Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.12.2009

OVG NRW (eltern, annahme, verhandlung, verwaltungsgericht, mutter, sprache, widerspruchsverfahren, bestätigung, umfang, bewertung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 560/08
Datum:
14.12.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 560/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 5 K 1042/07
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abge-lehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfah-rens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro
festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln
an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es
vermag die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin
erfülle die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 BVFG, nicht zu erschüttern. Die
anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale für die von der Klägerin begehrte
Erteilung eines Aufnahmebescheids nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG – hier die
"Voraussetzungen als Spätaussiedler", zu denen die deutsche Volkszugehörigkeit
gemäß § 6 BVFG gehört – sind von der Klägerseite im Prozess nachzuweisen. Für die
richterliche Überzeugung, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen gegeben sind,
ist eine absolute Gewissheit nicht erforderlich. Ausreichend aber auch notwendig ist im
Regelfall jedoch ein Grad an Wahrscheinlichkeit, der nach der Lebenserfahrung der
Gewissheit gleichkommt oder vernünftigen Zweifeln Einhalt gebietet.
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Vgl. (zum Staatsangehörigkeitsrecht) OVG NRW, Beschluss vom 23. Januar
2008 – 12 A 2830/07 –, Juris, m. w. N.
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Dass das Verwaltungsgericht nach diesen Maßstäben nicht davon ausgehen durfte, der
Klägerin seien ihre deutschen Sprachkenntnisse hinreichend familiär vermittelt worden,
ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht.
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Soweit die Beklagte vorträgt, es könne sich bei den Angaben der Klägerin in O.
zur Vermittlung der deutschen Sprache entgegen der nach der Anhörung der Klägerin in
der mündlichen Verhandlung zugrunde gelegten Annahme des Verwaltungsgerichts
nicht um ein Missverständnis handeln, weil es sich nicht lediglich um eine einzelne,
isolierte Angabe gehandelt habe und die Befragung durch einen Dolmetscher mit
Antworten der Klägerin auf Russisch erfolgt sei, ergibt sich nicht, dass es nicht zu einem
Missverständnis bei der Klägerin (etwa hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs
Elternhaus) gekommen sein kann. Dass jegliche Missverständnisse ebenso
ausgeschlossen werden können wie Fehler oder Versäumnisse beim Ausfüllen des
Vordrucks und das Urteil deshalb auf einer fehlerhaften Aus- und Bewertung des
zugrunde liegenden Sachverhalts – des mit der Klägerin durchgeführten Sprachtests –
beruht, ist damit nicht hinreichend dargelegt.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, der
Klägerin seien ihre deutschen Sprachkenntnisse hinreichend familiär vermittelt worden,
begründet nicht der Vortrag in der Zulassungsbegründung zu einer aus Sicht der
Beklagten unzureichenden und damit fehlerhaften Auseinandersetzung mit dem
Merkmal "Dialektkenntnisse". Denn die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den
fehlenden Feststellungen von Dialektkenntnissen im Sprachtestprotokoll haben keinen
Bezug zu der von der Beklagten beanstandeten Annahme einer hinreichenden
familiären Vermittlung der deutschen Sprache an die Klägerin. Diesbezüglich ist das
Verwaltungsgericht vielmehr zutreffend in Übereinstimmung mit der von ihm zitierten
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
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- vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2003 - 5 C 33.02 -, BVerwGE 119, 6
ff. -
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davon ausgegangen, dass Dialektkenntnisse zwar ein Indiz für die familiäre Vermittlung
aber nicht notwendige Voraussetzung zur Feststellung dieser Vermittlung sind. Dass –
wie in der Zulassungsbegründung vorgetragen wird – auszuschließen ist, dass der
Klägerin Dialektsprachkenntnisse in dem gesetzlich geforderten Umfang vermittelt
worden sein könnten, hat keine zwingenden Schlüsse hinsichtlich der familiären
Vermittlung der deutschen Sprache an die Klägerin zur Folge.
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Der Einwand, die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den möglichen Personen,
durch die der Klägerin die deutsche Sprache familiär vermittelt worden sein sollen,
seien oberflächlich und undifferenziert, greift ebenfalls nicht durch. Die auf die Angaben
der Klägerin im Widerspruchsverfahren und in der mündlichen Verhandlung, die das
Verwaltungsgericht als glaubhaft und überzeugend angesehen hat, die Bestätigung
durch den in der mündlichen Verhandlung befragten Cousin und die Angaben zum
Spracherwerb im Aufnahmeantrag gestützte Annahme des Verwaltungsgerichts zur
familiären Vermittlung der deutschen Sprache durch die Großeltern (mütterlicherseits)
wird nicht durch den Vergleich der Angaben zu den Wohnsitzen entkräftet. Die Beklagte
schließt insofern allein aus den Angaben im Aufnahmeantrag der Klägerin zu ihren
Wohnsitzen, dass sie sich nicht in dem von ihr in der mündlichen Verhandlung
angegebenen zeitlichen Umfang bei ihren Großeltern mütterlicherseits aufgehalten
habe, sondern bei den Großeltern väterlicherseits aufgewachsen sei. Dabei lässt die
Beklagte die detaillierten Angaben der Klägerin zu den verschiedenen Zeitabschnitten
ihres Aufenthalts bei ihren Großeltern in der mündlichen Verhandlung und die Angabe
im Widerspruchsverfahren dazu, dass ihre Mutter sie bei ihren Eltern (also den Eltern
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der Mutter) "angegeben" und sie dort bis zu ihrem siebten Lebensjahr gelebt habe,
außer Acht. Zudem ergibt sich aus den Angaben im Aufnahmeantrag der Mutter zu ihren
Wohnorten, dass diese ebenfalls während der Kindheit der Klägerin über einen großen
Zeitraum im selben Ort wie ihre Eltern lebte, nämlich von 1980 bis 1983 und ab 1987.
Auch im Widerspruchsverfahren der Mutter wurde erklärt, dass ihre Tochter "mit den
Eltern geblieben ist". Dass der Bestätigung durch den 1984 geborenen und nach den
Angaben der Beklagten in der Zulassungsbegründung 1000 km entfernt lebenden
Cousin dadurch der Wert insoweit genommen sein könnte, dass das Verwaltungsgericht
diese nicht habe berücksichtigen können, weil er die Angaben der Klägerin lediglich
vom Hörensagen habe bestätigen können, ergibt sich aus der Zulassungsbegründung
nicht.
Sind die von der Beklagten gesehenen Widersprüche damit nicht im einzelnen
durchgreifend dargelegt, geht der Einwand fehl, das Verwaltungsgericht habe bei
Einstellung aller Gesichtspunkte in seine Erwägungen zu dem Ergebnis gelangen
müssen, dass der Klägerin Deutschkenntnisse nicht hinreichend familiär vermittelt
worden seien.
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Die des Weiteren geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Annahme des
Verwaltungsgerichts, die Klägerin stamme von einem deutschen Volkszugehörigen ab,
greifen jedenfalls im Ergebnis nicht durch. Das Verwaltungsgericht kam zu dieser
Annahme, weil es davon ausging, dass die Mutter der Klägerin im Zeitpunkt der Geburt
der Klägerin deutsche Volkszugehörige gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht
hat in dem – der Beklagten bekannten – Urteil vom 25. Januar 2008 – 5 C 8.07 –
(BVerwGE 130,197 ff.) entschieden, dass die Abstammung i. S. v. § 6 Abs. 2 Satz 1
BVFG auch dann gegeben ist, wenn ein Großelternteil deutscher Staatsangehöriger
oder deutscher Volkszugehöriger ist. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die
Großeltern mütterlicherseits der Klägerin deutsche Volkszugehörige sind (Seite 10 des
Urteilsabdrucks), wird in der Zulassungsbegründung nicht angegriffen. Die Großeltern
mütterlicherseits sind in der 1961 ausgestellten Geburtsurkunde der Mutter, die auch im
Verfahren der Klägerin als Kopie vorgelegt wurde, beide als deutsche Volkszugehörige
eingetragen und sprachen nach den übereinstimmenden Angaben der Klägerin und
ihrer Mutter beide Deutsch. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob die
Annahme des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit der
Mutter im Zeitpunkt der Geburt der Klägerin unzutreffend ist.
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Es stellt sich damit in diesem Verfahren auch nicht die als grundsätzlich bedeutsam i. S.
v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aufgeworfene Frage, "welche Fassung des BVFG für die
Entscheidung, ob ein Abkömmling von einer/-m deutschen Volkszugehörigen abstammt,
maßgeblich ist".
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Mit Blick auf das Vorstehende ist die Berufung auch nicht wegen der in der
Zulassungsbegründung geltend gemachten Abweichung des erstinstanzlichen Urteils
von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zu dieser Frage zuzulassen
(§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO).
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Besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2
Nr. 2 VwGO) werden als Zulassungsgrund lediglich benannt aber nicht im Einzelnen
begründet.
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Die Berufung ist schließlich auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers i. S. v. § 124 Abs.
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2 Nr. 5 VwGO zuzulassen. Die mit dem Vorbringen, eine weitere Sachaufklärung sei
geboten und erforderlich gewesen, sinngemäß geltend gemachte Rüge einer
Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nicht begründet.
Insofern ist jedenfalls Rügeverlust eingetreten. Die Geltendmachung der Verletzung des
Amtsermittlungsgrundsatzes setzt unter anderem die Darlegung voraus, dass die
unterlassene Aufklärung vor dem Tatsachengericht rechtzeitig gerügt worden ist.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. August 1997 – 8 B 165.97 –; OVG NRW,
Beschluss vom 13. Dezember 2007 – 12 A 2268/06 –.
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Dieser Anforderung genügt die Darlegung schon deshalb nicht, weil daraus nicht
ersichtlich ist, dass die in der mündlichen Verhandlung vertretene Beklagte die nach
ihrer Ansicht unterlassene Aufklärung in der mündlichen Verhandlung am 4. Januar
2008 gegenüber dem Verwaltungsgericht angesprochen und gerügt hat. Dem insoweit
maßgebenden Protokoll der mündlichen Verhandlung ist diesbezüglich lediglich zu
entnehmen, dass der Vertreter der Beklagten die Auffassung des Gerichts hinsichtlich
der familiären Vermittlung nicht teile. Die Klägerin spreche keinen Dialekt. Auch in der
Zulassungsbegründung ist hierzu nichts ausgeführt.
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Sofern mit dem Vortrag, das Gericht habe "ohne hinreichende Tatsachengrundlage und
unter Verkennung der klägerischen Beweislast das Vorliegen eines gesetzlichen
Verpflichtungsanspruchs angenommen" und es seien "erhebliche Gesichtspunkte und
Widersprüchlichkeiten im Rahmen der Beweiswürdigung nicht hinreichend bewertet
und die Bewertung nicht tragfähig begründet" worden, Verfahrensfehler (§ 124 Abs. 2
Nr. 5 VwGO) wie etwa ein Verstoß gegen Denkgesetze oder andere Grundsätze der
Sachverhalts- und Beweiswürdigung geltend gemacht werden sollten, fehlt es an einer
hinreichenden Darlegung solcher Mängel i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO und – hinsichtlich der
Streitwertfestsetzung – nach §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG unanfechtbar.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4
VwGO).
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