Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.11.2000

OVG NRW: gemeinde, schutzwürdiges interesse, verwirkung, rückzahlung, konkretisierung, realisierung, rechtsmissbrauch, vertragsinhalt, rückforderung, baurecht

Oberverwaltungsgericht NRW, 10 A 1966/99
Datum:
03.11.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 A 1966/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 9 K 9654/97
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
G r ü n d e :
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Der auf § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Zulassungsantrag der Beklagten ist
unbegründet.
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1. Die aufgeworfene Frage,
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"ob in Fällen, in denen die Vertragsparteien eines Stellplatzablösevertrages keine
Regelungen über die Rückzahlung des Betrages im Falle der Nichtdurchführung des
Vorhabens getroffen haben, der Schuldner des Stellplatzablösebetrages einen
Anspruch auf Rückzahlung bereits gezahlter Beträge hat, wenn die Baugenehmigung
nicht ausgenutzt wird",
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rechtfertigt die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht.
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Die Beantwortung dieser Frage hängt von den besonderen Umständen des jeweiligen
Einzelfalles ab und läßt sich nicht unabhängig davon in verallgemeinerungsfähiger
Weise klären.
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Leistungsansprüche der Gemeinde aus Stellplatzablöseverträgen und hierauf bezogene
Rückabwicklungsansprüche beruhen auf Verträgen, die nach der gesetzlichen Ordnung
(§ 47 Abs. 5 BauO NW 1984/§ 51 Abs. 5 BauO NRW) öffentlich-rechtlich geregelt sind.
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vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 2000 - 4 B 33.00 -,
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Für sie gelten die Vorschriften der §§ 54 ff. VwVfG NRW und mithin auch die
Regelungen des § 60 VwVfG NRW als gesetzliche Ausprägung der namentlich in der
Rechtsprechung der Zivilgerichte entwickelten Grundsätze über die Änderung bzw. den
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Wegfall der Geschäftsgrundlage eines solchen Vertrages. Die dort bestimmten
Rechtsfolgen setzen zweierlei voraus. Es müssen sich zunächst die "für die Festsetzung
des Vertragsinhalts maßgebend gewesenen Verhältnisse" geändert haben. Da nicht
jede Änderung der Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts
maßgebend gewesen sind, dazu berechtigt, eine Anpassung der Vertrages zu
verlangen, muss es sich weiterhin um eine so "wesentliche" Änderung handeln, dass
dem von ihr betroffenen Vertragspartner ein Festhalten an den geschlossenen
Vereinbarungen nicht zuzumuten ist. Dies richtet sich insbesondere danach, in wessen
Risikobereich die angeführte Änderung der Verhältnisse fällt. Für die Bestimmung und
die Abgrenzung des jeweiligen Risikorahmens ist wiederum eine alle Umstände des
Einzelfalls einbeziehende Bewertung vorzunehmen. Dabei können vertragliche
Risikozuweisungen, die sich aus dem Vertragstext selbst, dem Vertragszweck sowie
dem anzuwendenden dispositiven Recht ergeben können, unter dem Vorbehalt ihrer
rechtlichen Beachtlichkeit im Einzelnen bedeutsam sein. Auch das von der Beklagten
angeführte Fehlen ausdrücklicher Risikozuweisungen bzw. entsprechender
Regelungen über Rückzahlungsansprüche mag hier Gewicht haben. Das ändert jedoch
nichts daran, dass die den jeweils konkreten Lebenssachverhalt ausmachenden
Umstände einer Gesamtschau zu unterziehen sind, um die Risikozuordnung
abschließend vornehmen zu können.
Zum Ganzen vgl. etwa Bonk in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 5. Auflage, § 60 Rdn. 9
(17 ff.) m.w.N.
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Die Nichtausnutzung einer Baugenehmigung, in deren Zusammenhang ein
Stellplatzablösevertrag geschlossen worden ist, kann eine in diesem Sinne beachtliche
Veränderung der Verhältnisse darstellen.
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Die nach § 47 Abs. 5 BauO NW 1984/§ 51 Abs. 5 BauO NRW zulässige Ablösung von
Stellplätzen - auch aufgrund einer entsprechenden vertraglichen Ablösevereinbarung -
begründet eine Zahlungspflicht des Bauherrn als Gegenleistung für den Verzicht auf die
Erfüllung der Rechtspflicht zur Herstellung der realen Stellplätze, die sich bei
Ausnutzung der Baugenehmigung für das geplante Bauvorhaben ergeben würden. Die
Zahlung des Geldbetrages (Ablösebetrag) ist insoweit Surrogat der Pflicht des Bauherrn
zur Herstellung realer Stellplätze. Die Zahlung bewirkt, dass die Gemeinde ein von ihr
nach der gesetzlichen Regelung in § 47 Abs. 5 Satz 3 BauO NRW 1984/§ 51 Abs. 6
BauO NRW zweckgebunden zu verwendender und als Sonderabgabe zu wertender
Geldbetrag zufließt.
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Vgl. OVG NRW, Urteile vom 5. September 1996 - 7 A 958/94 - BRS 58 Nr. 122; vom 12.
September 1996 - 7 A 3131/95 - sowie vom 13. Februar 1998 - 7 A 637/ 96 -.
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Auf der Grundlage dieses einem Ablösevertrag zugrunde liegenden
Austauschverhältnisses hat das Gericht schon in seinem Urteil vom 5. September 1996
a.a.O. die jeweilige Interessenlage der Parteien eines Stellplatzablösevertrages
herausgestellt. Der (vormalige) Bauherr hat regelmäßig kein Interesse daran, einen
Ablösebetrag für Stellplätze zu zahlen, die von ihm mangels Realisierung des
Vorhabens nicht zu erstellen sind. Die Gemeinde hat regelmäßig kein schützenswertes
Interesse, den ihr nach dem Gesetz zweckgebunden für Maßnahmen nach § 47 Abs. 5
Satz 3 BauO NW 1984/§ 51 Abs. 6 BauO NRW zugeflossenen Geldbetrag behalten zu
dürfen, wenn kein Bauvorhaben realisiert wird, das einen entsprechenden
Stellplatzbedarf, den es zu kompensieren gilt, auslöst.
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Damit ist die Ausnutzung einer Baugenehmigung, auf die sich ein
Stellplatzablösevertrag bezieht, ein "für die Festsetzung des Vertragsinhalts
maßgebliches Verhältnis" i.S.d. § 60 Abs. 1 VwVfG NRW, nämlich ein Umstand, der
zwar nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhoben worden ist, von dessen
Vorhandensein bzw. künftigem Eintritt aber erkennbar jedenfalls eine der
Vertragsparteien bei verständiger Würdigung mit ihrem Geschäftswillen ausgegangen
ist.
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Vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. November 1998 - 8 S 2581/98 -
VBl.BW 1999, 140 und Urteil vom 9. März 1999 - 8 S 2877/98 - NVwZ-RR 2000, 206 in
Konkretisierung der auch von der Beklagten angesprochenen Beurteilung in seinem
Beschluss vom 11. Juli 1990 - 5 S 357/90 - BRS 50 Nr. 132.
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Es läßt sich allerdings nicht allgemein beantworten, ob vor diesem Hintergrund auch die
weiteren Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwVfG NRW mit der Rechtsfolge eines
Rückzahlungsanspruchs zugunsten eines vormaligen Bauherrn gegeben sind. Dies
hängt von den weiteren Umständen des Einzelfalls ab.
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2. Ebenfalls nicht grundsätzlich klärungsfähig ist die von der Beklagten aufgeworfene
Frage,
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"ab wann das Interesse der Gemeinde an der Klarheit über die Frage des
Behaltendürfens der empfangenen Leistung überwiegt, so dass die Geltendmachung
eines Rückforderungsanspruchs rechtsmissbräuchlich wäre bzw. der
Rückforderungsanspruch verwirkt ist".
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Auch die Feststellung der Verwirkung eines Anspruchs bzw. dessen
rechtsmissbräuchliche Geltendmachung kann nur unter Würdigung der Umstände des
Einzelfalls erfolgen. Von daher läßt sich kein bestimmter Zeitpunkt angeben, an dem in
jedem Fall und zudem losgelöst von dem Eintritt vertrauensbegründender Umstände auf
Seiten der Gemeinde eine Verwirkung oder ein Rechtsmissbrauch anzunehmen ist. Im
übrigen hat der 7. Senat des beschließenden Gerichts in seinem Urteil vom 5.
September 1996 a.a.O. auch hierzu das Erforderliche ausgeführt. Er hat der Gemeinde
ein schutzwürdiges Interesse daran eingeräumt, zumindest nach einer gewissen Zeit
Klarheit zu erhalten, ob der an sie zwecks Ablösung gezahlte Betrag weiter für eine
etwaige Rückforderung bereitzuhalten ist oder für den gesetzlichen Zweck eingesetzt
werden kann. Zugleich ist aber darauf hingewiesen worden, der Gemeinde stünden
zumutbare vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten im Ablösevertrag zur Verfügung, um
einer ihr unzumutbaren Zeitspanne der Ungewissheit über die Verwendbarkeit des
Ablösebetrages entgegenzuwirken. Es bedarf keiner Klärung in einem
Berufungsverfahren, dass bei Unterbleiben derartiger Abreden jedenfalls die bloße
Nichtausnutzung der Baugenehmigung innerhalb ihrer Geltungsdauer kein unter den
Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchs oder der Verwirkung beachtliches Verhalten
des Bauherrn im Verhältnis zur Gemeinde als Vertragspartnerin der Ablösevereinbarung
darstellt. Dem geltenden Recht ist eine Pflicht oder auch nur eine Obliegenheit des
Bauherrn, sein Baurecht nur deshalb genehmigungsentsprechend auszunutzen, damit
auf Seiten der Gemeinde die Voraussetzungen für ein Behaltendürfen der
zweckgebundenen Ablösebeträge geschaffen werden, fremd. Daran ändert der
Abschluss eines Ablösevertrages und die vereinbarungsgemäße Vorausleistung des
Ablösebetrages vor Erhalt der Baugenehmigung nichts. Auf die Gründe für die
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Nichtausnutzung der Baugenehmigung kommt es damit nicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt
aus § 13 Abs. 2 GKG.
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Mit der Ablehnung des Antrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig, § 124 a Abs.
2 Satz 3 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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