Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.06.2002

OVG NRW: politische verfolgung, gefahr, puk, irak, ausreise, abschiebung, gefährdung, freilassung, provinz, bundesamt

Oberverwaltungsgericht NRW, 9 A 2259/00.A
Datum:
11.06.2002
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 A 2259/00.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 18 K 3566/98.A
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird teilweise geändert.
Die Klage wird, soweit sie nach teilweiser Klagerücknahme noch
anhängig ist, abgewiesen.
Unter Einbeziehung des unanfechtbar gewordenen Teils der
Kostenentscheidung des Urteils erster Instanz trägt der Kläger die
Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger
vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Der am in Kirkuk geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste nach seinen Angaben im August 1997 in die
Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 1. September 1997 seine
Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor: Er sei
in Kirkuk aufgewachsen und habe dort von 1983 bis 1991 die Schule besucht.
Anschließend - nach dem kurdischen Volksaufstand - seien sie in die Sicherheitszone
nach Jamjamal umgezogen, wo er seine Schulausbildung noch bis 1993 fortgesetzt
habe; mit Erreichen der Mittleren Reife sei er von der Schule abgegangen. Sein Vater,
der früher Lehrer und Grundschuldirektor gewesen sei, habe in Jamjamal ein
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Kleidergeschäft geführt, in dem er - der Kläger - nach Abschluss seiner Schulausbildung
bis zur Ausreise gearbeitet habe. Er habe sich nie politisch betätigt. Einige Freunde
seien politisch gesehen bei der Kommunistischen Arbeiterpartei gewesen seien, über
die er selbst jedoch keine Informationen habe. Die Freunde hätten, wenn sie ihn im
Laden aufgesucht hätten, nicht über Politik gesprochen. Als er am 15. Juni 1997 den
Laden geöffnet habe, habe er einen unter der Tür durchgeschobenen Brief entdeckt, in
dem er aufgefordert worden sei, sowohl politische Tätigkeiten zu unterlassen als auch
die Freundschaft zu den genannten Freunden aufzugeben. Er habe dem Brief keine
Bedeutung beigemessen und sich nicht angesprochen gefühlt. Am 5. Juli 1997 sei ihm
auf dem Nachhauseweg ein Brasili entgegen gekommen, in dem drei bewaffnete
Männer gesessen hätten. Einer sei ausgestiegen und habe ihn aufgefordert
einzusteigen. Nachdem er in das Auto hineingeschubst worden sei, sei man eine Weile
gefahren. Schließlich sei er in ein ehemaliges militärisches Lager in Khourmal verbracht
worden, das von den Islamisten kontrolliert werde. Dort sei er bis zum 20. Juli 1997
festgehalten und verprügelt worden. Man habe ihm vorgeworfen, dass er Flugblätter der
Islamisten zerrissen und sich überall negativ über diese geäußert sowie Freundschaft
zu Kommunisten gepflegt habe. Währenddessen habe sein Vater versucht, ihn zu
finden, und den Führer des Stammes I. , L. B. , kontaktiert. Dieser habe schließlich in der
Zentrale der Islamisten seine - des Klägers - Freilassung erreichen können. Am 25. Juli
1997 habe er den Laden wieder aufgemacht und erneut den Brasili mit den bewaffneten
Männern gesehen, woraufhin er Angst bekommen habe. Nachdem L. B. erklärt habe, er
könne ihm für den Fall einer erneuten Verhaftung nicht mehr helfen und rate deshalb,
das Land zu verlassen, habe er Jamjamal am 31. Juli 1997 verlassen. Mit Hilfe eines
Schleppers, dem er 3.500 Dollar habe überlassen müssen, sei ihm die Flucht über den
Iran und die Türkei nach Deutschland gelungen. Wegen der Einzelheiten seiner
Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal wird auf das Anhörungsprotokoll vom 3.
September 1997 Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 23. April 1998 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag des Klägers ab
(Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG (Nr. 2 des Bescheides) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (Nr. 3
des Bescheides) nicht vorlägen. Ferner forderte es den Kläger zur Ausreise aus der
Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des
Bescheides auf und drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den
Irak an (Nr. 4 des Bescheides).
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Hiergegen hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben, zu deren Begründung er sich
weitgehend auf sein bisheriges Vorbringen bezogen hat. Ergänzend hat er vorgetragen:
Der Bruder seines Vaters sei ein führendes Mitglied des Irakischen Nationalkongresses
gewesen; 1996 habe er den Irak verlassen und sei mittlerweile in den USA als
Flüchtling anerkannt. Nach der Ausreise seines Onkels habe seine Familie in Jamjamal
Schwierigkeiten bekommen. Man habe seinem Vater Kontakte zum irakischen
Geheimdienst unterstellt, weil er früher im Schuldienst und damit notwendigerweise
Mitglied der Baath-Partei gewesen sei. Er - der Kläger - habe inzwischen in Erfahrung
gebracht, dass seine Familie - mit Ausnahme eines Ende 1997 in die Türkei
ausgereisten Bruders - 1997 von Jamjamal wieder nach Kirkuk zurückgekehrt sei. Sein
Vater sei dort mit dem Bemerken, nur kurz angehört werden zu sollen, mitgenommen
worden und seither nicht mehr bei der Familie erschienen.
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Nach teilweiser Rücknahme des ursprünglich auch auf die Asylanerkennung
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gerichteten Begehrens hat der Kläger noch beantragt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 23.
April 1998 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG vorliegen,
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und hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen.
8
Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
10
Durch das angefochtene Urteil hat das Verwaltungsgericht das Verfahren im Umfang
der Klagerücknahme eingestellt und im Übrigen die Beklagte unter teilweiser
Aufhebung des angegriffenen Bescheides verpflichtet festzustellen, dass bezüglich des
Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Zur Begründung hat es
im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen
seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seiner Herkunft aus Jamjamal die Gefahr der
Gruppenverfolgung drohe.
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Hiergegen wendet sich der Beteiligte mit seiner zugelassenen Berufung, zu deren
Begründung er sich auf das Urteil des Senats vom 5. Mai 1999 - 9 A 4671/98.A -
bezieht.
12
Der Beteiligte beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
14
Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen,
16
und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
17
Die Beklagte stellt keinen Antrag und nimmt nicht zur Sache Stellung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Erkenntnisse, die in dem den Beteiligten
zugestellten Anhörungsschreiben des Gerichts vom 2. Juli 2001 näher bezeichnet sind.
19
II.
20
Der Senat kann gemäß § 130 a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss
entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gemäß § 130 a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz
3 VwGO angehört worden.
21
Sie sind ferner durch das Anhörungsschreiben des Gerichts vom 2. Juli 2001 auf die
Rechtsprechung des Senats zur Verfolgungslage in den kurdischen Autonomiegebieten
im Nordirak und auf die im Einzelnen bezeichneten diesbezüglichen Erkenntnisse
22
hingewiesen worden. Daneben ist der Kläger aufgefordert worden, alle im Hinblick auf
sein Begehren erheblichen Tatsachen vorzutragen und gegebenenfalls Beweismittel zu
bezeichnen.
Die zugelassene Berufung ist begründet.
23
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iraks, weil dort sein Leben
oder seine Freiheit nicht wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung bedroht ist.
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Vgl. zu den im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG zur Anwendung gelangenden
Maßstäben einschließlich der Anwendbarkeit der Grundsätze der inländischen
Fluchtalternative: OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999 - 9 A 4671/98.A -.
25
Denn er kann jedenfalls auf das autonome Kurdengebiet (in den Provinzen
Sulaimaniya, Arbil und Dohuk) verwiesen werden. Dieses genügt auch bei
Zugrundelegung eines herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entgegen der
Auffassung des Verwaltungsgerichts den Anforderungen, die an eine den
Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG ausschließende inländische
Fluchtalternative zu stellen sind.
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Vgl. zur Anwendbarkeit der Grundsätze der inländischen Fluchtalternative auf die
autonomen Kurdengebiete im Nordirak: BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C
17.98 -, NVwZ 1999, 544; OVG NRW, Urteile vom 5. Mai 1999, a.a.O., und vom 8. März
2001 - 9 A 2993/98.A.
27
Nach den Grundsätzen der inländischen Fluchtalternative ist die Schutzgewährung
wegen politischer Verfolgung ausgeschlossen, wenn der Asylsuchende auf Gebiete
seines Heimatstaates verwiesen werden kann, in denen er vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher ist, und wenn ihm dort keine anderen Nachteile und Gefahren
drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am
Herkunftsort so nicht bestünde.
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Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80,
315 (342 ff.); BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990, - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (145),
Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, DVBl. 1996, 1259.
29
Nach Überzeugung des Senats bestehen im Sinne des herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstabes,
30
vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 171.95 -, DVBl. 1996, 1260,
31
keine ernsthaften Zweifel, dass der Kläger im autonomen Kurdengebiet im Norden des
Iraks vor staatlicher Verfolgung hinreichend sicher ist. Soweit eine politische Verfolgung
durch zentralirakische Behörden in Frage steht, fehlt es diesen an der hierfür
erforderlichen Gebietsgewalt; objektive Anhaltspunkte, die eine Änderung dieser
Situation in absehbarer Zeit und damit als "reale" Möglichkeit erscheinen lassen, sind
nicht gegeben.
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Vgl. zum Ganzen: OVG NRW, Urteile vom 5. Mai 1999 und vom 8. März 2001, jeweils
a.a.O.; ergänzend die in der übersandten Erkenntnisliste bezeichneten Stellungnahmen
des Deutschen Orientinstituts vom 30. März 1999 an VG Oldenburg, wonach nicht
abgeschätzt werden könne, wie lange der "status quo" noch andauere und
Voraussagen, wann der irakische Staat in die kurdischen Autonomiegebiete
zurückkehren werde, nicht getroffen werden könnten, vom 30. Juni 1999 an VG
Bayreuth, wonach nicht prognostiziert werden könne, wann die Iraker sich des
autonomen Kurdengebiets wieder bemächtigen würden, und vom 6. Dezember 1999 an
VG Trier, wonach der militärische Zugriff der Iraker ebenso wie die Schutzgewährung
durch die Allierten in der Schwebe seien, das Eine ebenso wahrscheinlich wie das
Andere sei, so dass die Zukunft schlecht zu prognostizieren sei; Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 15. Februar 2001, S. 7, wonach keine Erkenntnisse dafür vorliegen,
dass die Bagdader Zentralregierung versucht, ihre Staatsgewalt auf den von Kurden
besiedelten Norden auszudehnen, wenn auch ein erneutes militärisches Vorgehen
Bagdads gegen die Kurdenparteien im Nordirak nicht ausgeschlossen werden könne.
33
Es bestehen auch keine Zweifel, dass der Kläger vor einem Anschlag irakischer
Geheimdienstagenten hinreichend sicher ist. Wie der Senat in dem genannten Urteil
vom 5. Mai 1999, a.a.O., entschieden hat, kann lediglich für Kurden, die nach außen
erkennbar herausgehobene politisch-oppositionelle Funktionen oder herausgehobene
militärische Führungsfunktionen wahrgenommen haben, sowie für kurdische Mitarbeiter
westlicher Hilfsorganisationen oder der UN in den kurdischen Autonomiegebieten im
Einzelfall die Gefahr eines Anschlags des irakischen Geheimdienstes drohen. Zu dieser
Gruppe gehört der Kläger unter Zugrundelegung seines eigenen Vorbringens
offensichtlich nicht.
34
Auch eine politische Verfolgung des Klägers durch eine der maßgeblichen
Kurdengruppierungen, hier insbesondere die in der Provinz Sulaimaniya tonangebende
PUK, ist nicht zu befürchten. Dabei kann offen bleiben, ob eine solche bereits deswegen
ausgeschlossen ist, weil die PUK ebenso wie die KDP als in ihrem jeweiligen
Herrschaftsgebiet tonangebende Organisation nach wie vor keine hinreichende
Gebietsgewalt ausübt,
35
so OVG NRW, Urteile vom 5. Mai 1999 und vom 8. März 2001, jeweils a.a.O.,
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oder ob eine solche grundsätzlich in Betracht kommt, weil die PUK ebenso wie die KDP
jedenfalls inzwischen in ihrem jeweiligen Herrschaftsgebiet als quasi- staatliche
Organisation anzusehen ist.
37
Vgl. zur politischen Verfolgung durch quasi- staatliche Organisationen: BVerfG,
Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260 und 1353/98 - NVwZ 2000, 1165; BVerwG,
Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815; vgl. zur Stellung der PUK
bzw. KDP im Nordirak: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15. Februar 2001, S. 6.
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Unabhängig hiervon kann bereits dem tatsächlichen Vorbringen des Klägers zur
Überzeugung des Senats nicht entnommen werden, dass eine politische Verfolgung
ernsthaft zu befürchten ist. Der Annahme einer Verfolgungsgefahr durch die PUK steht
schon entgegen, dass dem Kläger nach seinem eigenen Vorbringen vor dem
Bundesamt seit 1991 in Jamjamal und damit im PUK-Gebiet nichts Nachteiliges durch
die herrschende Partei widerfahren ist. Sein erstmals im Klageverfahren erfolgter
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Vortrag, seine Familie habe ab 1996 in Jamjamal Schwierigkeiten bekommen, weil sein
Vater früher im Schuldienst und damit notwendigerweise Mitglied der Baath-Partei
gewesen sei und man ihm deshalb Kontakte zum irakischen Geheimdienst unterstellt
habe, ist schon deshalb unglaubhaft, weil der Kläger vor dem Bundesamt hiervon nicht
ansatzweise berichtet hatte. Stattdessen hat er seinerzeit vielmehr angegeben, dass es
außer den angeblichen Übergriffen durch Islamisten keine Gründe für eine Ausreise aus
dem Irak gegeben habe.
Eine Gefährdung durch - überwiegend im PUK-Gebiet ansässige - Islamisten kann
ebenfalls nicht angenommen werden. Das Vorbringen des Klägers, er sei von Islamisten
bedroht, entführt, festgehalten und misshandelt worden, ist ebenfalls unglaubhaft. Seine
Angaben zu den diesbezüglichen angeblichen Ereignissen sind weitgehend
oberflächlich, detailarm und vage geblieben. Schon den Inhalt des angeblich am 15.
Juni 1997 vorgefundenen Drohbriefes hat der Kläger lediglich schlagwortartig
beschrieben, so dass die Annahme, er habe von tatsächlich Erlebtem berichtet, nicht
gerechtfertigt ist. Nichts anderes gilt für seinen weiteren Vortrag. Wenn er tatsächlich auf
offener Straße von bewaffneten Männern in einem "Brasili" entführt, in ein islamisches
Lager verbracht und dort mehr als zwei Wochen festgehalten worden wäre, wäre zu
erwarten gewesen, dass er unter Angabe einer Vielzahl von Einzelheiten zu den Tätern
und der Art ihrer Bewaffnung, zu sonstigen konkreten Begleitumständen der Entführung
und vor allem zu den Umständen der Haft - insbesondere den angeblich erlittenen
"Prügeln" - wesentlich eingehendere Schilderungen abgegeben hätte. Das gilt umso
mehr, als sich derartige einschneidende Erlebnisse erfahrungsgemäß besonders
nachhaltig in das Gedächtnis einprägen. Im Übrigen ist widersprüchlich, dass er
zunächst angegeben hat, nie verhaftet worden zu sein, während im weiteren Verlauf der
Befragung von einer mehr als zweiwöchigen Internierung in einem Lager die Rede war.
Auch der Vortrag des Klägers dazu, wie es zu der Freilassung aus der Haft gekommen
sein soll, ist unglaubhaft. Es fehlt an jeglichen Angaben dazu, wie es dem Vater des
Klägers gelingen konnte, zu dem angeblichen Führer des Stammes I. - dem weder der
Kläger noch seine Verwandten angehörten - Kontakt aufzunehmen, und dazu, aus
welchen Gründen dieser sich bereit erklärt haben sollte, sich einzuschalten und auf die
Freilassung des Klägers hinzuwirken. Schließlich leitet der Kläger seine Angst vor einer
erneuten Verhaftung lediglich daraus her, dass er erneut den "Brasili" mit den
bewaffneten Männern gesehen haben will. Dafür, warum diese tatsächlich nur wenige
Tage nach der - angeblich durch Einschaltung eines Stammesführers ermöglichten -
Freilassung erneut den Kläger behelligen sollten, fehlt jedoch jeder Anhalt; auch der
Kläger hat insoweit nach eigenem Bekunden lediglich ein diffuses Angstgefühl verspürt.
Zusammenfassend drängt sich der Eindruck auf, dass der Kläger sich eine
Verfolgungsgeschichte konstruiert, nicht aber von tatsächlich Erlebtem berichtet hat.
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Dem Kläger drohen auch keine anderen Gefahren, als sie ihm in den von der irakischen
Zentralmacht beherrschten Gebieten gedroht hätten. Dies gilt zunächst für die
Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums.
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Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O.
42
Soweit im Hinblick hierauf die Einschränkung gemacht wird, dass nur diejenigen eine
wirtschaftliche Überlebensmöglichkeit hätten, die längere Zeit in den kurdischen
Autonomiegebieten gelebt hätten oder aber dort über familiäre Verbindungen verfügten,
die im Rahmen des dort herrschenden Clanwesens und Familienverbandes die Hilfe in
Notlagen gewährleisteten,
43
vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O.,
44
lässt sich hieraus mit Blick auf den begehrten Abschiebungsschutz Günstiges für den
Kläger nicht ableiten. Denn der Kläger ist zwar in Kirkuk geboren und aufgewachsen,
hat aber von 1991 bis 1997 in Jamjamal in der Provinz Sulaimaniya gelebt, dort seine
Schulausbildung beendet und ist mehrere Jahre als Händler tätig gewesen. Aufgrund
seiner daraus folgenden gesellschaftlichen Einbindung in Form von Kontakten etwa zu
Schulfreunden, Nachbarn, Geschäftsfreunden oder Kollegen kann der Kläger davon
ausgehen und darauf vertrauen, dass er bei etwaigen Versorgungsproblemen oder
Startschwierigkeiten unterstützt wird, so dass er bei der gebotenen generalisierenden
Betrachtungsweise keine existentiellen Nöte befürchten muss.
45
Konkrete Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger über die
abstrakte Möglichkeit hinaus, von etwaigen iranischen Truppeneinmärschen in die
genannten Provinzen berührt zu werden, konkret i.S. einer "realen" Möglichkeit betroffen
sein werde, lassen sich nicht erkennen. Entsprechendes gilt auch für die Frage der - nur
für die autonomen Kurdengebiete in Betracht zu ziehende - Gefährdung durch
innerkurdische Streitigkeiten. Ein Aufflammen kriegerischer Auseinandersetzungen mit
erheblichen Landgewinnen einer Partei und Gefährdung der Zivilbevölkerung ist
ebenfalls nicht zu befürchten.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O.
47
Im Verhältnis zu den kurdischen Gruppen schadet sich ein irakischer Flüchtling auch
nicht durch die Beantragung von Asyl in der Bundesrepublik Deutschland oder einen
langjährigen Auslandsaufenthalt.
48
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O.
49
Die danach für den Kläger verfolgungsfreien und auch im Übrigen unzumutbare
existentielle Gefahren und Nachteile nicht aufweisenden Landesteile im Norden des
Iraks sind für ihn ohne Weiteres zu erreichen.
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Vgl. zum Erfordernis der Erreichbarkeit des Ortes der inländischen Fluchtalternative
innerhalb des Verfolgungsstaates: BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 - 9 C 59.92 -,
NVwZ 1993, 1210.
51
Um das Gebiet der inländischen Fluchtalternative zu erreichen und in die Provinz
Sulaimaniya zu gelangen, muss der Kläger zentralirakisches Herrschaftsgebiet nicht
durchqueren; er kann vielmehr unmittelbar über die türkische Grenze in den Nordirak
ein- und in die Provinz Sulaimaniya weiterreisen oder unmittelbar über die iranische
Grenze dorthin gelangen.
52
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O.
53
Die hilfsweise geltend gemachten Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bestehen
nicht, so dass auch insoweit der angefochtene Bescheid des Bundesamtes (Nr. 3 des
Bescheides) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
54
Hinsichtlich der Abschiebungsschutztatbestände des § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4
55
AuslG fehlt es an dem Erfordernis der Staatlichkeit der dem Asylbewerber jeweils - im
Zielstaat Irak - konkret-individuell drohenden Maßnahme,
vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O., m.w.N.,
56
bzw. am Vorliegen der weiteren Voraussetzungen dieser Vorschriften. Der irakische
Staat verfügt, wie bereits dargelegt, nicht über eine effektive Gebietsgewalt im
kurdischen Autonomiegebiet und wird diese nach jetzigem Kenntnisstand auch auf
absehbare Zeit nicht (wieder) erlangen. Hinsichtlich der dort herrschenden
Kurdengruppen - sollte man ihnen quasi-staatliche Macht zubilligen - sind die
Voraussetzungen von § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 AuslG nicht erfüllt. Wie sich
ebenfalls aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, kann nicht davon ausgegangen
werden, dass dem Kläger die konkrete Gefahr der Folter droht (Abs. 1), dass er wegen
einer Straftat gesucht wird und die Gefahr der Todesstrafe besteht (Abs. 2) oder dass die
Abschiebung einen Verstoß gegen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte
bedeutete (Abs. 4).
57
Dem Kläger drohen bei seiner Rückkehr in die kurdischen Autonomiegebiete auch
keine Gefahren, die ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
begründen. Hiernach kann von der Abschiebung des Ausländers in einen anderen Staat
abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für
Leib, Leben oder Freiheit besteht, und zwar unabhängig davon, ob diese vom Staat
ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist.
58
Für die Annahme einer "konkreten" Gefahr genügt nicht die theoretische Möglichkeit,
Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden; es muss eine "beachtliche"
Wahrscheinlichkeit sein, wobei allerdings das Element der "Konkretheit" der Gefahr für
den Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell
bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert. In diesem Rahmen kommt
es auch nicht auf das bei bereits erlittener Verfolgung den herabgestuften Maßstab
rechtfertigende Element der Zumutbarkeit der Rückkehr an. Schließlich muss die Gefahr
i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auch landesweit drohen; eine Aussetzung der
Abschiebung kommt danach nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren
nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch ein Ausweichen in sichere
Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O., m.w.N.
60
Dies ist hier der Fall. Der Kläger kann sich einem ihm möglicherweise drohenden Zugriff
durch den irakischen Staat dadurch entziehen, dass er in die autonomen Kurdengebiete
ausweicht. Denn der irakische Staat besitzt dort, wie oben dargestellt, keine
polizeilichen und administrativen Zugriffsmöglichkeiten. Anschläge irakischer
Geheimdienstangehöriger hat er aus den oben dargelegten Gründen ebenfalls nicht zu
befürchten. Von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger innerhalb der
kurdischen Autonomiegebiete konkret-individuellen Leibes- oder Lebensgefahren i.S.d.
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausgesetzt sein werde, kann, wie im Rahmen der inländischen
Fluchtalternative zu § 51 Abs. 1 AuslG dargelegt, nicht ausgegangen werden.
61
Gefährdungen durch innerkurdische Streitigkeiten, wie etwa auf Grund des Aufflammens
kriegerischer Auseinandersetzungen mit erheblichen Landgewinnen oder aber in Folge
kurdischer terroristischer Anschläge, oder Gefährdungen durch türkische und/oder
62
iranische Truppenbewegungen im Nordirak, die als allgemeine Gefährdungen an sich
der Sperrklausel des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG unterfallen, vermögen dann, wenn durch
die Abschiebung der jeweiligen Asylsuchende extrem bzw. hochgradigen Gefahren
ausgesetzt ist, dieser quasi sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten
Verletzungen ausgeliefert wird, in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG ein Abschiebungshindernis zu begründen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O., m.w.N.
63
Derartige gerade dem Kläger drohende extreme Leibes- oder Lebensgefahren sind
jedoch, wie ebenfalls oben dargelegt, innerhalb der kurdischen Autonomiegebiete nicht
zu besorgen bzw. lassen sich im Hinblick auf etwaige kurdische Terroranschläge
angesichts deren sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht punktuellen
Charakters über die rein abstrakte Möglichkeit hinaus nicht in Bezug auf den Kläger
konkretisieren.
64
Schließlich hat der Kläger auch keine Gefahr auf dem Reiseweg zu den kurdischen
Autonomiegebieten zu befürchten. Insoweit wird auf die Ausführungen zu § 51 Abs. 1
AuslG verwiesen. Abgesehen davon ist die Einreise in den Nordirak auch im Übrigen -
mit oder ohne Pass - völlig problemlos, wie die oft monatelangen Aufenthalte irakischer
Asylbewerber im Nordirak und insbesondere die besuchsweisen Aufenthalte von in der
Bundesrepublik Deutschland oder etwa den Niederlanden als asylberechtigt
anerkannten Irakern nachdrücklich belegen.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O., m.w.N.
66
Die fehlende Abschiebungsmöglichkeit über die Türkei - und wohl auch über den Iran -
in den Norden des Irak hindert die Versagung des Abschiebungsschutzes aus § 53 Abs.
6 Satz 1 AuslG nicht. Denn dem Kläger kann eine derart legale und freiwillige Rückkehr
über die Türkei und ggf. den Iran angesonnen werden, da hierbei unzumutbare
Beeinträchtigungen offenkundig nicht zu besorgen sind, wie die zahlreichen
Rückkehrerfälle belegen. Wer aber durch die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den
Norden seines Heimatstaates (hier: Irak) etwaige Gefahren abwehren kann, bedarf des
Schutzes durch die Bundesrepublik Deutschland nicht.
67
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. Mai 1999, a.a.O., m.w.N.
68
Die Abschiebungsandrohung ist nach § 34 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 50
AuslG zu Recht erlassen worden, da der Kläger weder als Asylberechtigter anerkannt ist
noch eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt; die ihm gesetzte Ausreisefrist von einem
Monat ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylVfG.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, § 83 b Abs. 1
AsylVfG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO,
§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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