Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 06.08.2002

OVG NRW: vertrauensperson, arbeitsgericht, verfassung, rechtsgrundlage, minderung, zusammensetzung, anhörung, form, datum, geschäftsführung

Oberverwaltungsgericht NRW, 1 E 141/02.PVL
Datum:
06.08.2002
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
Fachsenat für Landespersonalvertretungssachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 E 141/02.PVL
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 34 K 5942/01.PVL
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Der Rechtsweg des personalvertretungsrechtlichen
Beschlussverfahrens vor den Verwaltungsgerichten ist eröffnet.
Die Beschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e
1
Die sofortige Beschwerde ist zulässig.
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Über die sofortige Beschwerde kann ohne mündliche Verhandlung und damit auch
ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter entschieden werden, da eine Anhörung der
Beteiligten nicht für erforderlich gehalten wird (§ 79 Abs. 2 Satz 1 LPVG NRW i.V.m. §
53 Abs. 1 ArbGG).
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Vgl. BAG, Beschluss vom 10. Dezember 1992 - 8 AZB 6/92 -, BAGE 72, 84 = ZTR 1993,
211); Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 3. Aufl., 1999, § 48 Rn. 90, m.w.N.,
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Die Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde ergibt sich aus § 79 Abs. 2 Satz 1 LPVG
NRW i.V.m. § 48 Abs. 1 ArbGG und § 17 a Abs. 4 Satz 3 GVG sowie § 78 Abs 1 Satz 1,
Abs. 2 ArbGG und § 567 ZPO, da die Fachkammer für
Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts auf der Grundlage des § 79
Abs. 2 Satz 1 LPVG NRW i.V.m. § 48 Abs. 1 ArbGG und § 17 a Abs. 2 Satz 1 GVG den
vom Antragsteller beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit
an das für zuständig gehaltene Arbeitsgericht verwiesen hat.
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Die sofortige Beschwerde ist auch ansonsten zulässig. Sie ist insbesondere innerhalb
der in § 79 Abs. 2 Satz 1 LPVG NRW i.V.m. § 78 Abs 1 Satz 1 ArbGG und § 569 Abs. 1
Satz 1 ZPO vorgesehenen Frist und entsprechend der durch § 79 Abs. 2 Satz 1 LPVG
NRW i.V.m. § 78 Abs 1 Satz 1 ArbGG und § 569 Abs. 2 ZPO vorgeschriebenen Form
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eingelegt worden.
Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
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Die Fachkammer für Landespersonalvertretungssachen des Verwaltungsgerichts hat zu
Unrecht den "Verwaltungsrechtsweg" für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das
Arbeitsgericht W. verwiesen. Vielmehr ist über den vom Antragsteller geltend
gemachten Anspruch im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren vor den
Verwaltungsgerichten, das sich von dem durch § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten
Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten in Anbetracht der Zusammensetzung der
Spruchkörper und der maßgeblichen Verfahrensvorschriften derart unterscheidet, dass
von unterschiedlichen Rechtswegen auszugehen ist, zu entscheiden.
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Die Eröffnung des personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahrens vor den
Verwaltungsgerichten folgt aus § 79 Abs. 1 Nr. 3 LPVG NRW. Diese Vorschrift, die
ihrem ausdrücklichen Wortlaut nach lediglich Streitigkeiten über Zuständigkeit und
Geschäftsführung der Personalvertretungen und der in den §§ 54, 60, 85 und 86 LPVG
NRW genannten Vertretungen erfasst, ist bei einem allein anhand des § 96 Abs. 4 Satz
1 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs (im Folgenden: SBG IX) zu
entscheidenden Streit - wie hier - über den Umfang der Freistellung der
Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen über ihren Wortlaut hinaus
anzuwenden.
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Insofern ist einerseits festzustellen, dass es an einer ausdrücklichen gesetzlichen
Vorschrift darüber, in welchem Verfahren Rechtsstreitigkeiten über den
Freistellungsanspruch der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen zu
entscheiden ist, fehlt. Insbesondere kommt die Regelung des § 2 a Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG
nicht zur Anwendung, da eine der dort benannten Angelegenheiten aus den §§ 94, 95,
139 SGB IX nicht in Rede steht.
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Vgl. dazu allgemein Germelmann, NZA 2000, 1017.
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Andererseits ist aber die Schwerbehindertenvertretung angesichts der in §§ 95 und 96
SBG IX sowie §§ 30 Abs. 2, 35 Abs. 3, 36 Abs. 1, 51 und 53 LPVG NRW enthaltenen
Bestimmungen ebenso wie der Personalrat ein gesetzliches Organ der Betriebs- bzw.
Dienststellenverfassung. Mit Blick darauf und in Würdigung der in § 2 a Abs. 1 Nr. 1
ArbGG sowie § 83 Abs. 1 BPersVG und § 79 Abs. 1 LPVG NRW getroffenen
Regelungen ist davon auszugehen, dass jedenfalls der Gesetzgeber des
zwischenzeitlich aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes und des nunmehr
maßgeblichen Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs Rechtsstreitigkeiten zwischen
den Organen der gesetzlichen Verfassung des Betriebs bzw. der Dienststelle in einem
besonderen Verfahren, nämlich dem Beschlussverfahren vor den Arbeitsgerichten oder
den Verwaltungsgerichten, entschieden sehen wollte. Dies rechtfertigt es, auch
Rechtsstreitigkeiten über Rechte und Pflichten des Organs
"Schwerbehindertenvertretung" im Beschlussverfahren zu entscheiden.
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Vgl. BAG, Urteil vom 21. September 1989 - 1 AZR 469/88 -, BAGE 62, 382 = DB 1990,
796 = PersR 1990, 49 = PersV 1990, 180.
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Bei dem vorliegenden Streit über den Umfang der Freistellung der Vertrauensperson der
schwerbehinderten Menschen handelt es sich auch um eine Streitigkeit über Rechte
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und Pflichten des Organs "Schwerbehindertenvertretung".
Allein in Betracht kommende Rechtsgrundlage für das mit dem Verfahren verfolgte
Begehren des Antragstellers ist § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB IX, der vorsieht, dass die
Vertrauenspersonen von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts
oder der Bezüge befreit werden, wenn und soweit es zur Durchführung ihrer Aufgaben
erforderlich ist. Der sich daraus grundsätzlich ergebende Freistellungsanspruch findet
seine Grundlage in der besonderen Stellung des Organs der
Schwerbehindertenvertretung und nicht in dem persönlichen Dienst- bzw.
Arbeitsverhältnis desjenigen Beschäftigten, der jeweils die Aufgaben der
Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen wahrnimmt.
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Vgl. ebenso: Grossmann/Schimanski, GK-SGB IX, § 96 Rn. 217; a.A. Neumann/Pahlen,
SchwbG, 8. Aufl., 1992, § 26 Rn. 25; ohne nähere Differenzierung: Jung/Cramer,
SchwbG, 4. Aufl., 1992, § 26 Rn. 23.
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Dies ist für die vergleichbare Freistellung von Mitgliedern der Personalvertretungen
allgemein anerkannt.
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Vgl. jeweils mit weiteren Nachweisen: Cecior/Vallendar/Lechtermann/Klein,
Personalvertretungsrecht NRW, § 42 Rn. 103; Dietz/Richardi, BPersVG, 2. Aufl., 1978, §
46 Rn. 125; Fischer/Goeres, GKÖD, K § 46 Rn. 105; Lorenzen u.a., BPersVG, § 46 Rn.
159 und § 83 Rn. 26.
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Es ist nicht ersichtlich, aufgrund welcher Umstände für die Freistellung der
Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen etwas anderes gelten könnte.
Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass die Aufgaben der
Schwerbehindertenvertretung lediglich von einer einzelnen Person wahrgenommen
werden, keine andere Entscheidung, da auch der Personalrat nur aus einer Person
bestehen kann (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 LPVG NRW).
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Dem steht auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 1989 -
1 AZR 465/88 - nicht zwingend entgegen. Dort hat das Bundesarbeitsgericht zwar die
der Schwerbehindertenvertretung durch § 25 SchwbG (nunmehr § 95 SGB IX), §§ 32, 35
Abs. 3 und 52 BetrVG sowie §§ 39 und 40 BPersVG eingeräumten Rechte und
Aufgaben unterschieden von der in § 26 Abs. 3 bis 6 SchwbG (nunmehr § 96 Abs. 3 bis
6 SGB IX) geregelten persönlichen Rechtsstellung des Vertrauensmannes oder der
Vertrauensfrau der Schwerbehinderten (nunmehr Vertrauensperson der
schwerbehinderten Menschen). Eine entscheidungstragende Aussage zu der
vorliegend allein relevanten Frage des Umfangs der Freistellung einer
Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen ist der Entscheidung jedoch nicht
zu entnehmen. Insbesondere lässt die Entscheidung nicht hinreichend hervortreten,
dass das Bundesarbeitsgericht zwischen den sich aus § 26 Abs. 3 bis 6 SchwbG
(nunmehr § 96 Abs. 3 bis 6 SGB IX) ergebenden Rechten und Pflichten keinerlei
Differenzierungen hat vornehmen wollen, was angesichts des sich von den übrigen
Rechten unterscheidenden Freistellungsanspruchs nicht sachgerecht erscheinen
würde.
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Die weitere sofortige Beschwerde ist nach § 79 Abs. 2 Satz 1 LPVG NRW i.V.m. § 48
Abs. 1 ArbGG und § 17 a Abs. 4 Satz 5 GVG zuzulassen, da die Frage, in welchem
Rechtsweg über einen Streit hinsichtlich des Umfangs der Freistellung einer
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Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen zu entscheiden ist, von
grundsätzlicher Bedeutung ist.