Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 27.09.2005

OVG NRW: örtliche zuständigkeit, jugendhilfe, jugendamt, stadt, verfahrensablauf, unterbringung, begriff, zuständigkeitsstreit, obhut, familie

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 B 1563/05
Datum:
27.09.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 B 1563/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 L 1445/05
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
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Soweit der Antragsgegner mit dem Beschwerdevorbringen seine Zuständigkeit für die
begehrte Jugendhilfeleistung bestreitet, weil sich das Kind B. bei der Familie C. bis
zuletzt lediglich im Sinne von § 42 SGB VIII in Obhut befunden habe und er bis dahin
einen irgendwie gearteten Bedarf von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII nicht
habe erkennen können, ändert dies nichts daran, dass er zumindest nach § 86d SGB
VIII zu einem vorläufigen Tätigwerden verpflichtet bleibt. Nach der genannten Vorschrift
ist der örtliche Träger, in dessen Bereich sich das Kind vor Beginn der Leistung
tatsächlich aufgehalten hat, vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, wenn die örtliche
Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird. Der
Antragsgegner muss sich zurechnen lassen, dass die Frage der örtlichen Zuständigkeit
mit den begrenzten Mitteln des einstweiligen Rechtsschutz-verfahrens nicht endgültig zu
klären ist. Nicht zuletzt dann, wenn die Einschlägigkeit des § 86 c SGB VIII in Frage
steht, bietet § 86 d SGB VIII eine Rechtsgrundlage für ein rasches Tätigwerden.
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Vgl. Reisch in Jens/Happe/Saurbier, Kinder- und
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Jugendhilferecht, Erl. § 86 c KJHG Art. 1, Rdnr. 2
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§ 86d SGB VIII begründet eine vorläufige Leistungspflicht gerade dazu, um nachteilige
Folgen für den Hilfeberechtigten abzuwenden, die sich aus der mitunter schwierigen
Feststellung des zuständigen örtlichen Trägers oder aus der Untätigkeit des
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zuständigen örtlichen Trägers ergeben.
Vgl. im Einzelnen etwa: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. März 2004 - 9 S
575/03 - , FEVS 56, 211 m. w. N.
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Ein Zuständigkeitsstreit darf nicht - wie es hier ansonsten droht - auf dem Rücken von
Anspruchsberechtigten und Kind ausgetragen werden.
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Vgl. zu dieser Zielsetzung des § 86 d SGB VIII etwa:
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BayVGH, Beschluss vom 24. April 2001 - 12 CE 00.1337 -,
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FEVS 52, 471; Wiesner in Wiesner/Mörsberger/Oberlos-
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Kamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl., § 86 d Rdnr. 1
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Die Unklarheiten hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit sind vorliegend ausweislich der
Verwaltungsvorgänge nicht dem Antragsteller anzulasten, der sich vielmehr unter
Anleitung des Jugendamtes G. um einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf bemüht
hat. Vor diesem Hintergrund kann der Antragsgegner insbesondere nicht erstmals im
vorliegenden Beschwerdeverfahren damit gehört werden, der Antragsteller habe einen
Antrag auf Hilfeleistung in der Vergangenheit nicht ausdrücklich auch im Namen der
ebenfalls personensorgeberechtigten Kindesmutter gestellt. Der beim Sozial- und
Jugendamt der Stadt G. am 1. Juni 2005 protokollierte Antrag auf Hilfe zur Erziehung ist
im übrigen von Frau T. mit unterzeichnet, sie hatte zudem bereits unter dem 3. Januar
2005 eine umfassende Einverständniserklärung abgegeben.
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Vor Beginn der Leistung hat sich B. tatsächlich im Bereich des Antragsgegners
aufgehalten. Der Begriff „Beginn der Leistung" ist nicht einheitlich auszulegen, sondern
abhängig vom Regelungszusammenhang, in dem er vorkommt.
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So auch: Kunkel in LPK-SGB VIII, 2. Aufl. § 86 Rdnr. 7.
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Im Lichte der Zuständigkeitsauseinandersetzung ist der „Beginn der Leistung" hier mit
dem Beginn der Jugendhilfemaßnahme als „Gesamtmaßnahme" anzusetzen, mithin mit
der Maßnahme, an die die Zuständigkeit des Antragsgegners denkbar
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- nämlich unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtes -
angeknüpft. In der vorliegenden Konstellation entspricht es Sinn und Zweck des § 86d
SGB VIII, die nicht geklärte Frage offenzuhalten, inwieweit mit der Zustimmung der
Kindesmutter zu der Unterbringung ihres Sohnes B. in der Pflegefamilie C. eine
Leistung im Sinne der §§ 27 und 33 SGB VIII (Vollzeitpflege) als Beginn eines
einheitlichen und nicht unterbrochenen Hilfevorgangs erbracht worden ist und ob nicht
auch die bloße Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII trotz ihrer Einordnung als andere
Aufgabe der Jugendhilfe in § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII wegen der darin enthaltenen
leistungsrechtlichen Elemente
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vgl. Steffan in LPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 2 Rdnr. 18
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dennoch für spätere Leistungen der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB VIII
zuständigkeitsbestimmend sein kann. Die abschließende Klägerung ist einem
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eventuellen Kostenerstattungsverfahren nach § 89c SGB VIII zu überlassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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