Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.11.2003

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Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 1575/03
Datum:
11.11.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 B 1575/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 8 L 1177/03
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens in beiden
Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen Kosten des
Beigeladenen als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass der Beigeladene unter dem
11. August 2003 eine von ihm beantragte Nachtragsgenehmigung für eine Umplanung
gehalten hat. Die Nachtragsgenehmigung hindert ihn nicht daran, an der Ausnutzung
der hier im Streit befindlichen Baugenehmigung vom 28. November 2002 festzuhalten.
Dass diese Baugenehmigung aufgehoben worden ist, ist weder vorgetragen noch
ersichtlich. Der Beigeladene hat auch ausdrücklich erklärt, auf sie nicht zu verzichten.
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Die Beschwerde ist auch begründet.
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Der Senat kann offen lassen, ob der Beigeladene glaubhaft gemacht hat, dass der
Antrag der Antragsteller unzulässig ist, weil sie ihr Recht verwirkt haben, gegen das
Vorhaben des Beigeladenen nachbarliche Abwehrrechte geltend zu machen. Den
Antragstellern steht jedenfalls ein derartiges Abwehrrecht nicht zu.
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Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, das Vorhaben des Beigeladenen dürfe mit
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seiner gesamten Länge an die Grundstücksgrenze gebaut werden, weil es insoweit mit
den Festsetzungen des Bebauungsplans und mit den Abstandvorschriften in Einklang
steht, ist von keinem Beteiligten im Beschwerdeverfahren in Frage gestellt worden;
weiterer Ausführungen des Senats bedarf es daher nicht. Gleiches gilt für die
Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Dachgeschoss nach der genehmigten
Planung kein Vollgeschoss im Sinne des § 2 Abs. 5 Satz 3 BauO NRW ist. Darüber
hinaus ist nicht ersichtlich, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans B 110
hinsichtlich der Geschossigkeit hier ausnahmsweise nachbarschützende Funktionen
haben sollen.
Der Senat teilt nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Vorhaben des
Beigeladenen verstoße im Hinblick auf die Gebäudehöhe gegen das Gebot der
Rücksichtnahme. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, das Vorhaben wirke
wegen seiner, den Mitteltrakt des Nachbarhauses um über 4 m überragenden Höhe auf
den vorhandenen Hofbereich der Antragsteller erdrückend, denn die 7,41 m hohe
Gebäudewand würde unmittelbar vor der nur maximal 5 m von der Grenze entfernt
liegenden hofartigen Bebauung aufragen, die ganz überwiegend zum Wohnen genutzt
werde und sechs Fenster zum Hof aufweise. Insgesamt überrage das Vorhaben der
Beigeladenen das der Antragsteller um mehr als 4 m. Damit ist die Rücksichtlosigkeit
des Vorhabens nicht begründet.
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Allerdings kann sich im Einzelfall ein Vorhaben wegen seiner erdrückenden Wirkung
mit dem Gebot der Rücksichtnahme als nicht vereinbar erweisen, wenn ein durch seine
Ausmaße (Breite und/oder Höhe) und Gestaltung als außergewöhnlich zu
qualifizierender Baukörper den Bewohnern eines Nachbargrundstücks den Eindruck
des Eingemauertseins vermittelt. Einer in dieser Weise hervorgerufenen Abriegelung
kommt erdrückende Wirkung zu.
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Vgl. Senatsurteile vom 14. Januar 1994 - 7 A 2002/92 -, BRS 56 Nr. 196 und vom 17.
August 2001 - 7 A 2533/99 -.
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Maßgeblich ist insoweit eine städtebauliche Situation, infolge derer ein
Nachbargrundstück durch das Bauvorhaben wegen seines Volumens, dem Standort
oder seiner Gestaltung unzumutbar beeinträchtigt wird.
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Vgl. zu solchen Situationen: BVerwG, Urteile vom 13. März 1981 - 4 C 1.78 -, BRS 38
Nr. 186 und vom 23. Mai 1986 - 4 C 34.85 -, BRS 46 Nr. 176; Senatsbeschluss vom 19.
Juli 2001 - 7 B 834/01 - .
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Eine Situation, in der das Grundstück der Antragsteller unzumutbar beeinträchtigt wird,
liegt nicht vor. Der Mitteltrakt des Gebäudes der Antragsteller liegt immerhin knapp 5 m
von der Gebäudewand entfernt. Bei einer Traufenhöhe von 7,41 m und einer
Gebäudehöhe von 11,12 m kann bei diesem Abstand von einer erdrückenden Wirkung
im Sinne des Eingemauertseins im Hinblick auf die Nutzung des Gebäudes kaum
gesprochen werden. Dass die Fenster mehr als bisher beschattet werden, müssen die
Antragsteller hinnehmen. Auch nach dem von ihnen mit Schriftsatz vom 5. November
2003 vorgelegten Plan des Erdgeschosses befinden sich um den Innenhof herum keine
besonders empfindlichen Nutzungen. Im Obergeschoss befindet sich lediglich ein
Wohnraum, bei dem der Lichteinfall durch den streitigen Anbau nur relativ geringfügig
mehr als bisher schon beenträchtigt werden dürfte. Allenfalls kann das Vorhaben auf
Benutzer des auf dem Grundstück der Antragsteller gelegenen Innenhofs belastend
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wirken. Insoweit sind die Antragsteller jedoch nicht unzumutbar belastet.
Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich im
Nachbarschaftsverhältnis gewährleisten. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen
hat sich an der Frage auszurichten, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem
Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je
empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten ist,
desto mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und
unabweislicher die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, desto weniger
Rücksicht braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, zu nehmen.
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Vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BverwGE 52, 122 = BRS 32,
Nr. 155 und vom 14. Januar 1993 - 4 C 19.90 -, BRS 55 Nr. 175.
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Die danach vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass die Interessen der
Antragsteller die des Beigeladenen jedenfalls nicht überwiegen, sondern
Überwiegendes dafür spricht, dass sie geringer zu bewerten sind.
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Grundsätzlich ist demjenigen, der sein eigenes Grundstück in einer sonst zulässigen
Weise baulich nutzen will, insofern ein Vorrang zuzugestehen, als er berechtigte
Interessen nicht deshalb zurückzustellen braucht, um gleichwertige fremde Interessen
zu schonen.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977, a.a.O..
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Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene, um das mit 11,23 m recht
schmale Grundstück sinnvoll nutzen zu können, zum Antragsteller hin grenzständig
bauen muss, da er zum anderen Nachbarn den Mindestabstand von 3 m wahren muss.
Auch das Grundstück der Antragsteller ist weitgehend grenzständig oder grenznahe
bebaut. Bei der geringen möglichen Breite des Gebäudes hat der Antragsteller auch ein
berechtigtes Interesse daran, die Möglichkeiten des Bebauungsplans hinsichtlich der
Zahl der Geschosse und der Höhe weitgehend auszunutzen. Dabei bleibt sein
Vorhaben noch deutlich unter der nach dem Bebauungsplan B 110 zulässigen Höhe.
Dieser erlaubt bei der zulässigen Bebauung mit zwei Vollgeschossen eine maximale
Höhe von 13 m. Das streitige Vorhaben erreicht nach den genehmigten Planunterlagen
eine Höhe von 11,12 m (First) über Erdgeschossfußbodenhöhe, wobei diese allerdings
0,45 m höher (nicht tiefer) als die natürliche Geländeoberfläche liegt. Dadurch hat der
Beigeladene bereits Rücksicht auf die Belange der Antragsteller genommen, ebenso
wie dadurch, dass er die mögliche Bebauung bis zur Straße nicht ausgenutzt hat.
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Demgegenüber ist hinsichtlich der Interessen der Antragsteller zu berücksichtigen, dass
ihr Grundstück einschließlich des Innenhofs - wie das Verwaltungsgericht zutreffend
ausgeführt hat - auch hinsichtlich des möglichen Lichteinfalls bereits erheblich
vorbelastet war. Die Antragsteller bzw. deren Rechtsvorgänger mussten auch mit einer
grenzständigen Bebauung rechnen. Der Bebauungsplan B 110 sah bereits in seiner
ursprünglichen Fassung eine abweichende Bauweise vor, nämlich die Möglichkeit des
Anbaus an die Nachbargrenzen. Damit griff der Plangeber die weitgehend bereits
vorhandene Bebauung auf. Anders als unter Geltung der BauO NRW 1994, hier
verlangte die Rechtsprechung zu § 6 Abs. 1 Satz 2 einen weitestgehend
deckungsgleichen Anbau,
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vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 1995 - 7 A 159/94 -, BRS 57 Nr. 137,
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ließ der 1983 noch geltende § 7 Abs. 2 Satz 3 BauO NW ein nur bautechnisches
Aneinanderbauen zu. Die Vorschrift sagte nichts über Gestaltung und Umfang des
Anbaus aus.
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Vgl. Senatsbeschluss vom 10. März 1983 - 7 B 1736/82 -, BRS 40 Nr. 118.
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Wer in solch einer Situation, wie die Rechtsvorgänger der Antragsteller, aufgrund der
1983 erteilten Baugenehmigung durch die Ausgestaltung seines Baus einen Innenhof
schafft und sich demzufolge durch seine eigene Bebauung selbst empfindlich gegen die
bauliche Ausnutzung des Nachbargrundstücks gemacht hat, kann hieraus keine
zusätzlichen Rücksichtnahmeerfordernisse herleiten. Es war auch die Entscheidung der
Rechtsvorgänger der Antragsteller, die sie gegen sich gelten lassen müssen, nach
Inkrafttreten des Bebauungsplans B 110 in seiner ursprünglichen Fassung im Jahre
1983 (vgl. Blatt 3 der Bauakte des Hauses der Antragsteller) den Anbau einschließlich
Erweiterung des Mitteltraktes lediglich mit einem Vollgeschoss und damit mit einer
geringen Höhe zu errichten, obwohl der Bebauungsplan ein zweigeschossiges
Gebäude zuließ. Wer sein Grundstück nicht entsprechend dem Baurecht ausnutzt, kann
nicht verlangen, dass der Nachbar ebenso zurückhaltend baut.
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Die geringfügige Überschreitung der hinteren Baugrenze durch die Balkone berührt die
Antragsteller nicht in ihren Rechten; für eine nachbarschützende Funktion der
Festsetzung dieser Baugrenze gibt es keinen Anhaltspunkt. Eine Einblicksmöglichkeit
auch in Wohnräume ist in dicht besiedelten Gegenden regelmäßig gegeben. Es ist
Sache des Nachbarn, sich - z.B. durch Gardinen oder Jalousien - davor zu schützen.
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Das Vorhaben des Beigeladenen ist schließlich auch nicht deshalb rücksichtslos, weil
nach Auffassung der Antragsteller zur Straße hin ein unerträglicher Engpass geschaffen
wird. Durch das Vorhaben des Beigeladenen wird der Zugang zum Eingang der
Antragsteller nicht mehr als bisher eingeengt. Ob die Stellplätze wegen eines Baumes
nicht vollständig nutzbar sind, berührt Belange der Antragsteller nicht. Die von den
Antragstellern befürchtete Wertminderung ihres Grundstücks ist kein Maßstab dafür, ob
Beeinträchtigungen im Sinne des Rücksichtnahmegebots zumutbar sind oder nicht.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. November 1997 - 4 B 195.97 -, BRS 59 Nr. 177.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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