Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 31.07.2006

OVG NRW: beherrschende stellung, rücknahme, behörde, eltern, durchsuchung, familie, vertrauensschutz, rechtswidrigkeit, anhörung, rüge

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 58/05
Datum:
31.07.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 58/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 5 K 4491/02
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat in der Sache unter keinem der geltend
gemachten Gesichtspunkte Erfolg.
2
Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des
Ergebnisses des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Soweit die Klägerin sich gegen die auf den Akteninhalt und namentlich auf das Urteil
des OLG Düsseldorf vom 15. November 2000 gestützte und durch Bezugnahme auf das
Urteil - 5 K 4483/02 - im einzelnen begründete Feststellung des Verwaltungsgerichts
wendet, es müsse nach dem Akteninhalt davon ausgegangen werden, dass ihr Vater
Zugriff auf die erheblichen Einkünfte und Vermögenswerte des "L. -W. " bzw. der ihn
tragenden Organisationen, insbesondere der "T. E. B. J. " auch für private Zwecke
gehabt habe, fehlt es bereits an einer hinreichenden Darlegung ernstlicher Zweifel im
Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Klägerin hat den Ausführungen des
Verwaltungsgerichts zur Begründung dieser Feststellung unter Berufung auf die bereits
im Klageverfahren vorgelegten Erklärungen der "T. E. B. J. " vom 6. Juni 2000 und der
N. C. H. e. V. vom 15. Januar 2001 wie auch auf das ebenfalls bereits eingereichte
Protokoll der "U. W1. " zwischen der "T. E. B. J. " und dem Finanzamt L1. -O. vom 15.
November 2000 allein die Behauptung entgegengehalten, weder sie noch ihre Eltern
hätten während des gesamten Sozialhilfebezuges frei über das ihrem Vater anvertraute
Vereinsvermögen verfügen können, und sie hätten aus Glaubensgründen die
Privatvermögen auch niemals mit dem Vereinsvermögen vermischt. Dies reicht zur
Darlegung ernstlicher Zweifel nicht aus. Im Hinblick auf das Darlegungserfordernis nach
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§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hätte es vielmehr einer detaillierten argumentativen
Auseinandersetzung mit der in Rede stehenden Begründung des erstinstanzlichen
Urteils bedurft. Dies gilt umso mehr, als die Behauptung, ihre Eltern hätten keinerlei
privaten Zugriff auf die (angeblich ausschließlich) den Vereinen zuzuordnenden
Wertgegenstände (Bargeld und Schmuck) gehabt, jedenfalls ohne weitere Erläuterung
auch deshalb als außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegend und unglaubhaft zu
werten ist, weil ihr Vater während des Streitzeitraumes eine (mit-) beherrschende
Stellung in den Vereinen innehatte und weil ein nicht unerheblicher Teil des fraglichen
Bargeldes bei der Durchsuchung am nicht in den Vereinsräumen, sondern in dessen
Wohnung und dabei zwischen privater Wäsche versteckt aufgefunden worden ist.
Das die Herkunft und nicht die Verwendung der beschlagnahmten, angeblich nur der
Stiftung zuzuordnenden Gelder und Schmuckgegenstände betreffende
Zulassungsvorbringen, diese resultierten aus Sammlungen, Schenkungen und
Darlehen, ist von vornherein nicht geeignet, die Richtigkeit der Annahme des
Verwaltungsgerichts zu erschüttern, zumindest Teile der erworbenen oder
darlehnsweise überlassenen Gelder seien dem Vater bzw. zuvor dessen Vater als
jeweiligem L2. und G. des L3. bzw. "L. -W. " zur Bestreitung persönlicher Ausgaben
überlassen worden.
5
Auch das Zulassungsvorbringen, das Verwaltungsgericht habe ins Blaue hinein
angenommen, dass neben den aufgefundenen Geldern weitere Vermögenswerte
bestanden hätten, auf die die Klägerin oder ihre Eltern ebenfalls Zugriff zu privaten
Zwecken gehabt hätten, greift nicht durch. Denn diese im Zusammenhang mit der Frage
der steuerrechtlichen Zuordnung der aufgefundenen Mittel aufgestellte Vermutung des
Verwaltungsgerichts ist auf der Grundlage der mit dem Zulassungsvorbringen nicht
durchgreifend in Zweifel gezogenen Feststellung, dass dem Vater der Klägerin Mittel
des "L. -W. " auch zu privaten Zwecken zur Verfügung standen, mehr als nur
naheliegend. Die am - nach dem Streitzeitraum - aufgefundenen Vermögenswerte
konnten nämlich auch dann, wenn sie zu diesem Zeitpunkt das gesamte Barvermögen
des "L. -W. " ausgemacht haben sollten, lediglich eine punktuelle Abbildung der
Barvermögenslage des W. darstellen. Die Annahme, im vor der Durchsuchung
liegenden Streitzeitraum habe es keinerlei Bewegung im Barvermögen durch
Einnahmen, Ausgaben und Entnahmen gegeben, erweist sich unter Berücksichtigung
der festgestellten regen Wirtschaftstätigkeit des W2. deshalb als äußerst lebensfremd.
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Das weitere Zulassungsvorbringen der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe
unberücksichtigt gelassen, dass restliche Gelder an die Darlehnsgeber zurückgegeben
worden seien, greift schon deshalb nicht durch, weil eine solche Rückgabe nicht belegt
ist und insbesondere nicht aus der im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten
Klageschrift des Herrn G1. J1. abgeleitet werden kann. Sofern mit dem Hinweis auf
Anlage 7 lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt werden soll, die Klage des
Herrn J1. verdeutliche, dass es sich bei den Geldern nicht um Vermögen des Vaters der
Klägerin gehandelt habe, ist auch dies nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der
Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu wecken. Denn ein einzelner
gerichtlich geltend gemachter angeblicher Anspruch auf Rückzahlung von 40.000,00
DM ist offensichtlich nicht zu belegen geeignet, dass der Vater der Klägerin entgegen
den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keinerlei Zugriff auf das den Betrag von
40.000,00 DM weit übersteigende, am Durchsuchungstag mehr als 1 Million DM
betragende und während des Streitzeitraumes in wechselnder Höhe vorhandene
Barvermögen des "L. - W2. " hatte.
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Soweit die Klägerin ferner geltend macht, das Verwaltungsgericht habe nur unzutreffend
berücksichtigt, dass ihr Vater bis zu seiner nach dem Tode seines Vaters erfolgten Wahl
zum "L2. " überhaupt keine Einwirkungsmöglichkeit auf das Vereinsvermögen gehabt
habe, fehlt es wiederum schon an einer hinreichenden Darlegung ernstlicher Zweifel.
Denn hierzu reicht es nicht aus, schlicht den der verwaltungsgerichtlichen
Urteilsbegründung entgegengesetzten Standpunkt einzunehmen, ohne sich mit den in
Bezug genommenen diesbezüglichen Argumenten des Verwaltungsgerichts in dem im
Verfahren 5 K 4483/02 ergangenen Urteil (UA Seite 15, Zeilen 9 bis 27)
auseinanderzusetzen.
8
Gleiches gilt für das Zulassungsvorbringen zur Frage des Vertrauensschutzes, das sich
im Kern auf die bloße Behauptung beschränkt, die angefochtenen Verwaltungsakte
beruhten nicht auf Angaben im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X. Der weitere
Vortrag, das Verwaltungsgericht habe in keiner Weise gewürdigt, dass die Klägerin
selbst keinerlei Funktion oder Aufgaben im Rahmen des "L. - W2. " innegehabt habe,
sondern während des Bezugszeitraums minderjährig gewesen sei und deshalb
besonderen Vertrauensschutz genieße, ist von vornherein nicht geeignet, die
Feststellung des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, die Eltern der Klägerin hätten
bei der Beantragung der ihr bewilligten Sozialhilfe in voller Kenntnis ihrer finanziellen
Verhältnisse und des Zugriffs ihrer Familie auf Mittel des sogenannten "L. -W2. "
zumindest grob fahrlässig falsche Angaben über ihre angebliche Mittellosigkeit
gegenüber dem Beklagten gemacht, und dieses Fehlverhalten der gesetzlichen
Vertreter im Streitzeitraum sei der Klägerin nach der im öffentlichen Recht entsprechend
anzuwendenden Vorschrift des § 278 BGB zuzurechnen.
9
Schließlich führt auch der die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 Satz 2
SGB X verkennende, eine Versäumung der in dieser Vorschrift normierten Jahresfrist
behauptende Vortrag nicht zu ernstlichen Zweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Die gegenteilige verwaltungsgerichtliche Feststellung begegnet vielmehr keinen
durchgreifenden Bedenken. Nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde, wenn
sie in Anwendung des § 45 Abs. 2 Satz 3 einen rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen will, dies innerhalb
eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines
rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.
Die Jahresfrist beginnt - wie das Bundesverwaltungsgericht für die inhaltsgleiche
Vorschrift des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG in ständiger Rechtsprechung entschieden hat -,
sobald die Rücknahmebehörde die Rechtswidrigkeit des erlassenen Verwaltungsakts
erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen
Tatsachen vollständig bekannt sind. Dazu gehören die Umstände, deren Kenntnis es
der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter
Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden. Dies entspricht dem
Zweck der Jahresfrist als einer Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlaufen
kann, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung
bedeutsamen Tatsachen bekannt sind.
10
Grundlegend BVerwG, Beschluss des Großen Senats vom 19. Dezember 1984 -
BVerwG Gr. Sen. 1 und 2.84 -, BVerwGE 70, 356 = NJW 1985, 819; ferner BVerwG,
Urteil vom 20. September 2001 - 7 C 6/01 -, NVwZ 2002, 485, und Beschluss vom 7.
November 2000 - 8 B 137/00 -, NVwZ-RR 2001, 198 (alle zu § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG);
BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1995 - 5 C 10/94 -, BVerwGE 100, 199 = NVwZ
11
1996, 1217, (zu § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X).
Die Behörde erhält (erst) die Kenntnis im o. g. Sinne, wenn der nach der
innerbehördlichen Geschäftsverteilung zur Rücknahme oder zum Widerruf des
Verwaltungsaktes berufene Amtswalter oder ein sonst innerbehördlich zur rechtlichen
Prüfung des Verwaltungsaktes berufener Amtswalter positive Kenntnis erlangt hat.
12
BVerwG, Beschluss des Großen Senats vom 19. Dezember 1984 - Gr. Sen. 1 und 2/84 -
, BVerwGE 70, 356 = NJW 1985, 819, und Urteil vom 24. Januar 2001 - 8 C 8/00 -,
BVerwGE 112, 360.
13
Erkennt die Behörde bei Kenntnis aller in diesem Sinne bedeutsamen Tatsachen nicht,
dass diese die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit rechtfertigen, unterliegt
sie also einem Rechtsirrtum in Bezug auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, so
wird die Jahresfrist noch nicht in Gang gesetzt.
14
BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1989 - 1 C 36/87 -, BVerwGE 84, 17 = NJW 1990, 724.
15
In Anwendung dieser Grundsätze liegt es auf der Hand, dass die Entscheidungsfrist des
§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X vorliegend nicht schon aufgrund von dem Beklagten im Jahre
1998 vermittelten Erkenntnissen zu laufen beginnen konnte, weil dieser ausweislich
seines an den Generalbundesanwalt gerichteten Schreibens vom 10. Juni 1998 davon
ausging, dass dem Vater der Klägerin und seiner Familie ein unrechtmäßiger Bezug
von Sozialhilfeleistungen auf der gegebenen Tatsachengrundlage nicht nachzuweisen
sei; dass dieser Beurteilung eine fehlerhafte Wertung des erkannten Tatsachen
zugrunde lag, ist nicht erkennbar, aber auch unerheblich. Die Jahresfrist konnte auch
noch nicht durch die Presseberichte vom zum Auffinden von fast 2 Mio. DM "bei dem L2.
" oder die Anfrage der D. -Fraktion im Stadtbezirk O1. vom 29. November 2000 in Gang
gesetzt werden. Die Presseberichte stellten sich aus der maßgeblichen Sicht der
zuständigen Amtswalter der Rücknahmebehörde, d. h. des zuständigen Mitarbeiters des
Sozialamtes des Beklagten, ausweislich des Vermerks vom 24. November 2000
vielmehr als Anlass für erneute Ermittlungen, nämlich für eine Anfrage bei dem
Generalbundesanwalt dar. Die Antwort des Generalbundesanwalts vom 1. Dezember
2000 führte aus der Sicht der Rücknahmebehörde nicht weiter. Sie enthielt lediglich die
Angabe, dass die Beweisaufnahme vor dem OLG Düsseldorf weitere konkrete
Erkenntnisse zu den finanziellen Verhältnissen des Vaters der Klägerin nicht erbracht
habe; die in der Presse zitierten Äußerungen zum Auffinden von fast zwei Mio. DM
bezögen sich auf die Durchsuchung der Räumlichkeiten des sogenannten L4. in L1. am
28. April 1998, über die er den Beklagten bereits unterrichtet habe. Erst der Artikel des
L5. T1. -B1. vom , dem u. a. zu entnehmen war, dass Geld und Gold in dem
Schlafzimmer des Vaters der Klägerin - und nicht etwa in Verbandszwecken dienenden
Räumlichkeiten - aufgefunden worden seien, und dass es sich hierbei um fast 2 Mio. DM
gehandelt habe, führte - wie auch aus dem von der Klägerin in Bezug genommenen
Aktenvermerk des Beklagten hervorgeht - zu weitergehenden Erkenntnissen des
Beklagten, die ihn nach weiteren Ermittlungen veranlassten, die Klägerin durch den
angefochtenen Rücknahme- und Rückforderungsbescheid vom 21. Dezember 2001
wegen zu Unrecht gewährter Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Da dieser
Bescheid der Klägerin schon am 29. Dezember 2001 und damit rund einen Monat nach
dem 27. November 2001 zugestellt worden ist, begegnet die erstinstanzliche
Entscheidung im Hinblick auf die Einhaltung der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB
X im Ergebnis keinen ernstlichen Zweifeln. Lediglich ergänzend sei hier darauf
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hingewiesen, dass eine vollständige Tatsachenkenntnis im Sinne dieser Vorschrift, die
erst die Jahresfrist in Gang zu setzen geeignet ist, regelmäßig sogar erst nach
Durchführung der gebotenen - hier erst im Widerspruchsverfahren nachgeholten -
Anhörung vorliegen wird. Denn eine vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes
(hier: der Rücknahme) nach § 24 Abs. 1 SGB X gebotene Anhörung dient dazu, dem
betroffenen Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung
erheblichen Tatsachen zu äußern, zielt damit regelmäßig auf die Ermittlung (weiterer)
entscheidungserheblicher Tatsachen ab und soll deshalb Entscheidungsreife erst noch
herstellen.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. November 2000
17
- 8 B 137/00 -, NVwZ-RR 2001, 198, Urteile vom 20. September 2001 - 7 C 6/01 - ,
NVwZ 2002, 485, vom 8. Mai 2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174 = NVwZ 2004, 113,
und vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, NVwZ 2006, 707.
18
Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
liegen auch nicht die behaupteten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten im
Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor.
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Die Verfahrensrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) der Klägerin, das angefochtene Urteil
genüge aufgrund der in den Entscheidungsgründen (teilweise) erfolgten Bezugnahme
auf die Entscheidungsgründe des Urteils in dem den Vater der Klägerin betreffenden
Parallelverfahren 5 K 4483/02 nicht den Anforderungen der §§ 117 (Abs. 2 Nr. 5), 108
Abs. 1 Satz 2 VwGO, greift nicht durch. Nach der zuletzt genannten Regelung sind in
dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen
sind. Das ist verfahrensrechtlich geboten, um die Beteiligten über die dem Urteil
zugrundeliegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu unterrichten und um
dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche
Richtigkeit zu ermöglichen. Sind Entscheidungsgründe derart mangelhaft, dass sie
diese doppelte Funktion nicht mehr erfüllen können, ist die Entscheidung nicht mit
Gründen versehen. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn der Entscheidungsformel
überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung
nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen
sind, weil die angeführten Gründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos
oder sonstwie völlig unzureichend sind.
20
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 2002 - 2 C 25/01 -, BVerwGE 117, 228 = NJW
2003, 1753, sowie Beschlüsse vom 25. Februar 2000 - 9 B 77/00 -, Buchholz 402.240 §
53 AuslG Nr. 31 und vom 5. Juni 1998 - 9 B 412/98 -, NJW 1998, 3290.
21
Nach der Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es dabei
prozessrechtlich grundsätzlich zulässig, die für die gerichtliche Überzeugung leitend
gewesenen Gründe durch eine in den Entscheidungsgründen ausgesprochene
Bezugnahme auf tatsächliche Feststellungen und rechtliche Erwägungen in einer genau
bezeichneten anderen Entscheidung anzugeben. Die bereits angesprochene doppelte
Funktion schriftlicher Entscheidungsgründe erfüllt auch eine Bezugnahme, sofern die
Beteiligten die in Bezug genommene Entscheidung kennen oder von ihr ohne
Schwierigkeiten Kenntnis nehmen können und sofern sich für sie und das
Rechtsmittelgericht aus einer Zusammenschau der Ausführungen in der Bezug
nehmenden und der in Bezug genommenen Entscheidung die für die richterliche
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Überzeugung maßgeblichen Gründe mit hinreichender Klarheit ergeben.
BVerwG, Beschluss vom 3. Januar 2006 - 10 B
23
17/05 -, Juris, m. w. N.; vgl. ferner BVerwG, Beschluss vom 22. November 1994 - 5 PKH
64/94 -, Juris.
24
Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass das angefochtene Urteil diesen Anforderungen
nicht genügt. Zwar hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des im
vorliegenden Verfahren ergangenen Urteils nicht sämtliche für seine
Überzeugungsbildung wesentlichen Erwägungen zur Rechtmäßigkeit der Aufhebung
der Sozialhilfebewilligungen niedergelegt, sondern nur näher ausgeführt, dass die
Klägerin sich gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht auf Vertrauensschutz berufen
könne und die Ermessensbetätigung des Beklagten nicht zu beanstanden sei. Dem
Vorbringen der Klägerin ist aber nicht zu entnehmen, dass die tatsächlichen
Gegebenheiten den Schluss rechtfertigen, das Verwaltungsgericht sei unter
Berücksichtigung der oben dargestellten Grundsätze aus Rechtsgründen gehindert
gewesen - wie geschehen - zur Begründung im übrigen, nämlich insbesondere
hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 SGB X auf seine
Ausführungen in dem den Vater der Klägerin betreffenden und von dem Gericht genau
bezeichneten Urteil - 5 K 4483/02 - vom selben Tage Bezug zu nehmen. Insbesondere
hat die Klägerin nicht substantiiert und nachvollziehbar dargelegt, sie habe entgegen
jeder Erwartung nicht ohne Schwierigkeiten Kenntnis von dem ihren Vater betreffenden
Urteil im Verfahren 5 K 4483/02 nehmen können, obwohl beide Urteile dem von ihr und
ihrem Vater beauftragten gemeinsamen Prozessbevollmächtigten am selben Tage
zugestellt worden waren und damit während des gesamten Laufs der für die Klägerin
geltenden Rechtsmittelfristen vorlagen. Das Vorbringen der Klägerin, es sei ihr nicht
möglich gewesen, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nachzuvollziehen und
über die Einlegung eines Rechtsmittels zu entscheiden, reicht in dem in Rede
stehenden Zusammenhang auch deshalb nicht aus, weil ihr Prozessbevollmächtigter
(auch) im vorliegenden Verfahren fristgerecht eine ersichtlich auf der Grundlage der
vollständigen Entscheidungsgründe verfasste Zulassungsbegründungsschrift vorgelegt
hat. Danach besteht keine Veranlassung, anzunehmen, dass die von dem
Verwaltungsgericht vorgenommene Bezugnahme aufgrund der erfolgten
Zusammenschau beider Urteilsbegründungen hier die Unterrichtungsfunktion der
schriftlichen Entscheidungsgründe beeinträchtigt haben könnte. Ebensowenig besteht
Grund zu der Annahme, dass ihre weitere Funktion, dem Rechtsmittelgericht eine
inhaltliche Überprüfung zu ermöglichen, beeinträchtigt sein könnte, weil sich durch
Beiziehung des den Vater der Klägerin betreffenden Urteils 5 K 4483/02 auch dem
Rechtsmittelgericht aufgrund einer Gesamtschau beider Urteile ein klares Bild
sämtlicher für die richterliche Überzeugung leitenden Gründe vermitteln ließ.
25
Schließlich rechtfertigt auch die nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO erhobene Rüge der
Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht die Zulassung
der Berufung. Eine solche Aufklärungsrüge setzt unter anderem die Darlegung voraus,
dass die Nichterhebung der Beweise vor dem Tatsachengericht rechtzeitig gerügt
worden ist.
26
BVerwG, Beschluss vom 12. August 1997 - 8 B 165.97 -.
27
Hieran fehlt es. Denn die Zulassungsbegründung lässt nicht erkennen, dass die in der
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mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretene Klägerin
einen förmlichen Beweisantrag gestellt und das Unterlassen einer weiteren Aufklärung
des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht vor einer abschließenden
Entscheidung gerügt hat. Dem insoweit maßgeblichen Protokoll der mündlichen
Verhandlung ist eine derartige Rüge nicht zu entnehmen. Auch das lediglich von
"Beweisangeboten" sprechende Zulassungsvorbringen enthält hierzu nichts. Im Übrigen
läge eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO nur vor, wenn sich
dem Verwaltungsgericht nach dem seinerzeitigen Verfahrensstand eine weitere
Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Januar 1998 - 8 B 253.97 -, Buchholz 401.61
Zweitwohnungssteuer Nr. 14; VGH Mannheim, Beschluss vom 25. Februar 1997 - 5 S
352/97 -, NVwZ 1998, 865.
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Das Vorliegen einer solchen Fallgestaltung ist hier indes mit Blick auf die vorstehenden
Ausführungen nicht erkennbar.
30
Die Entscheidung über die Kosten des nach § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO
gerichtskostenfreien Verfahrens folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
31
Mit diesem Beschluss, der nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar ist, wird das
angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts L1. rechtskräftig (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 4
VwGO).
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