Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 18.03.2004

OVG NRW: behinderung, unterbringung, kreis, schüler, sonderschule, schulpflicht, wechsel, gutachter, vorschlag, trennung

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 B 2634/03
Datum:
18.03.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 B 2634/03
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 2 L 1087/03
Tenor:
Der Antragstellerin wird zur Verteidigung gegen die vom Antragsgegner
eingelegte Beschwerde Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt
und Rechtsanwalt O. aus F. beigeordnet.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
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Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 119 und
121 Abs. 2 ZPO.
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Die Beschwerde ist unbegründet. Die vom Antragsgegner mit der Beschwerde
dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen nicht die Änderung
des angefochtenen Beschlusses.
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Mit ihnen greift er nicht die vorläufigen Feststellungen der Vorinstanz an, auf Grund der
gravierenden Folgen der bei der Antragstellerin diagnostizierten autistischen
Psychopathie (Asperger-Syndrom) sei die Antragstellerin im Sinne des § 35a Abs. 1
SGB VIII, § 2 Abs. 1 SGB IX seelisch behindert oder von einer seelischen Behinderung
bedroht und das Heilpädagogisch-therapeutische Zentrum "die h. I. " in L. -C. sei eine
zur Eingliederungshilfe für die Antragstellerin geeignete Einrichtung. Von diesen
Feststellungen ausgehend sind die Einwendungen des Antragsgegners gegen die
erstinstanzliche Beurteilung, die Antragstellerin habe sowohl einen
Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht,
unbegründet. Mit ihnen macht der Antragsgegner im Wesentlichen geltend: Die Eltern
der Antragstellerin hätten nicht eigenmächtig ihre Aufnahme in der genannten
Einrichtung anbahnen dürfen. Die Unterbringung dort sei nicht erforderlich. Die
Antragstellerin sei auf die Inanspruchnahme einer - durch ein schulrechtliches Verfahren
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zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und zur Entscheidung über
den schulischen Förderort zu ermittelnden - öffentlichen Schule und gegebenenfalls
ergänzender Hilfe zu verweisen. Schließlich sei der Tenor der erstinstanzlichen
Entscheidung unbestimmt.
Von einer unzulässigen Selbstbeschaffung kann schon deshalb keine Rede sein, weil,
soweit ersichtlich, die Antragstellerin noch nicht in der Einrichtung aufgenommen ist, die
Unterbringung dort vielmehr vom Ausgang dieses Beschwerdeverfahrens abhängig
gemacht wird. Aber selbst wenn die Antragstellerin mittlerweile das Zentrum "die h. I. "
besuchte oder eine dahingehende vertragliche Pflicht eingegangen wäre, wäre diese
Selbstbeschaffung nach den Grundsätzen, die der beschließende Senat in seinen
Urteilen vom 14. März 2003 - 12 A 122/02 - FEVS 55, 16 = ZFSH/SGB 2003, 475 =
NVwZ-RR 2003, 867 = ZfJ 2003, 487 = JAmt 2003, 479 und - 12 A 1193/01 - NVwZ-RR
2003, 864 = ZfJ 2003, 490 = JAmt 2003, 482 = ZFSH/SGB 2003, 541 aufgezeigt hat,
nicht unzulässig.
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Der Antragstellerin ist es nach summarischer Prüfung angesichts der Zuspitzung vor
allem in ihrer schulischen Situation nicht zuzumuten, die Deckung ihres
jugendhilferechtlichen Bedarfs durch die begehrte heilpädagogisch-therapeutische Hilfe
länger aufzuschieben. Diesbezüglich heißt es im Schreiben des Schulamts für den
Kreis I. vom 24. Februar 2004 an den Antragsgegner:
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"Jeder Tag, den sich L. länger in einer ihr nicht entsprechenden Fördereinrichtung
(Schule für Geistigbehinderte/Schule für Körperbehinderte) befindet, verstärkt ihr
inzwischen aggressives, andere Schüler gefährdendes Verhalten, so dass es absehbar
ist, dass für sie das Ruhen der Schulpflicht ausgesprochen werden muss (SchpflG §
15)".
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An der Richtigkeit dieser Einschätzung zu zweifeln besteht vor allem auf Grund der - als
solche nicht im Streit stehenden - Erkenntnisse über die Verhaltensauffälligkeiten der
Antragstellerin kein Anlass, die aus dem "Pädagogische(s)n Gutachten nach VO - SF §
11(1) für L. L. " vom 12. Juni 2003, aus dem Bericht des Leitenden Arztes Dr. Q. vom
Sozialpädiatrischen Zentrum des F. -Krankenhauses S. vom 7. Juli 2003 und aus der
"Ärztlichen Bescheinigung" des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie Prof. Dr. Dr. T. vom 12. Januar 2004 zu gewinnen sind.
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Einem Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Unterbringung der Antragstellerin in
der Einrichtung "die h. I. " steht weder entgegen, dass in dem eröffneten Verfahren auf
Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs noch kein neuer schulischer
Förderort für die Antragstellerin bestimmt worden ist, noch, dass kein die genannte
Einrichtung für die Antragstellerin zumindest in Betracht ziehendes Hilfeplanverfahren
nach § 36 SGB VIII stattgefunden hat.
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Allerdings lassen die Regelungen des Kinder- und Jugendhilferechts im Achten Buch
des Sozialgesetzbuchs nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Verpflichtungen anderer
unberührt. Hierzu gehört die Verpflichtung der öffentlichen Schulen, der Schulträger und
der Schulaufsichtsbehörden, lernbeeinträchtigte, behinderte oder von einer
Behinderung bedrohte Schüler schulisch angemessen zu fördern. Als eine
Fördermaßnahme sieht § 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Schulpflicht im Lande
Nordrhein-Westfalen (SchpflG) vor, dass Schulpflichtige, die wegen körperlicher,
seelischer oder geistiger Behinderung oder wegen erheblicher Beeinträchtigung des
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Lernvermögens im Unterricht an der Grundschule oder einer weiterführenden Schule
nicht hinreichend gefördert werden können, ihrem individuellen Förderbedarf
entsprechend sonderpädagogisch gefördert werden. Nach § 7 Abs. 4 SchpflG i.V.m. der
Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die
Entscheidung über den schulischen Förderort vom 22. Mai 1995 (VO-SF) - GV NRW
1995, S. 496 - entscheidet die zuständige Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der
Erziehungsberechtigten oder der allgemeinen Schule über den sonderpädagogischen
Förderbedarf und über den schulischen Förderort.
Ob der von einem jungen Menschen, der seelisch behindert oder von einer seelischen
Behinderung bedroht ist, um Hilfe ersuchte Jugendhilfeträger vor einer umfassenden
Aufklärung des Hilfebedarfs die Erziehungsberechtigten darauf verweisen darf,
zunächst ein Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu
betreiben, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.
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OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 2004 - 12 B 2392/03 - m.w.N.
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Im vorliegenden Fall hat das am 28. Januar 2003 eröffnete Verfahren zur Feststellung
des sonderpädagogischen Förderbedarfs einen Stand erreicht, bei dem eine präsente
geeignete Hilfe für die Antragstellerin durch Beschulung in einer öffentlichen Schule
weder konkret benannt noch sonst ersichtlich ist. In dem genannten Pädagogischen
Gutachten heißt es unter "9. vorgeschlagene Empfehlung":
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"Auf Grund des oben beschriebenen Förderbedarfs (vgl. Pkt. 7) und der besonderen
heilpädagogischen Rahmenbedingungen der Einrichtung (vgl. 8.2) wird L. Aufnahme in
das Heilpädagogisch-therapeutische Zentrum "die h. I. " in L. -C. dringend empfohlen.
Eine Beschulung an der Rheinischen Schule für Körperbehinderte wäre ebenso wie die
bisherige Beschulung in der Schule für Geistigbehinderte nur eine Notlösung (vgl. Pkt.
8.1)."
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Zwar beurteilen die Gutachter unter "Pkt. 8.1" des aufgeführten Pädagogischen
Gutachtens einen Wechsel der Antragstellerin von der Schule für Geistigbehinderte, auf
der sie unterfordert sei, auf eine Schule für Körperbehinderte auch im Hinblick auf ihre
familiäre Situation als nicht günstig. Sie sehen aber die für ihren Vorschlag
ausschlaggebende Problematik eines solchen Wechsels darüber hinaus darin, dass
aus der Überlegenheit der nicht körperlich behinderten Antragstellerin gegenüber den
körperlich behinderten Mitschülern aggressive Verhaltensweisen der Antragstellerin
resultieren könnten.
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Die Einschätzung der Ungeeignetheit der Schulen für Geistigbehinderte bzw. für
Körperbehinderte wird durch die bereits zitierte Stellungnahme des Schulamts für den
Kreis I. vom 24. Februar 2004 bestätigt. Über das Pädagogische Gutachten
hinausgehend heißt es darin, es gebe im Kreis I. keine Schule, in der sich die
Antragstellerin positiv weiter entwickeln könne, wohingegen "der im Mai/Juni 2003 von
den sonderpädagogischen Gutachtern empfohlene Förderort 'die h. I. ' der gesamten
Spannbreite des Förderbedarfs L. , zu dem ebenfalls eine periodenmäßige Trennung
vom Elternhaus unbedingt dazu" gehöre, gerecht werden könne.
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Vor diesem Hintergrund ist es für den Anordnungsanspruch unschädlich, dass kein
Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII stattgefunden hat, in dem das Zentrum "die h. I. "
zumindest als für die Antragstellerin geeignete Hilfeeinrichtung in Betracht gezogen
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worden ist. Nach den Erkenntnismöglichkeiten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens
ist diese Einrichtung - gemessen am Eingliederungshilfebedarf der Antragstellerin -
alternativlos. Vom Antragsgegner vage skizzierte Hilfen als Ergänzung der Betreuung in
einer Sonderschule scheiden schon deshalb aus, weil nach dem oben Gesagten eine
geeignete Sonderschule gar nicht ersichtlich ist.
Ferner ist der Einwand des Antragsgegners, der Tenor des angefochtenen Beschlusses
sei unbestimmt, nicht berechtigt. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass eine
Verpflichtung zur Übernahme der Kosten einer Unterbringung in einer "intensiv-
therapeutischen Wohngruppe" des Zentrums "die h. I. " ausgesprochen worden ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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