, 83b AsylVfG.
Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für
erstattungsfähig zu erklären, da diese einen Antrag gestellt haben und damit ein
eigenes Kostenrisiko eingegangen sind (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2
AsylVfG).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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