Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 10.11.2008

OVG NRW: politische verfolgung, gefahr, asylbewerber, folter, auskunft, behandlung, staatsanwalt, kader, gerichtsbarkeit, botschaft

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 2738/08.A
Datum:
10.11.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 A 2738/08.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 15 K 1938/08.A
Tenor:
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom Köln vom 25. September 2008
wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
1
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen der allein geltend
gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
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Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung
des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder
Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Dies ist hier nicht der Fall.
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Die mit der Antragsschrift allein aufgeworfene Frage,
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ob türkischen Staatsangehörigen, die im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei aufgrund
Haftbefehls bzw. zur Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe in Haft genommen werden, mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, Opfer von Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG zu werden,
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hat sich dem Verwaltungsgericht in dieser allgemeinen Form nicht gestellt. Für die
Entscheidung des Verwaltungsgerichts war maßgeblich, dass der Kläger die Türkei auf
der Flucht vor bereits eingetretener bzw. ihm unmittelbar drohender politischer
Verfolgung verlassen hat. Der dem Kläger wegen der Vorverfolgung zugute kommende
herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist aber in der von der Beklagten
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aufgeworfenen Frage nicht berücksichtigt worden.
Aber auch wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, sie habe die Frage aufwerfen
wollen, ob ein vorverfolgt aus der Türkei ausgereister kurdischer Volkszugehöriger, der
im Falle seiner Rückkehr in die Türkei aufgrund Haftbefehls bzw. Verbüßung einer
Freiheitsstrafe in Haft genommen wird, hinreichend sicher vor Foltermaßnahmen oder
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist, ist ein grundsätzlicher
Klärungsbedarf nicht dargetan. Diese Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klärung. In
der - vom Verwaltungsgericht auch zur Grundlage seiner Entscheidung gemachten -
Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass es in der Türkei trotz der umfassenden
Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz- Politik" gegenüber Folter,
weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität kommt, die dem
türkischen Staat zurechenbar sind, weshalb auch gegenwärtig verfolgt ausgereiste
Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 21 ff. des Urteilsabdrucks,
und Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, S. 17 ff. des Urteilsabdrucks.
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Mit den Ausführungen der Beklagten zu Verbesserungen der Sicherheitslage in der
Türkei und fehlender Foltergefahr für abgelehnte, in die Türkei zurückkehrende
Asylbewerber ist ein grundsätzlicher Klärungsbedarf schon deshalb nicht dargelegt, weil
sich die Beklagte mit der vom Verwaltungsgericht wörtlich zitierten Rechtsprechung des
Senats nicht auseinandergesetzt, insbesondere keine tatsächlichen Umstände
aufgezeigt hat, die die Bewertung der Menschenrechtslage in der Türkei, die dem
Senatsurteil vom 27. März 2007 zugrunde liegt, in Frage stellen und Anlass zu einer
erneuten grundsätzlichen Prüfung geben könnten.
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Aus den vom Beklagten angeführten, angeblich von dem angefochtenen Urteil des
Verwaltungsgerichts und der Rechtsprechung des Senats abweichenden Urteilen des
VG Düsseldorf
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vom 23. März 2006 - 4 K 4322/05.A - und vom 30. November 2006 - 4 K 3870/06.A -
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und des OVG Rheinland-Pfalz
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vom 18. November 2005 - 10 A 10580/05 -
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ergeben sich keine neuen tatsächlichen Umstände. Sie sind zeitlich vor dem
Senatsurteil vom 27. März 2007 ergangen und beziehen sich auf eine Erkenntnislage,
die der Senat bereits gewürdigt hat.
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Entsprechendes gilt, soweit die Beklagte einen grundsätzlichen Klärungsbedarf daraus
herleiten will, dass - wie in der Zulassungsschrift ausgeführt ist - in den angefochtenen
Entscheidungen Verwaltungsgerichte und ein Oberverwaltungsgericht eine im
vorliegenden Verfahren erhebliche Frage bei gleicher Auskunftslage unterschiedlich
beantwortet hätten. Der Senat hat zu der Gefahr von Folter und sonst
menschenrechtswidrigen Übergriffen in der Türkei bereits grundsätzlich Stellung
genommen. Selbst wenn einzelne Gerichte, insbesondere Gerichte der ordentlichen
Gerichtsbarkeit, die hier zu bewertende Tatsachenfrage anders beantworten würden,
könnte eine erneute grundsätzliche Klärung durch den Senat eine Vereinheitlichung der
Rechtsprechung nicht herbeiführen.
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Unabhängig davon trifft die Darstellung der Beklagten auch nicht zu. Das von der
Beklagten angeführte Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 18. November 2005 - 10 A
10580/05 - betraf einen "entfernten Mitläufer der prokurdischen Szene", dessen niedrig
profiliertes exilpolitisches Engagement ohnehin keine beachtliche Verfolgungsgefahr
begründet, weil er - anders als der Kläger des vorliegenden Verfahrens - nicht als
"ernstzunehmender Gegner des türkischen Staates" in Erscheinung getreten ist. Die
Ausführungen des VG Düsseldorf in dem Urteil vom 23. März 2006 - 4 K 4322/05.A -
bezogen sich auf einen Asylbewerber, dem nach der Sachverhaltswürdigung des
Gerichts keine polizeilichen Vorfeldermittlungen mehr drohten, sondern lediglich
Strafhaft, die aber keine politische Verfolgung darstelle. Dass bestimmte
Personengruppen wie etwa Kader der PKK weiterhin der Gefahr
menschenrechtswidriger Übergriffe ausgesetzt sind, hat das VG Düsseldorf in seinem
Urteil vom 30. November 2006 - 4 K 3870/06.A - im Einklang mit der
Senatsrechtsprechung ausdrücklich hervorgehoben.
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Der Vortrag der Beklagten, es sei seit vier Jahren kein Fall mehr bekannt geworden, in
dem ein abgelehnter Asylbewerber nach seiner Rückkehr im Zusammenhang mit
früheren Aktivitäten gefoltert worden sei, begründet ebenfalls keinen erneuten
Klärungsbedarf. Der Senat hat bereits mehrfach ausgeführt, dass die diesbezüglichen
Erkenntnisse für die Gefährdungsprognose unergiebig sind. Denn den von der
Beklagten in diesem Zusammenhang zitierten Lageberichten und Auskünften sind keine
Hinweise darauf zu entnehmen, dass unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen
Personen gewesen wären, bei denen nach der bisherigen Erkenntnislage mit
Übergriffen zu rechnen gewesen wäre.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A - sowie Beschlüsse vom 1.
Dezember 2005 - 8 A 4037/05.A - und vom 31. März 2008 - 8 A 684/08.A - .
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Für Fallgestaltungen der hier in Rede stehenden Art unergiebig ist auch die von der
Beklagten zitierte Auskunft der Botschaft Ankara vom 14. Januar 2008. Daraus ergibt
sich nicht, dass der Kläger keinen polizeilichen Befragungen ausgesetzt und in der
Zeitspanne bis zur Vorführung bei Gericht vor menschenrechtswidrigen Übergriffen
geschützt sein wird. Vielmehr ist in dieser Auskunft ausgeführt, dass der Staatsanwalt
bei Personen, die im Zusammenhang mit terroristischen Organisationen angeklagt sind,
die Vernehmung durch die Polizeibehörde anordnen und die Frist des
Polizeigewahrsams bis auf vier Tage verlängert werden kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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