Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.02.2006

OVG NRW: politische verfolgung, genfer konvention, auskunft, bundesamt für migration, syrien, europäische union, persönliche freiheit, staatliche verfolgung, wahrscheinlichkeit, gefahr

Oberverwaltungsgericht NRW, 15 A 2119/02.A
Datum:
14.02.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
15 A 2119/02.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 1 K 119/01.A
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit es von den Beteiligten
übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt worden ist. Das
angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts ist in entsprechendem
Umfang wirkungslos.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Von den bis zur teilweisen Berufungsrücknahme entstandenen
außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte ¼. Von den
bis zur teilweisen Berufungsrücknahme entstandenen
außergerichtlichen Kosten der Beklagten trägt die Klägerin ¾. Von den
danach bis zur teilweisen Erledigungserklärung in der heutigen
mündlichen Verhandlung entstandenen außergerichtlichen Kosten der
Beteiligten - einschließlich der durch das Verfahren vor dem
Bundesverwaltungsgericht entstandenen - trägt die jeweils andere
Beteiligte die Hälfte. Die danach entstandenen Kosten trägt die Klägerin.
Im Übrigen trägt jede Beteiligte ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige
Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung
in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die am 1981 oder 1982 in B. (Syrien) geborene bzw. registrierte Klägerin ist kurdischer
Volkszugehörigkeit und nach ihren Angaben jezidischer Religionszugehörigkeit.
2
Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 16.
Mai 2000 führte die Klägerin aus, sie sei in Syrien als Ausländerin registriert, habe also
nicht die syrische Staatsangehörigkeit. Sie sei im April 2000 zusammen mit ihren
Neffen, ihrer Schwester und Familie auf dem Luftweg nach Deutschland gekommen.
Ihre Eltern seien 1990 und 1995 verstorben, drei Brüder und drei Schwestern lebten in
verschiedenen Orten in Syrien. Weiter gab die Klägerin an, sie habe ihre Religion in
Syrien versteckt praktiziert, sodass niemand davon gewusst habe. Ihr Bruder habe sie
nach Deutschland geschickt, weil sie die hier lebenden Großeltern versorgen müsse. In
Syrien habe sie sich politisch nicht betätigt. Sie sei in ihrem Heimatland auch nicht
politisch verfolgt worden und habe bei ihrer Rückkehr nichts zu befürchten. Ihr Neffe und
ein Schwager hätten allerdings Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt.
3
Nach der Anhörung vor dem Bundesamt legte die Klägerin eine rote
Identitätsbescheinigung im Original vor, nach der beigefügten Übersetzung vom
Standesamt in L. ausgestellt. Darin wird als Geburtsdatum der 1982 angegeben; die
Klägerin wird als Ausländerin bezeichnet, die nach der Volkszählung von 1962 nicht als
syrische Staatsangehörige registriert sei. Außerdem wurde ein Sprachgutachten
angefertigt, dass zu dem Ergebnis kam, die Klägerin stamme mit Sicherheit aus der
Provinz B1. -I. in Syrien.
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Durch Bescheid vom 6. Dezember 2000 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der
Klägerin ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen und forderte sie zur Ausreise
auf, verbunden mit einer auf Syrien oder einem anderen aufnahmeverpflichteten oder -
bereiten Staat bezogenen Abschiebungsandrohung. Zur Begründung führte das
Bundesamt aus, dass eine Asylanerkennung schon deshalb ausscheide, weil die
Klägerin eine Einreise auf dem Luftweg nicht glaubhaft gemacht habe. Auch die
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG komme nicht in Betracht. Die
Klägerin sei syrische Staatsangehörige und Jezidin, doch bestehe für sie keine Gefahr,
in Syrien in asylerheblicher Weise verfolgt zu werden. Sie sei persönlich nicht von
asylrelevanten Übergriffen betroffen gewesen, sondern habe ausdrücklich angegeben,
sie habe bei einer Rückkehr nichts zu befürchten. Auch wenn die Lage der Jeziden in
einigen Gebieten problematisch sei, so stehe doch allen Jeziden in den Städten
jedenfalls eine inländische Fluchtalternative offen. Auch Abschiebungshindernisse nach
§ 53 AuslG seien nicht glaubhaft gemacht worden. Der Bescheid wurde am 2. Januar
2001 an die Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin abgesandt.
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Zur Begründung ihrer am 12. Januar 2001 erhobenen Klage hat die Klägerin
vorgetragen, sowohl ihre Eltern als auch die Großeltern stammten aus der Türkei, und
zwar aus L1. . Der Vater der Klägerin habe seinen Militärdienst in der Türkei geleistet
und sei dann nach Syrien ausgewandert. Ihre eigene Lage in Syrien sei sehr schlecht
gewesen; man habe sie ständig unterdrückt und bedroht und ihr auch gedroht, sie zu
entführen.
6
Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 6. Dezember
2000 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die
8
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG vorliegen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Mit dem angefochtenen Urteil vom 23. April 2002 - dem Prozessbevollmächtigten der
Klägerin am 30. April 2002 zugestellt - hat das Verwaltungsgericht die Klage
abgewiesen. Es hat offen gelassen, ob die Klägerin türkische Staatsangehörige ist. Ein
Asylanspruch sei schon deshalb ausgeschlossen, weil - eine türkische
Staatsangehörigkeit unterstellt - sie in Syrien Schutz vor politischer Verfolgung
gefunden habe; auch habe sie kein individuelles Verfolgungsschicksal glaubhaft
gemacht.
11
Auf den am 14. Mai 2002 gestellten Antrag der Klägerin hat das Gericht durch
Beschluss vom 6. Februar 2003 die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
zugelassen.
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Zur Begründung ihrer Berufung hat die Klägerin darauf verwiesen, dass sie türkische
Staatsangehörige sei; ihre Eltern und Großeltern stammten aus der Türkei.
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Die Klägerin hat die Berufung im Berufungsverfahren im Termin zur mündlichen
Verhandlung vom 23. Juli 2003 zurückgenommen, soweit Ziffer 1 des Bescheides des
Bundesamtes vom 6. Dezember betroffen ist und hat im Übrigen beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern, die Ziffern 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes
vom 6. Dezember 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen,
15
hilfsweise
16
unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Dezember 2000 festzustellen, dass
hinsichtlich der Türkei Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bestehen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 23. Juli 2003 ist die Klägerin zu ihren Asylgründen
angehört worden. Auf die Niederschrift vom 23. Juli 2003 wird Bezug genommen.
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Mit Urteil vom 23. Juli 2003, auf dessen Inhalt verwiesen wird, hat das Gericht die
Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes vom 6.
Dezember 2000 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Die Revision gegen das Urteil hat das Gericht
zunächst nicht zugelassen. Auf die Beschwerde der Beklagten hat das Gericht sodann
die Revision gegen das Urteil zugelassen. Auf die Revision der Beklagten hat das
Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 23. Juli 2003
durch Urteil vom 8. Februar 2005 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, soweit das Gericht der Berufung
stattgegeben hatte. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts Bezug genommen.
19
Die Klägerin nimmt zur Begründung ihres Berufungsbegehrens Bezug auf ihr bisheriges
Vorbringen. Ergänzend trägt sie im Wesentlichen vor: Entgegen den Annahmen der
Beklagten lebten in der Türkei nicht etwa ca. 2000 Yeziden, sondern nur wenige
Hundert. Eine Rückkehr von Yeziden in die Türkei im nennenswerten Umfang finde
nicht statt. Die wenigen in der Türkei verbliebenen Yeziden würden nicht mehr als
Gruppe wahrgenommen, so dass eine Verfolgung bereits aus diesem Grunde kaum
möglich erscheine. Bei einer - wie hier - extrem zurückgegangenen Anzahl von
Gruppenmitgliedern seien an die Feststellung des Vorliegens einer Gruppenverfolgung
besondere Maßstäbe anzulegen. Sonst würden die Verfolger belohnt, denen es gelinge,
eine Minderheit zu vertreiben. Abgesehen davon habe es in den letzten drei Jahren in
der Südosttürkei mindestens neun schwerwiegende asylrelevante Übergriffe seitens der
Moslems auf Yeziden aus religiösen Gründen gegeben und die türkischen Behörden
hätten dagegen keinen Schutz gewährt. Schließlich sei auch das religiöse
Existenzminimum in der Türkei nicht gewährleistet, da die dafür erforderliche Gemeinde
sowie die für die Murids zuständigen Sheikhs bzw. Pirs nicht vorhanden seien.
20
Im Berufungsverfahren im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2006
hat die Beklagte den angefochtenen Bescheid vom 6. Dezember 2000 insoweit
aufgehoben, als festgestellt wird, dass Abschiebungshindernisse nicht vorliegen und die
Klägerin zur Ausreise aufgefordert und ihr die Abschiebung angedroht wird. In diesem
Umfang haben die Beteiligten die Hauptsache für erledigt erklärt. Die Klägerin beantragt
im Übrigen,
21
das angefochtene Urteil zu ändern, die Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Dezember 2000 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
22
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Erkenntnisse und Unterlagen, auf die die Beteiligten im Berufungsverfahren mit den
Ladungsverfügungen 18. Juni 2003 und vom 2. Dezember 2005 sowie mit Schreiben
vom 6. Februar 2006 hingewiesen worden sind, sind zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug
genommen.
26
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
27
Entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO und § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO ist das von den
Beteiligten hinsichtlich der Regelungen in Ziffern 3 und 4 des angefochtenen
Bescheides (Ziffer 3: Feststellung betr. das Vorliegen von Abschiebungshindernissen
nach § 53 AuslG a.F; Ziffer 4: Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung)
übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärte Verfahren einzustellen und das
angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts für wirkungslos zu erklären.
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Im Übrigen ist die vom Gericht zugelassene Berufung der Klägerin unbegründet. Das
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Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat keinen
Anspruch auf die Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG,
das mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1950)
am 1. Januar 2005 an die Stelle des Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG
getreten ist.
Der Senat prüft das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG
hinsichtlich möglicher Verfolgung in der Türkei. Allein dieses Land ist in den Blick zu
nehmen, weil der Senat davon ausgeht, dass die Klägerin, wie diese behauptet,
türkische Staatsangehörige ist. Die entsprechende Feststellung des 8. Senats in seinem
vom Bundesverwaltungsgericht aufgehobenen Urteil ist revisionsrechtlich nicht
beanstandet worden.
30
Die Klägerin wird in der Türkei nicht i.S. v. § 60 Abs. 1 AufenthG verfolgt, wobei allein
eine von der Klägerin geltend gemachten Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei
in Betracht zu ziehen ist.
31
Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Anwendungsbereich dieser
Vorschrift umfasst den des Art. 16a Abs. 1 GG,
32
zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992,
843; zur Deckungsgleichheit von Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem
Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 9 C
50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 (503); Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, NVwZ
1994, 497 (498 ff.),
33
und geht darüber hinaus, indem - nach Maßgabe des § 28 AsylVfG - auch selbst
geschaffene Nachfluchtgründe und gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eine Verfolgung
durch nichtstaatliche Akteure, etwa in Bürgerkriegssituationen, in denen es an
staatlichen Strukturen fehlt, ein Abschiebungsverbot begründen. Ferner stellt § 60 Abs.
1 Satz 3 AufenthG klar, dass eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn Anknüpfungspunkt allein das
Geschlecht ist.
34
Vgl. Huber, Das Zuwanderungsgesetz, NVwZ 2005, 1 (6, 10).
35
Mit Blick darauf geht der Senat im Rahmen des streitigen
Abschiebungsschutzbegehrens - vorbehaltlich der oben dargestellten Besonderheiten -
von denjenigen Grundsätzen aus, die für die Auslegung des Art. 16a Abs. 1 GG gelten.
36
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (333
ff.); zur Deckungsgleichheit von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG mit dem
Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 9 C
50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 ff.; Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, NVwZ 1994,
497 ff, zur Vorgängervorschrift § 51 Abs. 1 AuslG.
37
Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist
dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische
38
Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen.
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315
(333 ff.).
39
Die Rechtsverletzung, aus der der Asylbewerber seine Asylberechtigung herleitet, muss
ihm gezielt, d.h. gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt worden
sein. Hieran fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen
Zustände in seinem Herkunftsstaat zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen,
Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner
Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen.
40
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315
(335) m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204 f.).
41
Die in diesem Sinne gezielt zugefügte Rechtsverletzung muss von einer Intensität sein,
die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt,
so dass der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer
ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen.
42
Das Grundrecht auf Asyl dient dem Schutz vor staatlicher politischer Verfolgung.
Verfolgungsmaßnahmen Dritter können deshalb nur dann einen Asylanspruch
begründen, wenn sie dem Staat zurechenbar sind (zu den Besonderheiten im Rahmen
des § 60 Abs. 1 AufenthG vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG). Eine asylrechtlich
relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen Dritter ist
anzunehmen, wenn der Staat von Dritten begangene Rechtsverletzungen tatenlos
hinnimmt oder nur verbal missbilligt, ohne effektiv zum Schutz der Betroffenen
einzuschreiten, obwohl ihm die hierfür erforderlichen Machtmittel zur Verfügung stehen
(mittelbar staatliche Verfolgung).
43
BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341 (358);
Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143 (169); BVerwG,
Urteil vom 22. April 1986 - 9 C 318.85 u.a. -, BVerwGE 74, 160 (162 f.); Urteil vom 15.
Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (143); Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -,
BVerwGE 88, 367 (371); Urteil vom 19. Mai 1992- ) C 21.91 - ; Beschluss vom 24. März
1995 - 9 B 747.94 - ; Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 462.93 - , NVwZ 1994, 1121.
44
Auch staatliche Maßnahmen, die der Rechtsordnung des Herkunftsstaates
widersprechen, sind dem Staat zurechenbar, sofern es sich nicht nur um vereinzelte
Exzesstaten von Amtswaltern handelt. Es bedarf allerdings verlässlicher Erkenntnisse,
die auf bloße Einzelexzesse hindeuten; anderenfalls bleibt das Handeln seiner
Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar.
45
BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2003 - 2 BvR 134/01 -, DVBl 2003, 1260, im Anschluss
an BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315
(352).
46
Die Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG setzt voraus, dass dem Betroffenen in
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eigener Person politische Verfolgung droht. Diese Gefahr eigener politischer Verfolgung
des Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben,
wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit
ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und
Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung).
BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 (231);
BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 33.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 105;
Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (202 f.).
48
Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist zunächst, dass die
festgestellten asylrechtsrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in
Anknüpfung an das die verfolgte Gruppe kennzeichnende asylerhebliche Merkmal
treffen. Denkbar ist sowohl eine unmittelbare Anknüpfung an das die Verfolgung
begründende Gruppenmerkmal - etwa die Volkszugehörigkeit - als auch eine
Verfolgung, der dieses Merkmal mittelbar zu Grunde liegt. Dies kann etwa der Fall sein,
wenn sich die Verfolgung zwar eigentlich gegen eine tatsächlich oder vermeintlich
separatistische Überzeugung richtet, der Staat aber einer ethnisch definierten
Bevölkerungsgruppe pauschal eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar
generell deren Unterstützung unterstellt. Ein solcher pauschaler Verdacht kann eine
"Separatismus-Verfolgung" je nach den Umständen des Falles als "ethnische"
Gruppenverfolgung erscheinen lassen.
49
BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 1993 - 2 BvR 1638/93 -, InfAuslR 1994, 105 (108);
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (205); Urteil vom 30.
April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125).
50
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt darüber hinaus eine bestimmte
Verfolgungsdichte oder jedenfalls sichere Anhaltspunkte für das Vorliegen eines
staatlichen Verfolgungsprogramms voraus.
51
BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (142 f.); Urteil vom 5.
Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204 ff.); Urteil vom 30. April 1996 - 9 C
170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125).
52
Für die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte ist die Gefahr einer so großen
Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich,
dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder
um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen
vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden
Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so
ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden
Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle
Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung,
die von Dritten ausgeht, und einer unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung sind
hinsichtlich der erforderlichen "Verfolgungsdichte" im Grundsatz gleich.
53
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (203 f.); Urteil vom 19.
April 1994 - 9 C 462.93 -, Buchholz 402.25 AsylVfG § 1 Nr. 169; BVerfG, Beschluss vom
11. Mai 1993 - 2 BvR 2245/92 -, InfAuslR 1993, 304 (306).
54
Für die Beurteilung, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung
rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe
der Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Allein die Feststellung "zahlreicher" oder
"häufiger" Eingriffe reicht nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich
für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist,
kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in
Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht
als Bedrohung der Gruppe darstellt.
55
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (206), Beschluss
vom 22. Mai 1996 - 9 B 136/96 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 186.
56
Dieser Maßstab für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung, der die Anzahl der
Verfolgungsschläge in Relation zur Größe der jeweils in Rede stehenden Gruppe
setzen, trägt unterschiedlichen Gruppenstärken Rechnung. Er gilt deshalb nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch für kleine und sehr kleine
Gruppen,
57
vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Mai 1996 - BVerwG 9 B 136.96 - und vom 23.
Dezember 2002 - 1 B 42/02 - .
58
Bei einer vergleichsweise kleinen Gruppe (z.B. noch etwa 1 300 syrisch- orthodoxen
Christen im Tur Abdin) kann die Feststellung, dass bestimmte Übergriffe "an der
Tagesordnung" seien, im Zusammenhang mit der Feststellung einer Vielzahl von
Drangsalierungen und Verbrechen in Form von Überfällen, Viehdiebstählen,
Erpressungen, Entführungen bis hin zu Raub und Mord auch ohne weitere
Quantifizierung der Verfolgungsschläge ausreichend sein, um die erforderliche Nähe
der Gefahr für jedes einzelne Gruppenmitglied zu bejahen,
59
vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 1996, a.a.O.
60
Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter besteht nur dann, wenn der
Asylsuchende geltend machen kann, dass er im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung
- § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - bei einer Rückkehr in sein Heimatland von politischer
Verfolgung bedroht wäre, wenn ihm also zu diesem Zeitpunkt die Rückkehr in die
Heimat nicht zugemutet werden kann. Für die danach anzustellende Prognose gelten
unterschiedliche Maßstäbe je nach dem, ob der Asylsuchende seinen Heimatstaat auf
der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen
hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Im
erstgenannten Fall ist Asyl schon dann zu gewähren, wenn der Asylsuchende bei einer
Rückkehr vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sein kann (sog.
herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Hat der Asylsuchende sein Heimatland
jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Asylanerkennungsbegehren nach Art. 16a
Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen
Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
61
BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 (360);
Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (344 ff.); BVerwG,
Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391.
62
Die danach in jedem Falle anzustellenden Zukunftsprognose darf sich nicht darauf
63
beschränken, die Lage im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt wie in einer
Momentaufnahme festzuhalten und allein auf das abzustellen, was gegenwärtig
geschieht oder als unmittelbar bevorstehend erkennbar ist. Asylrechtlichen Schutzes
bedarf nicht nur, wem im maßgeblichen Zeitpunkt gegenwärtig oder unmittelbar
bevorstehend politische Verfolgung droht. Asylrechtlichen Schutzes bedarf vielmehr
auch, wer mit gegen ihn gerichteten asylerheblichen Maßnahmen in absehbarer Zeit
rechnen muss.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 1981 - 9 C 237.80 - , 27. April 1982 - 9 C 308.81 - ,
Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nrn. 27 und 37, 23. Juni 1989 - 9 C 51/88 - .
64
Die bloße Möglichkeit allerdings, dass sich die politischen Verhältnisse in weiterer
Zukunft verändern können und der Asylbewerber dann vielleicht verfolgt wird, vermag
einen Asylanspruch nicht zu begründen.
65
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1982, a.a.O.
66
Die vorgenannten Prognosemaßstäbe gelten auch für die Beurteilung, ob ein
Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ist.
67
Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391.
68
Hiervon ausgehend ist im vorliegenden Zusammenhang nicht der herabgestufte
Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zu Grunde zu legen,
sondern es ist zu fragen, ob der Klägerin im Falle der Ausreise in die Türkei mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Die Klägerin war in der
Türkei zu keiner Zeit politischer Verfolgung ausgesetzt, dort also auch nicht vorverfolgt.
Im vorliegenden Zusammenhang unerheblich ist es, ob die ihren Glauben
praktizierenden Yeziden in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Türkei einer
regional begrenzten mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer
Religionszugehörigkeit ausgesetzt waren. Bei einer derartigen Gruppenverfolgung sind
jedenfalls diejenigen Angehörigen der religiösen oder ethnischen Gemeinschaft nicht
als vorverfolgt anzusehen, die mangels Gebietsansässigkeit nicht zu der gefährdeten
Gruppe gehören, denn sie waren von vornherein nicht von der Verfolgung betroffen.
69
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2000 - 9 B 620/99 - , Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG
Nr. 231 m.w.N.
70
Danach sind erst recht diejenigen, die sich - wie die Klägerin - nicht einmal in dem Land
aufgehalten haben, in dem die Gruppenverfolgung möglicherweise stattgefunden hat,
nicht als vorverfolgt anzusehen. In Anwendung dieser Maßstäbe und unter Auswertung
des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials geht der Senat davon aus, dass die
Klägerin im Falle einer Ausreise in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit als
Yezidin ausgesetzt sein wird. Im nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen
Beurteilungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist eine
dementsprechende Verfolgungslage nicht gegeben.
71
Vgl. ebenso S.-H. OVG, Urteil vom 29. September 2005 - 1 LB 38/04 - ; vgl. auch die -
zurückliegende Zeiträume betreffende - gegenteilige Einschätzung in der
Rechtsprechung des früher zuständigen 8. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das
72
Land Nordrhein-Westfalen: Urteil vom 22. Januar 2001 - 8 A 4154/99.A -.
Das erkennende Gericht ist seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts
davon ausgegangen, dass ihren Glauben praktizierende Yeziden in ihren
angestammten Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei wegen ihrer
Religionszugehörigkeit einer mittelbaren Gruppenverfolgung durch die muslimische
Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt waren.
73
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Januar 1993 - 25 A 10241/88 -,
74
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, Yeziden seien einer Vielzahl von
Übergriffen wie Mord, Vergewaltigung, Entführung, Raub, Viehdiebstahl sowie
Zerstörung des Eigentums ausgesetzt. Diese Verfolgungsschläge fielen nach ihrer
Intensität und Häufigkeit so dicht und eng gestreut, dass bei objektiver Betrachtung für
jedes Mitglied dieser Gruppe die Furcht begründet sei, selbst ein Opfer solcher
Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Die Übergriffe der Moslems seien dem türkischen
Staat zuzurechnen. Er nehme die asylrelevante Verfolgung der Yeziden hin und
versage den Yeziden den erforderlichen Schutz, obwohl er in der Lage sei, sein
legitimes Gewaltmonopol auch im Südosten der Türkei zu verwirklichen. An dieser
Bewertung hat das Gericht auch im Jahre 2003 noch festgehalten.
75
Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 6. Februar 2003 - 8 A 3059/01.A -
76
Nach erneuter Überprüfung besteht zum jetzigen Zeitpunkt keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, dass Yeziden einer asylerheblichen Gruppenverfolgung in der
Türkei ausgesetzt sind. Soweit die Angehörigen der Gruppe überhaupt von
Verfolgungsschlägen getroffen werden sollten, fallen diese jedenfalls nicht mehr so
dicht und eng gestreut, dass für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet ist, in
eigener Person Opfer der Übergriffe zu werden.
77
Nach den oben aufgeführten Grundsätzen gilt dieser Maßstab auch für kleine und sehr
kleine Gruppen und damit auch für die Gruppe der Yeziden in der Südosttürkei. Dabei
kann offen bleiben, ob die in Rede stehende Gruppe entsprechend der unter Beweis
gestellten Behauptung der Klägerin nur aus 363 Personen besteht,
78
vgl. Auskunft des Yezidischen Forums e.V. vom 30. Oktober 2005 an RA Walliczek: 363
Personen (Stand 15.01.2005),
79
oder ob von ca. 2000 Personen auszugehen ist.
80
vgl. AA, Bericht vom 11. November über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
der Türkei - Stand: Anfang November 2005 -.
81
Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob - wie die Klägerin meint - die Maßstäbe für
das Vorliegen einer Gruppenverfolgung bei extrem kleinen Gruppen, die nicht mehr als
Gruppe wahrgenommen werden, zu modifizieren sind. Denn es kann keine Rede davon
sein, dass eine Verfolgung der Yeziden in der Türkei deshalb nicht mehr stattfände, weil
es dort derzeit keine Gruppenmitglieder mehr gäbe. Vielmehr werden nach dem Vortrag
der Klägerin in den traditionellen Siedlungsgebieten 20 Dörfer von Yeziden bewohnt,
wobei in elf Dörfern immerhin jeweils mehr als zehn Yeziden leben. Kommt es deshalb
nicht entscheidungserheblich darauf an, ob lediglich noch 363 Yeziden in der Türkei
82
leben, war der darauf bezogene Beweisantrag der Klägerin abzulehnen. Es sei
allerdings angemerkt, dass die Richtigkeit der Angaben des Yezidischen Forums
hinsichtlich der Anzahl der Gruppenmitglieder zweifelhaft sind. Sie vermitteln zwar den
Eindruck einer präzisen Feststellung der exakten Personenzahl, benennen hierfür aber
keine Quellen. Hierzu hätte um so mehr Anlass bestanden, weil das Yezidische Forum
e.V. in einem Schreiben vom 8.8.2004 an Rechtsanwalt Neuhoff aus Osnabrück die
Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden noch mit maximal 150 angegeben hat.
Jedenfalls aber handelt es sich bei den in der Türkei lebenden Yeziden - seien es 363,
seien es ca. 2000 - um eine vergleichsweise kleine Gruppe im Sinne der oben zitierten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
Derzeit hat sich die Situation der Yeziden im Vergleich zu den Jahren zwischen 1980
und 2000 beruhigt.
83
Vgl. Auskunft des Yezidischen Forums e.V. vom 3. Februar 2006 an Rechtsanwalt
Walliczek.
84
Nach der aktuellen Erkenntnislage sind in den letzten Jahren allenfalls vereinzelte
religiös motivierte Verfolgungsmaßnahmen gegen in der Türkei verbliebene Yeziden
festzustellen.
85
Nach den Auskünften des Auswärtigen Amtes sind in den traditionellen
Siedlungsgebieten der Yeziden im Südosten der Türkei seit mehreren Jahren keine
religiös motivierten Übergriffe von Moslems gegen Yeziden bekannt geworden. (Vgl.
AA, Bericht vom 11. November über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Türkei - Stand: Anfang November 2005 -, S. 20 f.; AA, Bericht vom 3. Mai 2005 über die
asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei - Stand: Februar 2005 -, S. 16; AA,
Bericht vom 19. Mai 2004 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei -
Stand: April 2004 -, AA, Auskunft vom 20. Januar 2006 an OVG Sachsen - Anhalt ).
Diese Angaben stützen sich u.a. auf Befragungen einzelner Yeziden im Südosten der
Türkei: So hat ein am 27. Juli 2003 durchgeführter Besuch von Vertretern der Deutschen
Botschaft in Ankara in einem Dorf in der Provinz Batman bei einem Gespräch mit aus
Deutschland zurückgekehrten Yeziden ergeben, dass es dort seit der Rückkehr keine
Schwierigkeiten mit den in den Nachbardörfern lebenden Moslems gegeben hat.
86
Vgl. AA, Auskunft an VG Braunschweig vom 3. Februar 2004
87
Nach der vorgenannten Auskunft hat des Weiteren ein "maßgeblicher Yezidenführer" in
Besiri/Batman Vertretern der Deutschen Botschaft erklärt, in der Region um Batman
gebe es noch ca. 17 bis 18 Yezidendörfer, bei denen es sich sowohl um Dörfer mit
reiner Yezidenbevölkerung als auch um Dörfer mit gemischt muslimisch-yezidischer
Bevökerung handele. In den letzten Jahren habe sich das Verhältnis zwischen den
Religionsgruppen erheblich verbessert. In den Kreisen Besiri, Batman und Bismil - nach
der oben zitierten Auskunft des Yezidischen Forums e.V. vom 30. Oktober 2005 waren
am Stichtag 15.1.2005 immerhin knapp 30 % (102) aller Yeziden im Kreis Besiri
wohnhaft - habe es in jüngerer Zeit keine Übergriffe gegen Yeziden gegeben.
Gleichlautend hat der Dorfvorsteher des Yezidendorfs Burc/Kreis Viransehir/Provinz
Sanliurfa - im Kreis Viransehir waren nach der genannten Auskunft ca. 50 % aller
Yeziden wohnhaft - am 22.Juli 2003 gegenüber Vertretern der Deutschen Botschaft
angegeben, eine Vertreibung der in dieser Region lebenden Yeziden bzw. Übergriffe
seitens muslimischer Dorfbewohner habe es nicht gegeben. Es gebe auch keine
88
Schwierigkeiten mit muslimischen Nachbarn.
Vgl. AA, Auskunft an VG Braunschweig vom 3. Februar 2004
89
Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die in den vorgenannten Auskünften des
Auswärtigen Amtes erwähnten Erklärungen von in der Türkei lebenden Yeziden in der
zitierten Form abgegeben worden sind , zumal das Auswärtige Amt die Situation der
Yeziden in der Vergangenheit durchaus kritisch gesehen und eine asylerhebliche
Gruppenverfolgung der Yeziden angenommen hat. Ebensowenig besteht Anlass zu der
Annahme, die zitierten Erklärungen seien inhaltlich unzutreffend. Soweit in der zitierten
Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2004 von einem "maßgeblichen
Yezidenführer" die Rede ist, handelt es sich nicht um eine Tatsachenbehauptung,
sondern um eine Bewertung der Bedeutung der Person innerhalb der Gruppe der
Yeziden durch das Bundesamt. Deshalb war der in der mündlichen Verhandlung
gestellte Beweisantrag, mit dem die Funktion als "maßgeblicher Yezidenführer" in
Zweifel gezogen wird, abzulehnen, zumal der Senat unterstellt, dass es keine
"amtlichen" Sprecher oder Vertreter innerhalb der Yezidischen Religionsgemeinschaft
gibt. Bedenken gegen die inhaltliche Richtigkeit der Erklärungen des "maßgeblichen
Yezidenführers" werden hierdurch aber nicht begründet. Sie ergeben sich auch nicht
aus der Auskunft des Yezidischen Forums vom 3. Februar 2006 an Rechtsanwalt
Walliczek, wonach es in letzter Zeit mehrfach Übergriffe auf Yeziden gegeben haben
soll. Von diesen Übergriffen werden lediglich vier nach Ort, Zeit und den betroffenen
Personen näher konkretisiert. Im Übrigen wird pauschal - ohne irgendwelche weiteren
Einzelheiten - auf weitere Fälle vergleichbarer Art Bezug genommen, denen
nachgegangen werde. Drei der näher konkretisierten Übergriffe sollen sich 2004,
Anfang 2005 und im Oktober 2005 ereignet haben, also nach dem Zeitpunkt, zu dem die
vom Auswärtigen Amt zitierten Yeziden ihre Erklärungen abgegeben haben. Lediglich
der vierte Übergriff soll bereits vorher, nämlich 2002 stattgefunden haben. Er wird aber
in Zusammenhang mit der Stadt Nusaybin gebracht, auf die sich die Erklärungen der
vom Auswärtigen Amt zitierten Yeziden nicht beziehen. Der Senat kann für das
vorliegende Verfahren unterstellen, dass die vier konkretisierten Vorfälle stattgefunden
haben, denn diese Vorfälle sind nicht entscheidungserheblich. Auch wenn sie
asylrelevant sein sollten, wofür bislang keine Anhaltspunkte bestehen, lägen jedenfalls
keine so dicht und eng gestreuten Verfolgungsschläge vor, dass für jedes
Gruppenmitglied die Furcht begründet wäre, in eigener Person Opfer der Übergriffe zu
werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der gravierendste Vorfall, der Mord an den
Angehörigen der Sheikkaste Sheredin Sancar und seiner schwangeren Ehefrau, im
März 2002 erfolgt sein soll und damit fast vier Jahre zurückliegt. Für die Bewertung der
derzeitigen Gefährdungssituation der Gruppenangehörigen hat er deshalb nur relativ
geringe Bedeutung. Es bleiben damit im Wesentlichen drei Verfolgungsfälle aus den
Jahren 2004 und 2005, wobei den Verfolgten in einem Fall schwere Verletzungen
zugefügt worden sein sollen, es in einem weiteren Fall zur gewaltsamen Wegnahme der
halben Ernte gekommen sein und es im letzten Fall bei massiven Drohungen geblieben
sein soll. Auch im Hinblick auf die - unterstellte - relativ geringe Anzahl von 363
Gruppenangehörigen ist damit die für die Annahme einer Gruppenverfolgung
vorausgesetzte Verfolgungsdichte - ungeachtet der Frage, inwieweit etwaige
Verfolgungsschläge dem türkischen Staat überhaupt zugerechnet werden können -
ersichtlich nicht gegeben. Der Senat konnte deshalb den in der mündlichen
Verhandlung in Anknüpfung an die Beweisankündigungen im Schriftsatz vom 3.
Februar 2006 gestellten Beweisantrag der Klägerin mit der Beweisbehauptung, es habe
in den letzten drei Jahren in der Südosttürkei mindestens neun schwerwiegende
90
asylrelevante Übergriffe seitens der Moslems auf Yeziden aus religiösen Gründen
gegeben, ablehnen, weil die vorstehend abgehandelten vier Fälle nicht
entscheidungserheblich sind und es sich in den weitergehenden fünf Fällen um einen
Ausforschungsbeweisantrag handelte. Hierbei hat der Senat zu Gunsten der Klägerin
unterstellt, dass die angesprochenen neun Fälle die vier abgehandelten Fälle
einschließen, die in der Anlage zum Schriftsatz vom 3. Februar 2006 (Auskunft des
Yezidischen Forums vom 3. Februar 2006 an RA Walliczek) konkretisiert worden sind.
Wie oben ausgeführt fehlt es hinsichtlich der weiteren fünf Fälle an jeglichen
konkretisierenden Angaben und damit an tatsächlichen Grundlagen für die unter Beweis
gestellten Tatsachenbehauptungen. Für deren Wahrheitsgehalt sprach damit nicht
wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Dies galt um so mehr, als auch nach der
Auskunft des Yezidischen Forums bislang lediglich Hinweise vorliegen sollen, denen
weiter nachgegangen werde. Es kam hinzu, dass auch die vier näher konkretisierten
Fälle, mit denen die weiteren Fälle vergleichbar sein sollen, keine Asylrelevanz
erkennen ließen. Von daher lag hinsichtlich der fünf weiteren Fälle ein unzulässiger
Ausforschungsbeweis vor. Dem steht nicht entgegen, dass das Gericht bis 2003 von
einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Südosttürkei ausgegangen ist. Allein dieser
Umstand führt nicht dazu, dass für den Wahrheitsgehalt der pauschal auf die letzten drei
Jahre bezogenen Behauptung (weiterer) fünf asylrelevanter Übergriffe bereits eine zur
Beweiserhebung verpflichtende Wahrscheinlichkeit bestünde.
Unterstellt der Senat die oben genannten vier Vorfälle als asylrelevant, so wird dadurch
die Aussagekraft der oben zitierten Auskünfte des Auswärtigen Amtes, wonach in den
letzten Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Moslems gegen Yeziden
bekannt geworden seien, nicht in dem Sinne relativiert, dass den Auskünften keine
Bedeutung mehr zukäme. Vielmehr hat es im Hinblick auf die dem Auswärtigen Amt
eröffneten Erkenntnismöglichkeiten nach wie vor Gewicht, wenn diesem
dementsprechende Übergriffe nicht bekannt geworden sind. Von den vorliegenden
Erkenntnissen ausgehend ist es auszuschließen, dass auch in jüngerer Zeit gleichwohl
asylerhebliche Verfolgungsschläge von einer eine Gruppenverfolgung begründenden
Verfolgungsdichte gegen Yeziden erfolgt sein könnten und lediglich nicht bekannt
geworden wären. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Beobachtungstätigkeit
der zahlreichen in der Türkei tätigen Menschenrechtsorganisationen, die inzwischen
ungehindert arbeiten können,
91
vgl. AA, Lagebericht vom 11. November 2205, S. 8 f.,
92
und denen ein dementsprechendes Verfolgungsgeschehen nicht verborgen geblieben
sein könnte, zumal auch die verschiedenen Organisationen der Yeziden im Ausland ein
erhebliches Interesse an der Veröffentlichung derartiger Vorfälle hätten. Es kommt
hinzu, dass es sich bei den in der Vergangenheit zu beobachtenden Übergriffen der
muslimischen Mehrheitsbevölkerung um öffentlich wahrnehmbare Gewaltakte gehandelt
hat und keinerlei Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Verfolgung nunmehr im
Verborgenen, unbemerkt von der Öffentlichkeit stattfinden könnte. Hiergegen spricht
auch, dass der türkische Staat erkennbar bemüht ist, die Voraussetzungen für eine
Aufnahme in die Europäische Union gerade auch in Bezug auf die Wahrung der
Menschenrechte zu erfüllen und in Verfolgung dieses Zieles bereits eine Vielzahl von
Verfassungs- und Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht hat. Soweit die Klägerin
zur Begründung ihrer Klage Bezug nimmt auf Passagen aus dem Fortschrittsbericht der
EU-Kommission vom 9. November 2005 sowie dem Bericht der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe vom 18. Mai 2005 - Türkei - ist nicht ersichtlich, dass sich diese
93
unmittelbar auf Yeziden und diesen zugefügte oder drohende asylerhebliche Nachteile
beziehen.
Von einem Zusammenhang zwischen der Beruhigung der Situation in der Region im
Vergleich zu früheren Jahren und der internationalen Debatte um die EU- Mitgliedschaft
der Türkei geht auch das Yezidische Forum in seiner Auskunft vom 3. Februar 2006 an
Rechtsanwalt Walliczek aus.
94
Im Rahmen dieses Bestrebens sind die türkischen Staatsorgane zunehmend bereit und
in der Lage, verfolgte Minderheiten und auch die Yeziden gegen Übergriffe Dritter zu
schützen. Dies wird belegt durch einen Rechtsstreit, der Ende 2001 vor dem
erstinstanzlichen Zivilgericht Batman anhängig war. Hierbei haben fünf Yeziden die
Rückgabe ihrer Häuser erstritten, die nach ihrem Wegzug von Moslems in Besitz
genommen worden waren.
95
Vgl. AA, Auskunft an VG Braunschweig vom 3. Februar 2004
96
Im Jahre 2004 hat die türkische Armee das von Dorfschützern besetzte yezidische Dorf
Magara im Landkreis Sirnak-Idil geräumt und den zurückgekehrten yezidischen
Eigentümern übergeben.
97
Vgl. Neubeginn in assyrischen Dörfern der Südosttürkei, NZZ 2004, S. 6 ff.; Die Yeziden
kehren heute in ihre Dörfer zurück, Özgür Politika, 15.10.2004; Endlich bekommen die
Yeziden ihr Dorf zurück !, Özgür Politika, 16.10.2004
98
In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Provinzgouverneur von
Batman nach einem Bericht von CNN Türk Yeziden besucht hat, die in das Dorf
Kumgecit zurückgekehrt sind. Hierbei hat er den Yeziden Hilfe zugesagt und dem
Landrat von Besiri hierzu Anweisungen erteilt.
99
Vgl. AA, Bericht an BAMF vom 26. Oktober 2005.
100
Dieses allgemeine Klima der deutlichen Entspannung der Situation der Yeziden in der
Türkei wird schließlich bestätigt dadurch, dass es in Besiri mittlerweile einen
Yezidenverein gibt unter dem Vorsitz eines früher in Deutschland lebenden Yeziden,
der u.a. bei der Beerdigung von im Ausland verstorbenen Yeziden Unterstützung leistet
und auch rückkehrwilligen Yeziden behilflich ist.
101
Vgl. AA, Bericht an BAMF vom 26. Oktober 2005.
102
Nach alledem ist nicht nur derzeit eine asylerhebliche Gruppenverfolgung der Yeziden
in der Türkei zu verneinen, sondern es ist auch in absehbarer Zeit nicht mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit mit einer derartigen Gruppenverfolgung zu rechnen. Ob die Situation
sich ändern würde, wenn eine Vielzahl von yezidischen Asylbewerbern in relativ kurzer
Zeit in die Türkei zurückkehren sollte, braucht der Senat derzeit nicht zu entscheiden,
weil die Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG allein an der Sach- und Rechtslage
im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auszurichten ist. Die bloße Möglichkeit, dass
sich die politischen Verhältnisse in weiterer Zukunft verändern können und der
Asylbewerber dann vielleicht verfolgt wird, vermag einen Asylanspruch nicht zu
begründen.
103
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1982, a.a.O.; S.-H. OVG, Urteil vom 29. September
2005, a.a.O.
104
Insoweit ändern auch zu beobachtende Tendenzen einer zunehmenden Islamisierung
derzeit nichts an der getroffenen Verfolgungsprognose. Die vorgenannten tatsächlichen
Feststellungen sind ausreichend, um die Gefahr politischer Verfolgung der Klägerin
zuverlässig einschätzen zu können, so das eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht
erforderlich war.
105
Die Frage, ob einer bestimmten Gruppe von Menschen insbesondere wegen ihres
Volkstums, ihrer Rasse oder Religion politische Verfolgung droht, ist nicht nur eine
tatsächliche Feststellung, sondern zugleich auch das Ergebnis einer aufgrund
festgestellter Tatsachen erfolgten rechtlichen Würdigung. Die Bildung der dafür
notwendigen richterlichen Überzeugung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine ausreichende
Erforschung des Sachverhalts voraus. Was dabei die hier zur Rede stehende
Gefahrenprognose einer Gruppenverfolgung angeht, so verlangt ihre Erstellung wegen
der Vielzahl von Ungewissheiten über die asylrelevante Entwicklung in einem
ausländischen Staat eine sachgerechte, der jeweiligen Materie angemessene und
methodisch einwandfreie Erarbeitung ihrer tatsächlichen Grundlagen. Dazu gehört nach
übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und
Bundesverwaltungsgericht, dass - soweit und solange es im Asylrecht keine speziellen
gesetzlichen Beweisregeln oder ein besonderes Beweisverfahren gibt - die
Tatsachengerichte bei der Feststellung vor allem von Wortlaut, Inhalt und praktischer
Handhabung ausländischer Strafvorschriften sowie bei der Feststellung sonstiger
genereller Tatsachen besondere Aufklärungspflichten haben, durch die sie gehalten
sind, alle möglichen und verfügbaren Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um zu einer
verlässlichen Beurteilung der Frage einer möglichen Gruppenverfolgung zu kommen.
106
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 91.89 - , BVerwGE 85, 92, 93 f.
107
Hiervon ausgehend brauchte der Senat keine weiteren Erkenntnisquellen zur
Beurteilung der Verfolgungsgefahr von Yeziden auszuschöpfen, insbesondere kein
Sachverständigengutachten einzuholen. Denn der Senat konnte seine Prognose auf der
Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel ausreichend bilden. Diese zahlreichen
Erkenntnismittel aus unterschiedlichen Quellen liefern ein aussagekräftiges und
homogenes Bild der Situation der Yeziden in der Türkei; dass die vorliegenden
Erkenntnisse fehlerhaft wären, ist nicht ersichtlich.
108
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind auch dann nicht gegeben, wenn in
der Türkei yezidische Gemeinden sowie die für die Murids zuständigen Sheiks bzw. Pirs
nicht oder nur eingeschränkt vorhandensein sollten. Zwar kann sich eine die Asyl- oder
Flüchtlingsanerkennung rechtfertigende Verfolgung nicht nur aus Eingriffen in Leib,
Leben oder persönliche Freiheit des Betroffenen ergeben, sondern auch aus Eingriffen
in andere Rechtsgüter wie die Religionsfreiheit, wenn sie nach ihrer Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen. Dies ist der Fall, wenn die Eingriffe ein solches
Gewicht erhalten, dass sie in den elementaren Bereich eingreifen, den der Einzelne
unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wie nach internationalem Standard als so
genanntes religiöses Existenzminimum zu seinem Leben- und Bestehen können als
sittliche Person benötigt.
109
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9/03 -, BVerwGE 120, 16 ff.
110
Eine asylerhebliche Verletzung des religiösen Existenzminimums droht der Klägerin im
Falle der Rückkehr in die Türkei nicht. Dabei verkennt der Senat nicht die Bedeutung,
die der religiösen Betreuung durch einen Sheikh und einen Pir für ein funktionierendes
Gemeindeleben der Yeziden zukommt. Nicht jede Beeinträchtigung eines
funktionierenden Gemeindelebens führt jedoch bereits zu einer Verletzung des
religiösen Existenzminimums. Zur Überzeugung des Senats schließt auch für
glaubensgebundene Yeziden das Fehlen ausreichender priesterlicher Betreuung und
das Leben ohne eine funktionierende Gemeinde die Religionsausübung in ihrem
Kernbereich nicht ohne weiteres aus. Besondere Umstände, aus denen sich im
vorliegenden Fall eine dementsprechende Rechtsverletzung ergeben könnte, sind nicht
ersichtlich. Unabhängig davon läge eine Verletzung des religiösen Existenzminimums
nur dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch
staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht würde.
111
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9/03 -, BVerwGE 120, 16 ff.
112
Unter diesem Gesichtspunkt ist der Heimatstaat also nicht zur Gewährleistung einer
bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet. Die von der Klägerin geltend gemachten
religiösen Beeinträchtigungen beruhen nicht auf staatlichen oder dem Staat
zurechenbaren Eingriffen, sondern sind lediglich tatsächliche Folge der vergleichsweise
geringen Zahl von in der Türkei lebenden Yeziden.
113
Vgl. S.-H. OVG, Urteil vom 29. September 2005 - 1 LB 38/04 -.
114
Der auf die Religionsausübung bezogene Beweisantrag war deshalb abzulehnen.
115
Liegt damit eine mittelbare Gruppenverfolgung der Klägerin in den angestammten
Siedlungsgebieten der Yeziden in der Südosttürkei nicht vor, so kommt es auf das
Bestehen einer inländischen Fluchtalternative nicht an. Auch der darauf bezogene
Beweisantrag war daher abzulehnen.
116
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG, der
Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10,
711 ZPO.
117
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
118
119