Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 04.09.2008

OVG NRW: treu und glauben, grundstück, verwirkung, einstellung der bauarbeiten, landwirtschaft, pferdestall, befreiung, genehmigung, zukünftige nutzung, bebauungsplan

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 A 2358/07
Datum:
04.09.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 A 2358/07
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 8 K 4528/06
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Baugenehmigung der Beklagten vom 25. November 1999 in der
Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 und
der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung L. vom 28. September
2006 werden aufgehoben.
Die Beklagte und der Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens
beider Instanzen je zur Hälfte. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen sie
jeweils selbst.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Kläger wenden sich gegen eine dem Beigeladenen von der Beklagten erteilte
Baugenehmigung vom 25. November 1999 in der Fassung der
Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 für ein Stallgebäude.
2
Die Kläger sind Eigentümer des mit einer Doppelhaushälfte bebauten Grundstücks I.-----
- ----straße 51 in C. (Gemarkung I1. , Flur 2, Flurstück 1633). Westlich ihres Grundstücks
befindet sich jenseits des mit der anderen Doppelhaushälfte bebauten
Nachbargrundstücks I.-- --------straße 49 die Zufahrt zu dem im rückwärtigen Bereich des
klägerischen Grundstücks liegenden Grundstück I.----------straße 47 des Beigeladenen
(Gemarkung I1. , Flur 2, Flurstück 2001). Östlich des klägerischen Grundstücks liegen
die Nachbargrundstücke I.------- ---straße 53, 55, 57 und 59. Das Grundstück des
3
Beigeladenen erstreckt sich von West nach Ost in seiner Breite über den rückwärtigen
Bereich der Grundstücke I.----------straße 49 bis 57. Das auf dem Grundstück errichtete
Wohnhaus liegt im nordwestlichen Bereich, während das hier streitgegenständliche
Stallgebäude im nordöstlichen Bereich des Grundstücks nördlich der Grundstücke I.------
----straße 55 und 57 liegt.
Das klägerische Grundstück sowie das Grundstück des Beigeladenen werden von dem
1977 bekannt gemachten Bebauungsplan Nr. 8324-1 der Stadt C. erfasst. Der
Bebauungsplan setzt für die betreffenden Grundstücke unterschiedliche Baugebiete
fest: Das klägerische Grundstück liegt ebenso wie die westlichen und östlichen
Nachbargrundstücke in einem reinen Wohngebiet. Für das Grundstück des
Beigeladenen ist überwiegend eine Fläche für die Landwirtschaft festgesetzt; allein die
westlich des Grundstücks I.----------straße 49 liegende Zuwegung befindet sich in dem
Bereich des reinen Wohngebiets. Überbaubare Grundstücksflächen gibt der
Bebauungsplan nur für das reine Wohngebiet vor.
4
Mit Bauschein vom 24. Oktober 1968 war dem ursprünglichen Eigentümer des
Grundstücks des Beigeladenen die Errichtung eines winkelförmigen Gebäudes,
bestehend aus einem Pferdestall mit vier Boxen sowie Nebenräumen als Nebenanlage
genehmigt worden. Der rechteckige Pferdestall wies ausweislich der Bauvorlagen einen
Grundriss von 16,99 m x 5,99 m auf; die Grundfläche der Nebenräume betrug 7,49 m x
10 m. Im April 1994 wurde das Grundstück dem Beigeladenen im
Zwangsversteigerungsverfahren zugeschlagen.
5
Mit Bauantrag vom 5. Oktober 1999 begehrte der Beigeladene die Genehmigung zur
"Errichtung eines Dachstuhls auf bestehendem Stallgebäude" und erläuterte, dass er
den Stall seiner ursprünglichen Nutzung zuführen wolle. Das bestehende Dach sei
baufällig und solle durch ein Satteldach mit einer Neigung von 26 Grad ersetzt werden.
6
Die Beklagte genehmigte am 25. November 1999 die Errichtung eines Dachstuhls auf
dem Stallgebäude und erteilte unter demselben Datum für das Bauvorhaben eine
Befreiung von der Festsetzung "Fläche für die Landwirtschaft" des Bebauungsplans.
Den mittlerweile überholten Bauzeichnungen lässt sich entnehmen, dass das Gebäude
über ein Grundmaß von 11,80 m x 16,91 m einschließlich eines überdachten
Putzplatzes verfügen sollte; der Dachstuhl sollte auf neun Eckpfeilern errichtet werden.
7
Unter dem 1. September 2001 wandten sich Nachbarn der Kläger, die Anwohner der I.---
- ------straße 53 bis 59, an die Beklagte und beschwerten sich über die Bautätigkeit auf
dem Grundstück des Beigeladenen. Um die Stallung werde eine starke Mauer errichtet,
die höher als das bisherige Mauerwerk sei.
8
Anlässlich einer Ortsbesichtigung am 3. September 2001 stellte ein Mitarbeiter der
Beklagten fest, dass das errichtete Mauerwerk nicht der Baugenehmigung vom 25.
November 1999 entspreche. Mit Ordnungsverfügung vom 5. September 2001 bestätigte
die Beklagte die am 3. September 2001 mündlich angeordnete Einstellung der
Bauarbeiten. Die Beklagte informierte die Anwohner der I.----------straße 53 bis 59 mit
Schreiben vom 5. September 2001 über die Stilllegung und führte aus, der Beigeladene
sei gebeten worden sei, geänderte Bauzeichnungen einzureichen, um die nachträgliche
Erteilung einer Baugenehmigung prüfen zu können. Der Beigeladene wandte sich unter
dem 10. September 2001 gegen die Stilllegung und erläuterte, statt der genehmigten
Eckpfeiler habe der Statiker eine Vorsatzmauerschale für erforderlich gehalten, um das
9
Dach zu tragen; Nachtragsunterlagen werde er nachreichen.
Die Beklagte erteilte dem Beigeladenen mit Bescheid vom 20. November 2002 eine
Nachtragsbaugenehmigung für die Errichtung eines Dachstuhls auf dem Stallgebäude
mit dem Nachtrag "Änderung der Außenwände"; hierüber unterrichtete sie unter dem 11.
Dezember 2002 die Anwohner der I.----------straße 53 bis 59 unter Beifügung des
Lageplans und der Schnittzeichnung in Kopie. Nach dem amtlichen Lageplan verfügt
das zu errichtende Stallgebäude über ein Grundmaß von nunmehr 12,36 m x 17,47 m
einschließlich des überdachten Putzplatzes; der Dachstuhl soll auf die neue
Außenmauer aufgesetzt werden.
10
Der Kläger zu 2. wandte sich am 4. März 2003 telefonisch an die Beklagte. Ausweislich
des von der Mitarbeitern der Beklagten, Frau N. -I2. , verfassten Gesprächsvermerks
habe der Kläger zu 2. mitgeteilt, dass auf dem Grundstück des Beigeladenen ein Gerüst
aufgestellt worden sei. Ihm liege die genehmigte Schnittzeichnung vor, die den
Nachbarn in der I.----------straße 53 übersandt worden sei. Er habe um Übersendung des
Schreibens der Beklagten an die Nachbarschaft vom 11. Dezember 2002 gebeten.
11
Nachdem es in der Zwischenzeit zu einem Gespräch zwischen der Klägerin zu 1. und
dem Beigeladenen über das Bauvorhaben gekommen war, baten der Kläger zu 2. sowie
die Anwohner der I.----------straße 53 bis 59 die Beklagte in einem gemeinsamen
Schreiben vom 24. August 2003 um Informationen über das Bauvorhaben, da
gegebenenfalls Widerspruch eingelegt werden solle. Die Beklagte erwiderte unter dem
11. September 2003, dass Zweifel an der Zulässigkeit eines Nachbarwiderspruchs
bestünden, weil die Nachbarn ihre Rechte verwirkt haben dürften.
12
Unter dem Briefkopf "P. und F. K. " legte die Klägerin zu 1. mit Schreiben vom 21.
September 2003 mit Bezug auch auf die existierenden Schreiben anderer Anlieger
sowie fernmündliche Unterredungen Widerspruch gegen die
Nachtragsbaugenehmigung ein und führe zur Begründung aus, bereits die Nachbarn in
der I.----------straße 53 bis 59 hätten frühzeitig und mehrfach schriftlich, persönlich und
fernmündlich Beschwerden bei der Beklagten erhoben. Ihre Grundstücke hätten vor
1977 mit dem Grundstück des Beigeladenen ein einziges Grundstück gebildet. Dort
habe sich das Wohnhaus des Beigeladenen sowie ein Stallgebäude befunden, welches
bereits damals nicht mehr genutzt worden sei. Die Abtrennung der Grundstücke und die
Errichtung der drei Doppelhäuser sei 1977/1978 erfolgt. Im Jahr 2001 seien um das
Stallgebäude herum Aushubarbeiten durchgeführt und eine Mauer errichtet worden.
Fragwürdig bleibe, weshalb das Bauordnungsamt trotz erheblicher Bedenken eine
Nachtragsbaugenehmigung erteilt habe. Das nunmehr errichtete wohnhausähnliche
Gebäude weise einen doppelt so großen umbauten Raum wie das ursprüngliche
Stallgebäude auf. Zudem sei das Gebäude seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr
zur Unterbringung von Pferden genutzt worden.
13
Der Beigeladene wandte sich am 21. September 2005 an die Bezirksregierung L. und
führte aus, den Klägern - und allen anderen Nachbarn - sei sein Bauvorhaben von
Anfang an bekannt gewesen. Erst nach Errichtung des Dachstuhls und der Maurer- und
Putzarbeiten, als das Bauvorhaben nahezu fertig gestellt gewesen sei, habe man
Widerspruch eingelegt und wahrheitswidrig behauptet, erst im Sommer das Ausmaß
des Bauvorhabens erkannt zu haben. Dabei sei der Ringbalken um das Gebäude
bereits Ende Februar/Anfang März 2003 fertig gestellt gewesen, und im März 2003 sei
auch der Dachstuhl errichtet worden. Die Kläger hätten gegen den Grundsatz von Treu
14
und Glauben verstoßen, indem sie mit ihrem Widerspruch länger als notwendig
zugewartet hätten. Schließlich sei der Widerspruch auch unbegründet. Der Pferdemist
solle nördlich des Stalls abgelagert und regelmäßig abgefahren werden, eine
Beeinträchtigung des südwestlich gelegenen Grundstücks der Widerspruchsführer sei
ausgeschlossen. Möglichst ganzjährig würden die Pferde tagsüber auf einer
gepachteten Weide untergebracht. Obwohl derzeit nur die Haltung von maximal drei
Pferden ins Auge gefasst sei, stünde auch die Haltung von sechs Pferden mit der
Baugenehmigung für den auf diese Zahl ausgelegten Stall in Einklang. Das Gebot der
Rücksichtnahme sei nicht verletzt; im Umkreis von 1 km befänden sich allein drei
größere Reitställe.
Die Klägerin zu 1. widersprach gegenüber der Bezirksregierung L. mit Schreiben vom
22. Dezember 2005 - unter Beifügung schriftlicher Stellungnahmen ihrer Nachbarn - den
Einwänden des Beigeladenen. Auch wenn die Beklagte die Nachbarschaft mit
Schreiben vom 11. Dezember 2002 über die Nachtragsbaugenehmigung informiert
habe, habe sie davon erst im März 2003 erfahren. Selbst wenn man jedoch im
Dezember 2002 von der Beklagten informiert worden wäre, wäre die Jahresfrist für die
Einlegung des Widerspruchs im September 2003 noch nicht abgelaufen gewesen. Die
tatsächlichen Bauabsichten des Beigeladenen seien zudem nicht erkennbar gewesen.
Eine Nutzung des Stalls sei rücksichtslos.
15
Nach Einholung einer Stellungnahme des Staatlichen Umweltamtes L. vom 6. Februar
2006 wies die Bezirksregierung L. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.
September 2006 zurück. Auch wenn die Widerspruchsbegründung erkennen lasse,
dass den Klägern das Bauvorhaben seit dem Sommer 2001 bekannt gewesen sei,
könne dahinstehen, ob die nachbarlichen Abwehrrechte verwirkt seien, da der
Widerspruch in der Sache unbegründet sei. Das hier allein zu berücksichtigende Gebot
der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Aus Sicht des Immissionsschutzes bestünden
keine Bedenken gegen die beabsichtigte Hobbypferdehaltung, soweit Maßnahmen zur
Minimierung der Geruchsimmissionen getroffen würden.
16
Die Klägerin zu 1. und der ursprüngliche Kläger zu 2., ihr zwischenzeitlich verstorbener
Ehemann, haben am 18. Oktober 2006 Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt,
sie hätten ihr Abwehrrecht nicht verwirkt. Der Beigeladene habe nicht darauf vertraut,
dass sie gegen dessen Vorhaben nicht vorgehen würden, sondern sei vielmehr
unabhängig von möglichen Nachbarwidersprüchen seiner Bautätigkeit nachgegangen.
Die angefochtene Baugenehmigung sei rechtswidrig, weil sie gegen die Festsetzungen
des Bebauungsplans verstoße. Auf Bestandsschutz könne sich der Beigeladene nicht
berufen, weil die Nutzung des Gebäudes als Pferdestall seit Jahrzehnten aufgegeben
worden sei und erhebliche Eingriffe in die Bausubstanz erfolgt seien. Die
Baugenehmigung verletzte zudem ihre Nachbarrechte, da der Pferdestall ihnen
gegenüber rücksichtslos sei. Die Baugenehmigung sei hinsichtlich
nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt, da sie weder für Geruchs- noch für
Geräuschimmissionen durch die Tierhaltung eine vom Staatlichen Umweltamt
geforderte Begrenzung enthalte. Dabei hätte man sich an der genehmigten
Unterbringung von sechs Pferden orientieren müssen.
17
Die Kläger haben beantragt,
18
die Baugenehmigung der Beklagten vom 25. November 1999 in der Fassung der
Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 und den Widerspruchsbescheid
19
der Bezirksregierung L. vom 28. September 2006 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21
Sie hat darauf verwiesen, dass die Kläger ihr Widerspruchs- bzw. Klagerecht verwirkt
hätten. Die rege Bautätigkeit auf dem Grundstück des Beigeladenen, die die Nachbarn
der Kläger unter dem 1. September 2001 mitgeteilt hätten, hätte auch für die Kläger
ersichtlich sein müssen. Darüber hinaus hätten die Kläger im März 2003 Kenntnis von
der Nachtragsbaugenehmigung gehabt, gleichwohl aber treuwidrig bis September 2003
gewartet, bevor Widerspruch eingelegt wurde. Zu diesem Zeitpunkt habe der
Beigeladene nicht mehr mit Nachbarwidersprüchen rechnen müssen, da er bereits seit
2001 Bautätigkeiten auf seinem Grundstück vorgenommen habe, die für die Nachbarn
unmittelbar ersichtlich gewesen seien. Darüber hinaus sei die Klage unbegründet.
22
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, aber erläutert, auf seinem Grundstück habe
es mindestens bis in die 1980er Jahre hinein Pferdehaltung gegeben. Das
Bauvorhaben sei bei einer Befreiung bauplanungsrechtlich zulässig. Das Gebot der
Rücksichtnahme sei nicht verletzt, schließlich gingen von Pferden bei einer
Hobbytierhaltung keine anderen Immissionen als im Zuge eines landwirtschaftlichen
Betriebes aus. Die näher am Pferdestall wohnenden Nachbarn hätten wegen
offensichtlicher Verfristung ihrer Rechte die Kläger vorgeschoben; auch hierin zeige sich
die Treuwidrigkeit des klägerischen Vorgehens. Die Kläger und alle anderen Nachbarn
hätten bereits im September 2001 von dem Vorhaben Kenntnis gehabt.
23
Das Verwaltungsgericht L. hat die Klage mit Urteil vom 26. Juni 2007 abgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger hätten ihre materiellen
Abwehrrechte verwirkt. Die Absicht des Beigeladenen, das Stallgebäude baulich zu
verändern, sei den Klägern seit September 2001 bekannt gewesen. Seit März 2003
hätten die Kläger von der Nachtragsbaugenehmigung und der wieder aufgenommen
Bautätigkeit gewusst. Wenn die Kläger angesichts der Bezeichnung "Pferdestall
(Umbau)" auf der Schnittzeichnung über die zukünftige Nutzung im Unklaren gewesen
seien, hätten sie sich bei der Beklagten informieren müssen, statt bis September 2003
mit ihrem Widerspruch abzuwarten. Das Zuwarten der Kläger sei auch geeignet
gewesen, bei dem Beigeladenen einen Vertrauenstatbestand zu schaffen. Nachdem
auch im Sommer 2003 keine Rechtsmittel eingelegt worden seien, habe der
Beigeladene weitere Investitionen in der berechtigten Erwartung unterbleibender
Einwendungen tätigen können. Auch wenn die Kläger ihren Unmut über das
Bauvorhaben zum Ausdruck gebracht hätten, lasse sich der Bauakte nicht entnehmen,
dass sie sich durch das Bauvorhaben in eigenen Rechten verletzt gesehen hätten.
24
Auf den Antrag der Kläger hat der Senat mit Beschluss vom 4. Juni 2008 die Berufung
zugelassen. Die Kläger haben rechtzeitig einen Berufungsantrag gestellt und diesen
begründet. Sie führen aus, dass ihre materiellen Abwehrrechte nicht verwirkt seien.
Unter dem 4. März 2003 hätte der Kläger zu 2. im Auftrag seiner Eltern, der Klägerin zu
1. sowie des ursprünglichen Klägers zu 2., fernmündlich gegenüber der Beklagten
gegen die Nachtragsbaugenehmigung protestiert. Zudem hätte die Klägerin zu 1. in
einem Gespräch im April 2003 unmittelbar gegenüber dem Beigeladenen klargestellt,
dass sie sich gegen das Vorhaben wenden würden. Auch habe der Beigeladene nicht
darauf vertraut, dass sie, die Kläger, keine Abwehrrechte ergreifen. Das
25
Verwaltungsgericht unterstelle insoweit zu Unrecht, der Beigeladene habe im Sommer
2003 im Vertrauen hierauf Investitionen vorgenommen. Die angefochtene
Baugenehmigung sei rechtswidrig, weil sie gegen die Festsetzungen des
Bebauungsplans verstoße. Auch wenn das klägerische Grundstück an den als Fläche
für die Landwirtschaft ausgewiesenen Bereich angrenze, könne man im Hinblick auf
ihre immissionsbedingte Schutzbedürftigkeit nicht den Maßstab eines Dorfgebietes
ansetzen. Vielmehr sei ein Zwischenwert zu bilden, der die Schutzbedürftigkeit eines
reinen Wohngebiets auf die eines allgemeinen Wohngebietes anhebe. Die
Baugenehmigung treffe hierzu keine Aussagen und sei daher hinsichtlich
nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt. Ausweislich der Baugenehmigung sei
das Stallgebäude für die Unterbringung von sechs Pferden ausgelegt, so dass auch das
Emissionsverhalten von sechs Pferden hätte berücksichtigt werden müssen. Auf
Bestandsschutz könne sich der Beigeladene nicht berufen. Seit über 30 Jahren würden
in dem Stall keine Pferde mehr gehalten, zudem sei die bauliche Substanz des
Gebäudes verändert worden. Auch habe der ursprüngliche Stall nur vier Pferdeboxen
enthalten. Unter Berücksichtigung der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung sei das
Gebot der Rücksichtnahme verletzt.
Die Kläger beantragen,
26
das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem Schlussantrag I. Instanz zu erkennen.
27
Die Beklagte beantragt,
28
die Berufung zurückzuweisen.
29
Zu Recht habe das Verwaltungsgericht die Klage unter dem Gesichtspunkt der
Verwirkung abgewiesen. Spätestens nach dem Telefonat mit dem Bauordnungsamt am
4. März 2003 hätten die Kläger positive Kenntnis über den Umfang der Bauarbeiten und
den Nutzungszweck gehabt. Darüber hinaus sei die Baugenehmigung vom 25.
November 1999 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November
2002 auch rechtmäßig und verletze die Kläger nicht in ihren Rechten.
30
Der Beigeladene beantragt,
31
die Berufung zurückzuweisen.
32
Er verweist ebenfalls darauf, dass die Kläger ihre Rechte verwirkt hätten. Wie allen
anderen Nachbarn der Doppelhausreihe sei ihnen das Bauvorhaben spätestens seit
September 2001 bekannt gewesen. Weitere Arbeiten und damit Investitionen seien erst
im Sommer 2003 veranlasst worden. Zudem könne er sich auf Bestandsschutz berufen;
das Gebäude sei in seiner Substanz und seinen Ausmaßen unverändert geblieben. Die
ursprüngliche Nutzung habe allenfalls 10 bis 15 Jahre zurückgelegen.
33
Der Senat hat die Mitarbeiterin der Beklagten, Frau N. -I2. , in der mündlichen
Verhandlung als Zeugin zum Inhalt und Gegenstand des Vermerks vom 4. März 2003
vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das
Sitzungsprotokoll verwiesen.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
35
Entscheidungsgründe:
36
Die zulässige Berufung ist begründet.
37
Die Klage ist zulässig.
38
Das nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der
Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 erforderliche Vorverfahren ist
ordnungsgemäß durchgeführt worden. Insbesondere haben die Kläger formgerecht
Widerspruch eingelegt. § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO sieht vor, dass der Widerspruch
schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde zu erheben ist.
39
In dem Telefonat des Klägers zu 2. mit der Beklagten am 4. März 2003 ist mangels
Einhaltung der Formvorschrift keine Widerspruchseinlegung zu sehen. Die zum Inhalt
des über das Telefongespräch vom 4. März 2003 gefertigten Vermerks vernommene
Zeugin N. -I2. hat zudem glaubhaft bekundet, sie könne ausschließen, dass der Kläger
zu 2. von einem Widerspruch geredet habe, weil sie ihn ansonsten auf die Schriftform
hingewiesen hätte.
40
Die Kläger haben aber mit Fax vom 21. September 2003 formgerecht Widerspruch
eingelegt. Die Schriftform des Widerspruchs erfordert grundsätzlich die eigenhändige
Unterschrift des Widerspruchsführers bzw. seines Verfahrens- oder
Prozessbevollmächtigten.
41
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2003 - 1 B 92.02 -, NJW 2003, 1544.
42
Die Unterschrift ist das im Rechtsverkehr typische Merkmal, um den Urheber eines
Schriftstücks und dessen Willen festzustellen, die niedergeschriebene Erklärung als
rechtserheblich in den Verkehr zu bringen. Damit stellt die Unterschrift sicher, dass eine
gewollte Erklärung einer Person vorhanden ist, die für den Inhalt der Erklärung die
Verantwortung übernimmt.
43
Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die Klägerin zu 1. - zugleich als
Bevollmächtigte ihres inzwischen verstorbenen Ehemannes - das mit "K1. "
unterschriebene Widerspruchsschreiben vom 21. September 2003 unterzeichnet hat.
Die Klägerin zu 1. hat durch Vorlage ihres Personalausweises in der mündlichen
Verhandlung belegt, dass der Familienname "K1. " ist, und nachvollziehbar dargelegt,
dass der Briefkopf auf "K. " laute, weil sie und ihr inzwischen verstorbener Ehemann
rege Korrespondenz mit dem englischsprachigen Ausland führten.
44
Die Klägerin zu 1. konnte auch im Namen ihres inzwischen verstorbenen Ehemannes
Widerspruch einlegen. Zwar war der ursprüngliche Kläger zu 2. nach dem insoweit
unbestrittenen Vortrag seines Sohnes, dem nunmehrigen Kläger zu 2., bereits zum
Zeitpunkt der Widerspruchseinlegung nicht mehr geschäftsfähig, so dass er selbst seine
Ehefrau im September 2003 nicht wirksam bevollmächtigen konnte, in seinem Namen
Widerspruch einzulegen. Der damit zunächst unwirksame Widerspruch des
ursprünglichen Klägers zu 2. ist jedoch durch die nachträgliche Genehmigung der
Widerspruchseinlegung in der mündlichen Verhandlung durch die Erben des
ursprünglichen Klägers zu 2. geheilt worden.
45
Die Möglichkeit der Genehmigung fehlerhafter Prozesshandlungen ist weder auf
bestimmte Verfahrenshandlungen beschränkt noch bei fristgebundenen Handlungen
ausgeschlossen. Das bedeutet, dass auch im Falle einer fristgebundenen Klage oder
eines fristgebundenen Rechtsmittels die zunächst unwirksame Handlung später und
auch nach Fristablauf rückwirkend geheilt werden kann. Die Genehmigung kann
stillschweigend durch die Fortsetzung des Prozesses nach Wegfall des Mangels
erfolgen. Diese Grundsätze beanspruchen auch im Bereich des Verwaltungsverfahrens
Geltung. Auch noch nach Ablauf der Widerspruchsfrist kann daher ein zunächst
unwirksamer Widerspruch durch eine Genehmigung während des dem
Widerspruchsverfahren folgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens rückwirkend
geheilt werden.
46
Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 1978 - II C 5.74 -, ZBR 1978, 376.
47
Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die
Widerspruchseinlegung durch die Klägerin zu 1. im Namen und in Vertretung der Erben
des ursprünglichen Klägers zu 2. genehmigt.
48
Der von den Klägern eingelegte Widerspruch und die erhobene Klage sind auch nicht
wegen formeller Verwirkung unzulässig.
49
Verwirkung als ein im Grundsatz von Treu und Glauben wurzelnder Vorgang der
Rechtsvernichtung bedeutet, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn
seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere
Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und
Glauben erscheinen lassen.
50
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 -, BRS 52 Nr. 218; OVG NRW,
Beschluss vom 14. Februar 2007 - 7 A 205/07 - und Urteil vom 2. März 1999 - 10 A
2343/97 -, BRS 62 Nr. 194.
51
Für die Bemessung des zur Verfügung stehenden Zeitraums lassen sich allgemein
geltende Kriterien nicht angeben. Diese hängen vielmehr von den jeweiligen
Umständen des Einzelfalls ab. In einem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, wie
hier, erfordern Treu und Glauben besondere gegenseitige Rücksichtnahme.
52
Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 25. November 1999 in der Fassung
der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 ist der Klägerin zu 1. und
ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann nicht förmlich bekannt gegeben worden. Eine
Rechtsmittelfrist wurde ihnen gegenüber damit nicht in Gang gesetzt. Gleichwohl stellt
sich die Frage nach der im konkreten Fall geltenden Widerspruchsfrist. Derjenige
Nachbar, der - anders als durch amtliche Bekanntmachung - von einer dem Bauherrn
erteilten Baugenehmigung zuverlässig Kenntnis erlangt hat, muss sich in Anwendung
des im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis geltenden Grundsatzes von Treu und
Glauben hinsichtlich der Widerspruchseinlegung regelmäßig so behandeln lassen, als
sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der Kenntniserlangung amtlich bekannt
gemacht worden. Entsprechendes gilt auch dann, wenn der Nachbar von der
Baugenehmigung zuverlässig Kenntnis hätte haben müssen, weil sich ihm ihr Vorliegen
aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich beispielsweise durch
Nachfrage beim Bauherrn oder bei der Bauaufsichtsbehörde darüber Gewissheit zu
verschaffen.
53
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 3. August 2000 - 7 A 1941/99 -, m.w.N..
54
In den besagten Fällen beginnt mit der Kenntniserlangung beziehungsweise mit dem
Kennenmüssen die Widerspruchsfrist, die in Anwendung der §§ 58 Abs. 2 Satz 1 und 70
Abs. 1 und 2 VwGO regelmäßig ein Jahr beträgt.
55
Bei Einlegung des Widerspruchs am 21. September 2003 war eine prozessuale
Verwirkung noch nicht eingetreten. Ob die Klägerin zu 1. erst zum Zeitpunkt des
Telefonats des Klägers zu 2. mit der Beklagten im März 2003 oder bereits zum Zeitpunkt
der Bekanntgabe der Nachtragsbaugenehmigung an die Nachbarn im Dezember 2002
von der Baugenehmigung Kenntnis erlangt hat, kann offen bleiben. Auch wenn man
Letzteres annimmt, liegt die Einlegung des Widerspruchs im September 2003 innerhalb
der in entsprechender Anwendung des § 58 Abs. 2 VwGO hier geltenden Jahresfrist.
56
Vgl. zur formellen Verwirkung auch BVerwG, Beschluss vom 18. Januar 1988 - 4 B
257.87 -, BRS 48 Nr. 180, und Urteil vom 10. August 2000 - 4 A 11.99 -, BRS 63 Nr. 202;
OVG NRW, Urteile vom 16. November 2001 - 7 A 3784/00 -, BRS 64 Nr. 25.
57
Die Klage ist auch begründet.
58
Die Kläger haben ihre materiellen Abwehrrechte nicht verwirkt. Die von ihnen
angegangene Baugenehmigung verletzt Rechtsvorschriften, die zumindest auch den
Schutz der Kläger betreffen.
59
Nach den oben dargestellten Grundsätzen zur Geltung von Treu und Glauben im
nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis können auch materielle Abwehrrechte eines
Nachbarn verwirken. Um dem zu entgegnen, ist vom Nachbarn zu verlangen, durch
zumutbares aktives Handeln dazu beizutragen, wirtschaftlichen Schaden vom Bauherrn
abzuwenden oder möglichst gering zu halten. Grundsätzlich gehört dazu, dass der
Nachbar nach Erkennen einer Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen seine
nachbarlichen Einwendungen "ungesäumt" geltend macht.
60
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 -, a.a.O., und Beschluss vom 18. März
1988 - 4 B 50/88 -, BRS 48 Nr. 179.
61
Der Mindestzeitraum für die Annahme der Verwirkung eines Nachbarrechts muss sich
aber erkennbar von denjenigen Fristen abheben, die das geltende Recht dem
Berechtigten im Regelfall für die Verfolgung seines materiellen Rechts in der dafür
jeweils vorgesehenen verfahrensrechtlichen Form einräumt. Eine Verwirkung des
materiellen Abwehrrechts kommt daher grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn der
Berechtigte deutlich länger als einen Monat untätig geblieben ist.
62
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. April 1992 - 7 A 1521/90 -, BRS 54 Nr. 201.
63
Die Verwirkung eines Rechts setzt außer der Untätigkeit des Nachbarn während eines
längeren Zeitraums ferner voraus, dass der Bauherr infolge der Untätigkeit darauf
vertrauen durfte, dass der Nachbar das ihm eigentlich zustehende Abwehrrecht nicht
mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Bauherr hierauf auch
tatsächlich vertraut hat (Vertrauenstatbestand) und er sich infolgedessen in seinen
Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete
64
Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteile vom 3.
August 2000 - 7 A 1941/99 - und vom 29. August 2005 - 10 A 3138/02 -, ÖffBauR 2005,
143, sowie Beschluss vom 10. Juni 2005 - 10 A 3664/03 -.
65
Ist der Bauherr aber nicht durch die über längere Zeit andauernde Untätigkeit des
Nachbarn und im Hinblick auf ein Vertrauen auf dessen Einverständnis zu seinen
Baumaßnahmen veranlasst worden, sondern hat er unabhängig davon eine ihm erteilte
Genehmigung von sich aus sofort in vollem Umfang ausgenutzt und weitgehende, mit
erheblichem Kapitaleinsatz verbundene Schritte unternommen, so kann auch eine
längere Untätigkeit des Nachbarn, die solchen Dispositionen des Bauherrn nachfolgt,
nicht mehr zur Verwirkung der nachbarlichen Abwehrrechte führen. Für das Merkmal der
Treuwidrigkeit, das für den Rechtsverlust durch Verwirkung konstitutiv ist, fehlt es
sodann an der neben dem Zeitablauf erforderlichen kausalen Verknüpfung des
Verhaltens des Berechtigten mit bestimmten Maßnahmen des Verpflichteten und deren
Folgen.
66
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 9. April
1992 - 7 A 1521/90 -, a.a.O..
67
Der Rechtsgedanke der Verwirkung schützt das in das Verhalten des anderen gesetzte
Vertrauen. Wo die letztlich schadensverursachende Maßnahme, hier die Bauarbeiten,
nicht auf einem solchen Vertrauen beruht, sondern unabhängig von einem eventuellen
Vertrauen vorgenommen ist, kann insoweit keine Verwirkung eintreten.
68
Nach Maßgabe dieser Grundsätze lässt sich nicht feststellen, dass die Kläger ihr
Abwehrrecht verwirkt haben. Es ist nicht ersichtlich, dass der Beigeladene tatsächlich
auf eine Untätigkeit der Kläger vertraut hat.
69
Es kann offen bleiben, ob den Klägern bereits im Laufe des Jahres 2001 bekannt war,
dass der Beigeladene auf seinem Grundstück ein Bauvorhaben verwirklicht. Dieses auf
der Grundlage der Baugenehmigung vom 25. November 1999 angegangene
Bauvorhaben ist nicht Streitgegenstand und für die Frage einer möglichen Verwirkung
nicht relevant. Darüber hinaus führte die Bautätigkeit des Beigeladenen im Jahre 2001
zur Stilllegung. Selbst wenn den Klägern das Informationsschreiben der Beklagten an
die Nachbarn über die Stilllegung vom 5. September 2001 bekannt gewesen sein sollte,
hätte sich diesem Schreiben allein entnehmen lassen, dass eine bauaufsichtliche
Prüfung erfolge, ob das geänderte Bauvorhaben des Beigeladenen genehmigungsfähig
sei. Etwas anderes ergab sich auch nicht aus der tatsächlichen Lage vor Ort; auf dem
Grundstück des Beigeladenen fand in der Zeit von September 2001 bis März 2003 keine
Bautätigkeit statt.
70
Maßgeblich ist daher allein, ob die Kläger ein Abwehrrecht gegen die Baugenehmigung
vom 25. November 1999 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20.
November 2002 verwirkt haben. Diese Genehmigung ist der Sache nach eine
eigenständige Baugenehmigung. Auf ihrer Grundlage kann ein von dem mit der
Baugenehmigung vom 25. November 1999 genehmigten Vorhaben in Grundfläche und
Gestaltung der Außenwände erheblich abweichendes Gebäude errichtet werden. Der
Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung auch bestätigt, dass Grundlage seines
Bauvorhabens allein die Baugenehmigung vom 25. November 1999 in der Fassung der
71
Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 sein soll.
Der Verwirkung eines Abwehrrechts gegen die Baugenehmigung vom 25. November
1999 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 steht
entgegen, dass die Kläger - in Person des Klägers zu 2. - in einem Telefonat mit der
Beklagten zum Ausdruck gebracht haben, dass sie das Bauvorhaben nicht hinnehmen
werden, und in Folge dessen sich der Beigeladene, weil er Kenntnis von dem anlässlich
des Telefonats verfassten Vermerks hatte, auf keinen Vertrauenstatbestand berufen
kann.
72
Die Kläger haben auf die Einrüstung des Stallgebäudes und die Wiederaufnahme der
Bautätigkeit auf dem Grundstück des Beigeladenen Anfang März 2003 unmittelbar
durch das Telefonat mit der Beklagten am 4. März 2003 reagiert und um weitere
Informationen gebeten. Die Zeugin N. -I2. hat glaubhaft bekundet, dass der Vermerk
vom 4. März 2003 den wesentlichen Inhalt des Gesprächs wiedergibt. Der Beigeladene
hatte durch die Akteneinsicht am 16. Juni 2003 Kenntnis von diesem Gesprächsvermerk
und wusste damit, dass die Kläger sein Bauvorhaben nicht ohne weiteres akzeptieren
würden, sondern weiteren Informationsbedarf sahen. Sonst hätten sie die Beklagte nicht
um die Übersendung von Unterlagen gebeten. Investitionen im Vertrauen auf eine
Untätigkeit der Kläger konnte der Beigeladene damit ab dem 16. Juni 2003 nicht
vornehmen; eine Bautätigkeit ab diesem Zeitpunkt - nach dem Vortrag des
Beigeladenen wurde u.a. die Balkenlage für den Stall im September 2003 bestellt -
geschah daher auf eigenes Risiko.
73
Ob der Beigeladene darüber hinaus auch durch ein persönliches Gespräch mit der
Klägerin zu 1. im Sommer 2003 von der ablehnenden Haltung der Kläger wusste, kann
daher offen bleiben. Der Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung zunächst
angegeben, das Gespräch habe Mitte bis Ende Juni 2003 stattgefunden, weil er zuvor
Akteneinsicht habe nehmen lassen. Die Klägerin zu 1. war sich unsicher, ob das
Gespräch im März, April oder im Juni 2003 stattgefunden hat. Auf erneutes Nachfrage
hat der Beigeladene dann eingeräumt, das Gespräch könne auch im Jahre 2004
stattgefunden haben.
74
Die in der Zeit zwischen März 2003 und Juni 2003 durchgeführten Baumaßnahmen - im
Wesentlichen waren die Bauarbeiten am 8. Mai 2003 abgeschlossen, lediglich der
Außenputz könnte nach den insoweit widersprüchlichen Angaben des Beigeladenen
nach diesem Zeitpunkt aufgetragen worden sein - fanden in einem Zeitraum statt, in dem
der Beigeladene tatsächlich nicht auf eine Untätigkeit der Kläger vertraut hat. Bereits im
März 2003 hatte der Beigeladene Ringbalken und Dachstuhl errichten lassen, obwohl er
erst Anfang März 2003 mit den Bauarbeiten begonnen hatte. Selbst wenn man
zugunsten des Beigeladenen unterstellt, dass die Nachbarn Q. den Klägern die ihnen
von der Beklagten übersandten Unterlagen im Dezember 2002 zur Verfügung gestellt
hatten, bestand für den Beigeladenen zum Zeitpunkt der Bauaufnahme Anfang März
2003 kein Anlass, von einer Untätigkeit der Kläger auszugehen, und nach seinem
eigenen Vortrag hat er hierauf zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich nicht vertraut. Ihm
war nach seinem eigenen Vortrag (Schriftsatz vom 22. August 2008) durch ein Gespräch
Anfang März 2003 mit dem Nachbarn I3. bekannt, dass alle Nachbarn in der
Häuserzeile - und damit auch die Kläger - gegen das Bauvorhaben waren. Weitere
Investitionen in das Vorhaben hat er nach seinem eigenen Vortrag aber frühestens im
Sommer 2003 getätigt.
75
Auf die Frage, ob der Verwirkungszeitraum, der - wie oben ausgeführt - deutlich länger
als einen Monat anzusetzen ist, im Dezember 2002 oder im März 2003 begonnen hat,
kommt es daher nicht an.
76
Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 25. November 1999 in der Fassung
der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 verletzt nachbarschützende
bauplanungsrechtliche Vorschriften.
77
Das Vorhaben des Beigeladenen ist bauplanungsrechtlich unzulässig.
78
Auf Bestandsschutz kann sich der Beigeladene nicht berufen. Formeller Bestandsschutz
kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil das durch Bauschein vom 24. Oktober
1968 genehmigte Vorhaben, ein winkelförmiger Pferdestall mit vier Boxen und einer
Breite von 7,49 m bzw. 5,99 m an den Winkelenden, in seinen äußeren Abmessungen
offenkundig von dem hier zur Genehmigung gestellten Vorhaben abweicht. Ausweislich
der geltenden Bauvorlagen verfügt das streitgegenständliche Bauvorhaben über eine
Breite von 12,36 m und eine Tiefe von 17,47 m.
79
Selbst wenn das abweichend von der Baugenehmigung von 1968 errichtete
Stallgebäude materiell genehmigungsfähig gewesen sein sollte, könnte es keinen
materiellen Bestandsschutz vermitteln, weil die auf der Baugenehmigung vom 25.
November 1999 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November
2002 beruhenden angedachten baulichen Maßnahmen zu einer erheblichen Änderung
des Gebäudes führen. Ein Erlöschen des Bestandsschutzes kommt nicht nur in
Betracht, wenn die genehmigte Nutzung aufgegeben wird. Bestandsschutz kann zudem
bei Eingriffen in die Bausubstanz erlöschen, wenn das betreffende Gebäude zerstört
oder so erheblich geändert wird, dass das geänderte Gebäude nicht mehr mit dem alten
bestandsgeschützten identisch ist.
80
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 1994 - 4 B 48.94 -, BRS 56 Nr. 85; OVG NRW,
Urteil vom 14. März 1997 - 7 A 5180/95 -.
81
Hier hat der Beigeladene mit dem Bau der Umfassungsmauer und der Errichtung eines
Satteldachs die Bausubstanz des Stallgebäudes erheblich geändert. Das Stallgebäude
hat durch die Neugestaltung des Dachstuhls seine äußere Erscheinungsform
gegenüber dem alten, mit einem Pultdach versehenen Gebäude verändert. Die
Gebäudehöhe beträgt 7,56 m statt 4,50 m. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben,
ob einer Berufung auf Bestandsschutz auch entgegensteht, dass das Stallgebäude über
einen Zeitraum von mindestens 18 Jahren nicht der Unterbringung von Pferden diente
und zeitweise als Lagerraum genutzt wurde. Denn eine ursprünglich baurechtlich
genehmigte Nutzung genießt Bestandsschutz nur, solange sie andauert oder - bei einer
Unterbrechung - solange nach der Verkehrsauffassung mit ihrer Wiederaufnahme zu
rechnen ist.
82
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 4 B 20.07 -, ZfBR 2007, 696; OVG NRW,
Urteil vom 20. September 2007 - 7 A 1434/06 -, ZfBR 2008, 188.
83
Die Kläger haben gegenüber dem Vorhaben des Beigeladenen zwar keinen
Gebietserhaltungs- bzw. -gewährleistungsanspruch wegen der Verletzung der
Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung. Der
Anspruch auf Erhaltung der Gebietsart besteht ausschließlich innerhalb desselben
84
Baugebiets. Grundstücke, für die innerhalb eines Bebauungsplans unterschiedliche
Nutzungsarten festgelegt sind, liegen nicht innerhalb eines Baugebiets, sondern in
unterschiedlichen Baugebieten.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. März 2006 - 7 A 3375/04 - m.w.N..
85
Das klägerische Grundstück und das Grundstück des Beigeladenen liegen nicht
innerhalb eines Gebiets. Baugebiete sind gemäß § 1 Abs. 2 BauNVO die für die
Bebauung vorgesehenen Flächen, die nach der Art der baulichen Nutzung dargestellt
werden. Das Grundstück der Kläger liegt in einem reinen Wohngebiet (§ 3 BauNVO).
Das Vorhaben des Beigeladenen liegt in dem im Bebauungsplan als Fläche für die
Landwirtschaft (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 18 a BauGB) festgesetzten Bereich.
86
Den Klägern steht jedoch ein nachbarlicher Abwehranspruch zu, weil sich das
Vorhaben ihnen gegenüber als rücksichtslos erweist. Das Rücksichtnahmegebot als
Grundlage für Abwehransprüche von Nachbarn ist kein generelles, von
Einzelvorschriften losgelöstes Gebot, sondern existiert nur insoweit, als es Ausdruck im
materiellen öffentlichen Recht gefunden hat.
87
Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. September 1983 - 4 C 34.78 -, BRS 40 Nr. 206.
88
Im vorliegenden Fall ist das Rücksichtnahmegebot nach Maßgabe des entsprechend
anzuwendenden § 31 Abs. 2 BauGB zu beachten. § 31 Abs. 2 BauGB dient gerade
auch dem Nachbarschutz, weil nach dieser Bestimmung die Erteilung einer Befreiung
von den Festsetzungen eines Bebauungsplans ausdrücklich auch unter Würdigung
nachbarlicher Interessen zu erfolgen hat.
89
Der Bebauungsplan Nr. 8324-1 setzt für den hier maßgeblichen Bereich eine Fläche für
die Landwirtschaft fest. Die Festsetzung der Fläche für die Landwirtschaft bedarf
angesichts der Begründung des Bebauungsplans der Auslegung. Die
Bebauungsplanbegründung nennt als Grund für diese Festsetzung, dass die Fläche
nicht für eine Bebauung vorgesehen sei. Das hieraus folgende allgemeine Bauverbot
lässt sich aus der Festsetzung von Flächen für die Landwirtschaft nach § 9 Abs. 1 Nr. 18
a) BauGB (bzw. nach der Vorgängervorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 18 BBauG i.d.F. der
Bekanntmachung vom 18. August 1976) jedoch nicht herleiten. Vielmehr bedarf es
hierfür eines Rückgriffs auf § 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB, der auch bei Flächen für die
Landwirtschaft dazu ermächtigt, diese von Bebauung freizuhalten.
90
Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. Februar 2003 - 4 BN 14.03 -, NuR 2004, 310, und
vom 17. Dezember 1998 - 4 NB 4.97 -, BRS 60 Nr. 20.
91
Der insoweit durch Auslegung zu ermittelnde planerische Wille der Gemeinde ergibt,
dass hier eine auf § 9 Abs. 1 Nr. 18 BBauG gestützte Festsetzung als eine solche nach
§ 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB (bzw. nach § 9 Abs. 1 Nr. 10 BBauG) zu verstehen ist. § 9
BauGB fordert nicht, dass im Bebauungsplan die jeweilige Nummer von § 9 Abs. 1
BauGB bezeichnet wird, auf die sich einzelne Festsetzungen stützen. Das mit der
Festsetzung der Fläche für die Landwirtschaft erklärte Ziel der Stadt C. war es
ausweislich der Begründung, den Bereich nicht für eine Bebauung vorzusehen. Die
bereits bestehende Bebauung, zu der auch das Wohngebäude des Beigeladenen und
das damalige Stallgebäude gehörte, wurde in Kenntnis ihrer Existenz überplant; die
weitere Bebauung sollte planungsrechtlich geordnet und auf die vorhandene Bebauung
92
abgestimmt werden. Hieraus wird deutlich, dass keine landwirtschaftliche Nutzung
ermöglicht werden sollte, sondern mit Blick auf zukünftige Wohnbebauung planerische
Abgrenzungsmaßnahmen umgesetzt werden sollten.
Auch wenn man davon ausgeht, dass die Festsetzung der Fläche für die Landwirtschaft
mit einem § 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB (§ 9 Abs. 1 Nr. 10 BBauG) entsprechenden
Regelungsgehalt nicht Gegenstand der planerischen Abwägung war und deshalb ein
erheblicher Abwägungsmangel im Sinne von § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB vorliegen
könnte, führt dies nicht zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans. Nach Maßgabe des §
233 Abs. 2 Satz 3 BauGB sind für vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung in Kraft
getretene Bebauungspläne die vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung geltenden
Vorschriften über die Geltendmachung u.a. von Mängeln der Abwägung einschließlich
ihrer Fristen weiterhin anzuwenden. Für den am 3. Juni 1977 bekannt gemachten
Bebauungsplan Nr. 8324-1 kommt daher die Überleitungsvorschrift des § 244 Abs. 2
BauGB (i.d.F vom 8. Dezember 1986 - a.F.) zur Anwendung. Nach dieser Vorschrift sind
Mängel der Abwägung von Bebauungsplänen, die vor dem 1. Juli 1987 bekannt
gemacht worden sind, unbeachtlich, wenn sie nicht innerhalb von sieben Jahren nach
dem 1. Juli 1987 schriftlich gegenüber der Gemeinde geltend gemacht worden sind. Die
Unbeachtlichkeit von Abwägungsmängeln tritt dabei unabhängig davon ein, ob in der
Gemeinde ein Hinweis auf diese Änderung der Rechtslage erfolgt ist.
93
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Juni 1995 - 7 a D 48/93.NE -.
94
Die 7-Jahres-Frist ist am 30. Juni 1994 abgelaufen, so dass eine Mängelrüge nicht mehr
möglich ist.
95
Auch eine Funktionslosigkeit des Bebauungsplans lässt sich aus der Festsetzung des
Bauverbots nicht herleiten. Nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung
können Festsetzungen eines Bebauungsplans funktionslos werden und damit außer
Kraft treten. Jedoch ist für das Außerkrafttreten bauplanungsrechtlicher Festsetzungen
anerkannt, dass eine solche Funktionslosigkeit nur in äußerst seltenen Fällen in
Betracht kommt.
96
Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - 4 CN 3.97 -, BRS 60 Nr. 43; OVG NRW,
Urteil vom 2. Februar 2000 - 7a D 224/98.NE -, BRS 63 Nr. 88.
97
Eine bauplanerische Festsetzung tritt hiernach nur dann außer Kraft, wenn und soweit
die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung
einen Stand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare
Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre
Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient.
98
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2003 - 4 B 85.03 -, BRS 66 Nr. 52.
99
Nach diesen Maßstäben hat die Festsetzung ihren Zweck als Bauverbot erfüllt und
konnte zur städtebaulichen Ordnung des Plangebiets einen sinnvollen Beitrag leisten.
Aus den Luftbildern in den Verwaltungsvorgängen ergibt sich, dass die nicht für eine
Bebauung vorgesehenen Flächen jedenfalls zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der
Erteilung der Nachtragsbaugenehmigung im November 2002 auch nicht über den bei
Inkrafttreten des Bebauungsplans bereits bestehenden Baubestand hinaus überbaut
worden sind. Lediglich der zum Zeitpunkt der Bebauungsplanung bereits vorhandene
100
Bestand ist auf den Bildern erkennbar. Auch das von der Beklagten in der mündlichen
Verhandlung vorgelegte aktuelle Luftbild weist keinen darüber hinausgehenden
Baubestand in der hier maßgeblichen Fläche auf. Die gegenteilige Behauptung des
Klägers zu 2. wird durch die vorliegenden Unterlagen jedenfalls für die für die
Beurteilung des Senats maßgebende Sachlage widerlegt.
Die als eigenständige Baugenehmigung einzustufende Baugenehmigung vom 25.
November 1999 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November
2002 verstößt gegen die bauplanerische Festsetzung eines Bauverbots, in dem sie - wie
oben dargelegt - ein neues baulichen Vorhaben in dem Planbereich, der von Bebauung
freizuhalten ist, gestattet.
101
Der Festsetzung selbst kommt keine drittschützende Wirkung zu. Sie dient ausweislich
der Begründung des Bebauungsplans lediglich dazu, die weitere Bebauung
planungsrechtlich zu ordnen und auf die vorhandene Bebauung abzustimmen.
102
Zu Lasten der Kläger ist jedoch das in § 31 Abs. 2 BauGB verankerte
Rücksichtnahmegebot verletzt. Auch die Befreiung von einer nicht nachbarschützenden
Festsetzung kann dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, wenn die Behörde
bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die
gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat.
103
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 -, BRS 60 Nr. 183.
104
Dem Beigeladenen ist zwar eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans
Nr. 8324-1 über die nicht überbaubaren Grundstücksflächen nicht erteilt worden, so
dass eine unmittelbare Anwendung von § 31 Abs. 2 BauGB ausscheidet. Wie oben
ausgeführt, hätte es aber für die Erteilung der angefochtenen Baugenehmigung einer
Befreiung von der Festsetzung des Bauverbots bedurft, weil dieses der Zulässigkeit des
Bauvorhabens entgegensteht. In einem solchen Fall kann Nachbarschutz unter
entsprechender Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB gegeben sein. Der Gesetzgeber ist
davon ausgegangen, dass die Baugenehmigungsbehörden im Geltungsbereich von
Bebauungsplänen Baugenehmigungen nur dann erteilen, wenn die Voraussetzungen
des § 30 BauGB vorliegen. Er hat demgemäss offen gelassen, ob und in welchem
Umfang sich ein Dritter gegen eine unter Verstoß gegen die Festsetzungen eines
Bebauungsplans erteilte Baugenehmigung wehren kann. Diese Regelungslücke ist
entsprechend der Wertung des Gesetz- und Verordnungsgebers, wie sie in § 31 Abs. 2
BauGB ihren Ausdruck gefunden hat, zu schließen. Denn der Nachbarschutz darf nicht
deshalb leer laufen, weil die Baugenehmigungsbehörde von einer erforderlichen
Befreiung rechtswidrig absieht.
105
Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1989 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188.
106
Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung von nicht nachbarschützenden
Festsetzungen eines Bebauungsplans die Rechte des Nachbarn verletzt, ist nach den
Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden
Gebot der Rücksichtnahme entwickelt hat.
107
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 - , BRS 60 Nr. 183.
108
Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen stellt, hängt
109
wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Abzustellen ist darauf, was einerseits
dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen
nach Lage der Dinge zuzumuten ist.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1989 - 4 C 14.87 -, BRS 49 Nr. 188, und Beschluss
vom 6. Dezember 1996 - 4 B 215.96 -, BRS 58 Nr. 164; OVG NRW, Urteil vom 3. Mai
2007 - 7 A 2370/06 - und Beschluss vom 19. Mai 2005 - 7 B 17/05 -.
110
Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die
Rücksichtnahme im gebotenen Zusammenhang zugute kommt, umso mehr kann er
Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben
verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben
verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen.
111
Bei diesem Ansatz kommt es für eine sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls
wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem
Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten
nach Lage der Dinge zuzumuten ist.
112
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, BRS 55 Nr. 168.
113
Insoweit ist namentlich zu prüfen, ob als Folge der Pferdehaltung mit auf das Grundstück
der Kläger einwirkenden Immissionen zu rechnen ist, die das Maß des Zumutbaren
übersteigen und zu erheblichen Belästigungen führen. Ob Belästigungen im Sinne des
Immissionsschutzrechts erheblich sind, richtet sich nach der konkreten Schutzwürdigkeit
und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter, die sich ihrerseits nach der
bebauungsrechtlichen Prägung der Situation und nach den tatsächlichen oder
planerischen Vorbelastungen bestimmen.
114
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. September 2007 - 7 A 1434/06 -, a.a.O., m.w.N..
115
Bei der Bestimmung des den Klägern Zumutbaren ist daher mit in den Blick zu nehmen,
dass die bauplanerische Festsetzung eines Bauverbots auch für landwirtschaftliche
Gebäude Geltung beansprucht, so dass aus der Grenzlage des klägerischen
Grundstück an einer Fläche für die Landwirtschaft nicht gefolgert werden kann, die
Kläger hätten jederzeit mit der Errichtung von Gebäuden rechnen müssen, die der
Unterbringung von Tieren dienen. Zwar müssen in Bereichen, in denen Wohnnutzung
und landwirtschaftliche Nutzung zusammentreffen, die im Grenzbereich Wohnenden
von der landwirtschaftlichen Nutzung herrührende Immissionen in höherem Maße
hinnehmen, als dies außerhalb des Grenzbereichs verlangt werden könnte.
116
Vgl. zum Zusammentreffen von Innenbereich und Außenbereich BVerwG, Urteil vom 28.
Oktober 1993 - 4 C 5.93 -, a.a.O.; Bayerischer VGH, Urteil vom 30. März 2000 - 26 B
96.4101 -, juris.
117
Mit Blick auf das Bauverbot hätten die Kläger jedoch allenfalls mit einer Nutzung des
Grundstücks des Beigeladenen als Weide rechnen müssen, nicht aber mit der
konzentrierten Haltung von sechs Pferden an einem Standort mitsamt der damit
einhergehenden Problematik der Pferdemistbeseitigung.
118
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ist eine Verletzung des Gebots der
119
Rücksichtnahme gegeben, weil die streitgegenständliche Baugenehmigung, welche die
Unterbringung von sechs Pferden gestattet, die immissionsschutzrechtlichen Belange
der Kläger nicht hinreichend berücksichtigt. Die Baugenehmigungsbehörde wäre
insoweit gehalten gewesen, die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Nutzung eines
Stallgebäudes emissionsträchtig ist, und hätte sich mit möglichen Belästigungen der
Nachbarschaft durch die Pferdehaltung und entsprechenden Schutzmaßnahmen
auseinandersetzen müssen.
In der Rechtsprechung ist einhellig anerkannt, dass die Haltung von Pferden
grundsätzlich zu typischen und nachteiligen Auswirkungen für die Umgebung durch
Gerüche und Geräusche sowie durch Fliegen und Ungeziefer führt und
dementsprechend ein Pferdestall - sei er für zwei, drei oder vier Pferde ausgelegt - in
einem allgemeinen oder reinen Wohngebiet rücksichtslos ist.
120
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 6. Oktober 1987 - 7 A 2402/85 - und vom 10. November
1999 - 7 A 1492/99 -; VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 10. Oktober 2003, VBlBW
2004, 181, und vom 16. Mai 1990 - 3 S 218/90 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern,
Beschluss vom 1. März 2007 - 3 M 14/07 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 10. Oktober
2006 - 3 K 967/06 -, juris.
121
Je nach Lage der Stall- und Wohngebäude kann es aber im Einzelfall mit nachbarlichen
Belangen vereinbar sein, bei entsprechenden Auflagen maximal zwei Pferde in einer
Entfernung von 30 m bzw. 60 m vom nachbarlichen Wohnhaus zu halten.
122
Vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 30. März 2000, a.a.O.; VG München, Urteil vom 10.
November 2005 - M 11 K 04.4503 -, juris.
123
Von diesem Ansatz ausgehend ist für das klägerische Grundstück, welches in einem
reinen Wohngebiet liegt, ein auf die Unterbringung von sechs Pferden ausgerichteter
Pferdestall in einer Entfernung von 40 m zum Wohnhaus der Kläger - trotz der Lage des
Stalls außerhalb des reinen Wohngebiets - rücksichtslos.
124
Der rückwärtige Grundstücksbereich, der als Garten wohngebietstypisch von den
Klägern zu Erholungszwecken genutzt wird, liegt nur 25 m von dem Stallgebäude
entfernt. Bei einer Pferdehaltung in dieser Nähe sind Belästigungen für die Kläger nicht
zu vermeiden. Ein Stall für mehrere Pferde kann nicht stets verschlossen oder in einem
Zustand gehalten werden, der Geruchsimmissionen oder das verstärkte Auftreten von
Fliegen und Ungeziefer verhindern kann. Geräusche entstehen darüber hinaus vor
allem auch bei dem Hinein- und Herausführen der Pferde in und aus dem Stall. Bei
einer Haltung von sechs Pferden übersteigt das Ausmaß der Belästigungen den
Rahmen des Zumutbaren erheblich und lässt keinen Vergleich mehr mit der oben
zitierten Rechtsprechung zur ausnahmsweise zulässigen Haltung von zwei Pferden zu.
125
Dieser Wertung steht auch nicht die Stellungnahme des Staatlichen Umweltamtes L.
vom 6. Februar 2006 entgegen. In dieser Stellungnahme im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens ist ausgeführt, aus Sicht des Immissionsschutzes bestünden
gegen die beantragte Pferdehaltung keine Bedenken, wenn Maßnahmen zur
Minimierung der Geruchsemissionen - Errichtung einer Dungplatte nördlich direkt vor
dem Stallgebäude; regelmäßige Dungabfuhr; täglicher Auslauf der Pferde auf einer
anderen Weide - getroffen würden. Die Baugenehmigung vom 25. November 1999 in
der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 20. November 2002 verhält sich aber
126
zu keiner dieser Maßnahmen, auch wurde im Widerspruchsverfahren von Seiten der
Bezirksregierung L. die Maßgabe des Staatlichen Umweltamtes nicht aufgegriffen.
Ohne entsprechende Auflagen in der Baugenehmigung ist eine Umsetzung der
vorgegebenen Maßnahmen nicht gewährleistet - ungeachtet dessen, dass angesichts
der obigen Ausführungen zur Immissionsträchtigkeit der Pferdehaltung auch bei
Umsetzung aller vom Staatlichen Umweltamt geforderter Maßnahmen eine Haltung von
sechs Pferden in unmittelbarer Nähe zur nachbarlichen Wohnbebauung schwerlich mit
dem Gebot der Rücksichtnahme zu vereinbaren sein dürfte.
127
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO
und § 100 Abs. 1 ZPO.
128
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
129
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
130
131