Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 07.11.2007

OVG NRW: wohl des kindes, gefahr, unterbringung, wahrscheinlichkeit, jugendamt, leiter, gutachter, sozialarbeiter, heim, rechtswidrigkeit

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 635/06
Datum:
07.11.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 635/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 7 K 2937/02
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung
von Rechtsanwalt T. L. N. aus C. wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist unbegründet, weil die
beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO).
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, der
Beklagte habe sich sowohl bei der Inobhutnahme der Tochter des Klägers als auch bei
der anschließenden Unterbringung der Tochter bei einer Pflegefamilie im Rahmen der
ihm durch das Amtsgericht C. eingeräumten Befugnisse gehalten und damit rechtmäßig
gehandelt, nicht in Frage zu stellen.
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Das Verwaltungsgericht ist danach - zutreffend - davon ausgegangen, dass die
jugendhilferechtliche Leistungserbringung in der Form der Unterbringung der Tochter
des Klägers zunächst in einem Heim (28. September 2000 bis zum 6. Februar 2001)
und im Anschluss daran in einer Pflegefamilie (bis zum 10. September 2001) im
wesentlichen auf der Grundlage der familiengerichtlichen Beschlüsse vom 5. Oktober
2000 und vom 26. Januar 2001 erfolgt ist und diese dem Beklagten die Möglichkeit
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eröffnet haben, im Rahmen der ihm nach § 1666 BGB - einstweilen - übertragenen
(Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - C. vom 5. Oktober 2000 - F -) und
nachträglich auf wirtschaftliche und rechtliche Aufenthaltssicherungsmaßnahmen
erweiterten (Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - C. vom 26. Januar 2001 - F
-) Aufenthaltspflegschaft über den - vorläufigen - Aufenthalt der Tochter des Klägers zu
befinden.
Eine Überschreitung des durch die genannten familienrechtlichen Beschlüsse dem
Beklagten zivilrechtlich/familienrechtlich eröffneten Handlungsrahmens ist nicht
dargelegt. Ebenso wenig ist eine rückwirkende Aufhebung dieser Beschlüsse dargelegt
oder sonst ersichtlich. Der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - C. vom 25.
Oktober 2001, mit dem der Beschluss vom 5. Oktober 2000 aufgehoben worden ist, ist
weder seinem Tenor nach noch ausweislich seiner Begründung darauf gerichtet, den
Beschluss vom 5. Oktober 2000 wegen von Anfang bestehender Rechtswidrigkeit
aufzuheben. Der insoweit lediglich dargelegte Umstand, dass der vom Familiengericht
C. eingesetzte Gutachter Herr L1. bereits beim ersten Zusammentreffen mit der Tochter
des Klägers, dem Sozialarbeiter Herrn C1. vom Jugendamt und dem Leiter der
Einrichtung X. , Herrn X1. , festgestellt habe, dass der Vorwurf der sexuellen
Belästigung unzutreffend sei, lässt die genannten familiengerichtlichen Beschlüsse als
Grundlage des Handelns des Beklagten nicht entfallen.
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Im übrigen wird auch übersehen, dass der Beschluss vom 5. Oktober 2000 seiner Natur
nach lediglich eine einstweilige (Sicherungs-)Maßnahme beinhaltete, damit "die -
möglicherweise - kindeswohlgefährdende Situation durch eine
Aufenthaltsbestimmungspflegschaft des Jugendamtes nicht vorweg entschieden aber
stabilisiert werden" konnte. Soweit sich im Nachhinein ergeben hat, dass eine Gefahr
sexueller Übergriffe tatsächlich nicht bestanden hat, vermag allein diese Erkenntnis die
Rechtswidrigkeit der einstweiligen Sicherungsmaßnahme von vornherein nicht zu
belegen.
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Der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengerichts - C. vom 26. Januar 2001, mit dem
die bereits bestehende Aufenthaltspflegschaft des Jugendamtes auf Maßnahmen
erweitert worden ist, die im Hinblick auf die wirtschaftliche und rechtliche Absicherung
eines Aufenthalts notwendig sind, ist nicht wegen sexueller Übergriffe, sondern deshalb
ergangen, weil die Erziehungsfähigkeit des Vaters in einem Maß zweifelhaft gewesen
ist, dass eine Rückkehr des Kindes - jedenfalls seinerzeit - nicht verantwortet werden
konnte. Dass der Kläger trotz seiner damals offen zutage getretenen Erziehungsdefizite
gleichwohl erziehungsfähig gewesen ist, ist weder dargelegt noch sonst auch nur
ansatzweise ersichtlich.
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Da der Beklagte aufgrund der genannten familiengerichtlichen Beschlüsse die
Unterbringung der Tochter des Klägers schon in Ausübung der ihm übertragenen
zivilrechtlichen/sorgerechtlichen Befugnisse veranlasst hat, bedarf es eines Rückgriffs
auf die Ermächtigungsnorm des § 42 SGB VIII im wesentlichen nicht mehr. Eine
Inanspruchnahme der öffentlich-rechtlichen Ermächtigungsnorm des § 42 SGB VIII
käme allenfalls für den Zeitraum vom 28. September 2000 bis zum Erlass des
familiengerichtlichen Beschlusses vom 5. Oktober 2000 in Betracht. Auch insoweit ist
jedoch unerheblich, dass die Gefahr sexueller Übergriffe nicht durch ein
Sachverständigengutachten bestätigt werden konnte.
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Gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in der hier maßgebenden Fassung ist das
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Jugendamt verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen,
wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die
Inobhutnahme erfordert. Eine Gefahr im jugendhilferechtlichen Sinn liegt - wie im
allgemeinen Gefahrenabwehrrecht - dann vor, wenn im Zeitpunkt der behördlichen
Entscheidung im Rahmen der prognostischen ex-ante-Betrachtung bei ungehinderten
Ablauf des zu erwartenden Geschehens der Eintritt des Schadens hinreichend
wahrscheinlich ist. Die hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt einerseits nicht
Gewissheit, dass der Schaden eintreten wird. Andererseits genügt die bloße Möglichkeit
eines Schadenseintritts grundsätzlich nicht zur Annahme einer Gefahr. Dabei ist
allerdings zu beachten, dass hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit
differenziert werden muss, wobei es vor allem auf das Schutzgut ankommt: Je größer
und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, umso geringer sind
die Anforderungen, die an die Wahrscheinlichkeit gestellt werden können. Wo es um
den Schutz besonders hochwertiger Schutzgüter geht, kann deshalb auch schon eine
entfernte Möglichkeit eines Schadens die begründete Befürchtung seines Eintritts
auslösen. Von letzterem ist im Jugendhilferecht regelmäßig auszugehen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2007
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- 12 B 72/07 -, m. w. N.; Beschluss vom 22. August 2007 - 12 E 1279/06 -.
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Dass das Kindeswohl als besonders hochwertiges Schutzgut einzustufen ist, dessen
Schutz durch das SGB VIII zu gewährleisten ist (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII), bedarf keiner
weiteren Darlegung und wird auch von dem Kläger nicht in Frage gestellt. Dabei ist
insbesondere zu berücksichtigen, dass die betroffenen Kinder, denen oder deren Eltern
nach dem SGB VIII Hilfe zu leisten ist, bereits konkreten oder zumindest latenten
Beeinträchtigungen ausgesetzt und damit in besonderer Weise schutzbedürftig sind.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2007, a.a.O.; Beschluss vom 22. August
2007, a.a.O.
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Der Umstand, dass nach § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in der für den hier in Rede
stehenden Leistungszeitraum maßgebenden Fassung die Inobhutnahme das Vorliegen
einer "dringenden" Gefahr voraussetzt, begründet für den anzuwendenden
Gefahrenbegriff keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen. Eine "dringende Gefahr"
besteht zwar nicht schon bei einer "bevorstehenden" oder "drohenden" Gefahr, aber
auch nicht erst bei einer "unmittelbar bevorstehenden Gefahr".
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. September 1974 - I C 17.73 -, BVerwGE 47, 31 ff.; OVG
NRW, Beschluss vom 22. August 2007, a.a.O.; Wiesner, in: Wiesner SGB VIII, 3. Aufl.
2006, § 42 Rn. 11; Münder, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 5. Aufl. 2006, § 42 Rn.
15.
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Dass trotz der zerrütteten Familiensituation, der Übergriffe des Vaters und der seinerzeit
vorliegenden Tagebucheintragungen der Tochter des Klägers in dem hier
maßgebenden Zeitpunkt der Inobhutnahme Ende September/Anfang Oktober 2000 die
Möglichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen gewesen ist, ergibt sich weder aus
den vorliegenden Gutachten noch ist derartiges dargelegt oder sonst ersichtlich. Soweit
der Kläger darauf hinweist, dass der vom Familiengericht C. eingesetzte Gutachter Herr
L1. bereits beim ersten Zusammentreffen mit der Tochter des Klägers, dem
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Sozialarbeiter Herrn C1. vom Jugendamt und dem Leiter der Einrichtung X. , Herrn X1. ,
festgestellt habe, dass der Vorwurf der sexuellen Belästigung unzutreffend sei, lässt sich
hieraus nicht entnehmen, dass das in Bezug genommene erste Zusammentreffen des
Gutachters bereits innerhalb des o.g. genannten Zeitraums stattgefunden hat. Aus dem
Gutachten ist lediglich zu entnehmen, dass die Untersuchungsschritte mit einem
Telefonat mit der Mutter und einer Erklärung des Gutachtenverlaufs am 13. Oktober
2000 und damit erst zu einem Zeitpunkt begonnen haben, als der weitere Aufenthalt der
Tochter des Klägers im Heim bereits auf der Grundlage des Beschlusses des
Amtsgerichts - Familiengerichts - C. vom 5. Oktober 2000 erfolgt ist.
Soweit der Kläger sich pauschal darauf beruft, dass die Kostenforderung auch nach Art
und Höhe nicht gerechtfertigt sei, ist diese Darlegung in Ermangelung der erforderlichen
Substantiierung nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit des erhobenen Kostenbeitrags, den
der Beklagte schon auf der Grundlage der im Klageverfahren vom Kläger vorgelegten
Einkommenssteuerbescheide aus den Jahren 2000 und 2001, der hieraus ersichtlichen
Steuererstattungen und der geltend gemachten erhöhten Fahrtkosten sowie der
Beiträge zu Berufsverbänden und der Aufwendungen für Arbeitsmittel entsprechend
reduziert hat, der Höhe nach in Frage zu stellen. Unerheblich sind insbesondere die
vom Kläger vorgebrachten, nach Ablauf des hier maßgeblichen
Kostenbeitragszeitraums in den Jahren 2003 und 2004 eingetretenen Änderungen
(Heirat, Eigentum, geändertes Einkommen etc.).
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Dementsprechend weist die Rechtssache auch keine besonderen tatsächlichen oder
rechtlichen Schwierigkeiten i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das Urteil des
Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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