Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 02.03.2001

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Oberverwaltungsgericht NRW, 5 B 273/01
Datum:
02.03.2001
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 B 273/01
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 14 L 227/01
Tenor:
Die Beschwerde wird zugelassen.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 16. Februar
2001 wird geändert.
Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner nicht berechtigt ist, die
Antragsteller als Teilnehmer eines als "Demonstration gegen Rechts"
geplanten Aufzuges oder als Teilnehmer einer entsprechenden
Spontanversammlung am 3. März 2001 in Dortmund ohne eine auf der
Grundlage des Versammlungsgesetzes zuvor verfügte Auflösung der
Versammlung in Anwendung allgemeiner präventiv-polizeilicher
Ermächtigungsgrundlagen im Wege der Einkesselung in polizeilichen
Gewahrsam zu nehmen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 12.000,-- DM
festgesetzt.
Der Beschluss soll den Beteiligten vorab per Fax bekannt gegeben
werden.
G r ü n d e :
1
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde hat Erfolg.
2
Die Beschwerde ist zuzulassen, weil an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen
Beschlusses vom 16. Februar 2001 aus den nachfolgenden Gründen die von den
Antragstellern dargelegten ernstlichen Zweifel bestehen (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs.
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2 Nr. 1 VwGO).
Die zugelassene Beschwerde ist begründet.
4
Der Senat versteht das mit dem Antrag zu 1. verfolgte Begehren der Antragsteller unter
besonderer Berücksichtigung der Begründung ihres Zulassungsantrages (insbesondere
S. 4, Ende des vorletzten Absatzes der Antragsschrift) und ihres Schriftsatzes vom 28.
Februar 2001 dahin, dass sie verhindern wollen, als Teilnehmer einer Versammlung am
3. März 2001 in Dortmund von Polizeikräften eingekesselt und in polizeilichen
Gewahrsam genommen zu werden, ohne dass die Versammlung, an der sie teilnehmen,
zuvor aufgelöst worden ist.
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Das damit der Sache nach auf die Gewährung vorläufigen vorbeugenden
Rechtsschutzes - hier in der Form der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO -
zielende Begehren hat Erfolg.
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Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund (§ 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2,
294 ZPO) glaubhaft gemacht. Vorläufiger vorbeugender Rechtsschutz kommt
ausnahmsweise in Betracht, wenn es dem Rechtsschutzsuchenden nicht zugemutet
werden kann, die Rechtsverletzung abzuwarten. Dies ist anzunehmen, wenn schon die
kurzfristige Hinnahme der befürchteten Handlungsweise geeignet ist, den Betroffenen in
seinen Rechten in besonders schwer wiegender Weise zu beeinträchtigen. Insoweit
muss eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten
der Antragsteller drohen, die über die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr
beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders
gewichtige Gründe entgegenstehen.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 -, NJW 1989, 827;
BVerwG, Beschluss vom 11. April 1972 - I WB 32.72 -, BVerwGE 43, 340 ff.; OVG Berlin,
Urteil vom 2. Mai 1977 - II B 2/77 -, NJW 1977, 2283; OVG NRW, Beschluss vom 6.
September 1994 - 25 B 1507/94 -, NVwZ-RR 1995, 278.
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Diese (besonderen) Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Antragsteller haben
glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner am 21. Oktober 2000 und 16. Dezember
2000 Versammlungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG ohne vorherige
Auflösung der Versammlung eingekesselt hat und in gleicher Weise gegebenenfalls
auch in Zukunft verfahren will.
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Entgegen der Auffassung des Antragsgegners handelt es sich bei Gruppen von
Demonstranten - wie den vom Antragsgegner am 21. Oktober und 16. Dezember 2000
eingekesselten - um Versammlungen im Sinne des Versammlungsrechts. Der Begriff
der öffentlichen Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG setzt
lediglich die Zusammenkunft einer zahlenmäßig nicht bestimmten Mehrheit von
Menschen voraus, deren Zusammentreffen einen kollektiven Prozess von gewisser
Dauer mit Bezug auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung auslöst.
10
Vgl. Ridder/Breitbach/Rühl/Steinmeyer, Versammlungsrecht, Rn. 17 zu Art. 8 GG, Rn.
12 zu § 1 VersammlG.
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Die Demonstration als besondere Form der Versammlung wird gekennzeichnet durch
den die Versammlung verbindenden Zweck kollektiver Meinungskundgabe.
12
Vgl. Dietl/Gienzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 12. Aufl., Rn. 18
zu § 1 VersammlG.
13
Art. 8 Abs. 1 GG schützt Versammlungen und Aufzüge - im Unterschied zu bloßen
Ansammlungen oder Volksbelustigungen - als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf
Kommunikation angelegter Entfaltung. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen
beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige
Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Es
gehören auch solche mit Demonstrationscharakter dazu, bei denen die
Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender
Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird.
14
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 ff.
(343).
15
Der Tatbestand der kollektiven Meinungskundgabe war nach den substantiierten
Bekundungen der Antragsteller sowohl bei der am 26. Oktober als auch bei der am 21.
Dezember 2000 vom Antragsgegner eingekesselten Gruppe erfüllt. In der am 26.
Oktober 2000 an der Gutenbergstraße eingekesselten Gruppe, in die die Antragsteller
mit ihrem zuvor entrollten Transparent "Nazis raus" hineingedrängt worden sind, wurden
Fahnen geschwenkt mit der Aufschrift "Solid Sozialistische Jugendvereinigung" und
Sprüche skandiert wie "Nazis raus; Hoch die internationale Solidarität; Schützt die
Synagogen, nicht die NPD". An der kollektiven Meinungskundgabe der Antragsteller
und der genannten Gruppe besteht auf der Grundlage des vom Antragsgegner insoweit
nicht bestrittenen Vorbringens der Antragsteller kein Zweifel. Entsprechendes gilt für die
Veranstaltung am 21. Dezember 2000: In der am Heiligen Weg eingekesselten Gruppe
wurden ebenfalls Parolen gerufen wie "Nazis raus; Schützt die Synagogen, nicht die
NPD" etc.; des weiteren wurde eine Vielzahl von Transparenten getragen, wie die im
Verfahren vorgelegte Lichtbildkopie belegt. Auch insoweit besteht nach dem Vorbringen
der Antragsteller hinsichtlich der Qualität der Zusammenkunft als Versammlung i.S.d.
Art. 8 Abs. 1 GG und § 1 Abs. 1 VersammlG kein Zweifel.
16
Soweit der Antragsgegner der Auffassung sein sollte, es habe sich nicht um
Versammlungen gehandelt, weil eine Bestätigung der Versammlungsbehörde nicht
erfolgt sei oder Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestanden hätten,
geht diese Ansicht fehl.
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Die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch eine Versammlung ist
keine konstitutive Voraussetzung, um den Begriff der Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1
GG, § 1 Abs. 1 VersammlG zu erfüllen. Dies wird bestätigt durch § 15 Abs. 2
VersammlG, der für den Fall, dass von einer Versammlung unmittelbar Gefahren für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, die Versammlung nicht etwa von der
Geltung des Versammlungsgesetzes ausnimmt, sondern auch für derartige
Versammlungen die Notwendigkeit vorheriger Auflösung normiert und damit die
speziellen Regelungen des Versammlungsgesetzes auch für derartige Versammlungen
zur Geltung bringt. Auch ohne behördliche "Bestätigung" unterfallen (auch solche)
Versammlungen im Übrigen dem Versammlungsgesetz.
18
Die Antragsteller haben des weiteren glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner
gegebenenfalls auch am 3. März 2001 aus polizeitaktischen Gründen ohne vorherige
19
Auflösung Versammlungen einkesseln wird. Dies hat der Antragsgegner in seinen
Stellungnahmen im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren hinreichend konkret
bestätigt. Hiernach will er auch in Zukunft die Einkesselung vergleichbarer
Versammlungen ohne vorherige Auflösung praktizieren, weil er diese - zu Unrecht -
nicht als Versammlungen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG ansieht und
sich deshalb berechtigt glaubt, zur Verhinderung von Störungen der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung in Anwendung der allgemeinen präventiv-polizeilichen
Ermächtigungsgrundlagen vorzugehen.
Der damit verbundene schwer wiegende Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte
Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 1 GG)
kann den Antragstellern nicht zugemutet werden. Eine Hauptsacheentscheidung - auch
im Rahmen einer vorbeugenden Feststellungs-/Unterlassungsklage - käme in jedem
Fall zu spät und wäre selbst im Falle des Obsiegens der Antragsteller nicht geeignet,
die erlittenen Grundrechtseingriffe nachträglich zu beseitigen. In anderer Weise als
durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung kann den Antragstellern effektiver
Rechtsschutz i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG nicht gewährt werden.
20
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 1972 - 2 BvR 820/72 -, BVerfGE 34, 160
(163).
21
Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der
Antragsgegner ist nicht berechtigt, die Antragsteller als Teilnehmer an einer öffentlichen
Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG in Anwendung präventiv-
polizeilicher Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts
einzukesseln, wenn er nicht zuvor die Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersammlG
förmlich aufgelöst hat. Handelt es sich um eine den besonderen Vorschriften des
Versammlungsgesetzes unterfallende öffentliche Versammlung, kann diese nur durch
eine Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersammlG, nicht aber auf der Grundlage der
polizeilichen Generalklausel oder über polizeiliche Standardmaßnahmen, insbesondere
die Ingewahrsamnahme durch Einkesselung, beendet werden.
22
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 - 1 B 219.86 -, NVwZ 1988, 250; VG
Hamburg, NVwZ 1987, 829; VGH Mannheim, Urteil vom 26. Januar 1998 - 1 S 3280/96 -
, NVwZ 1998, 761; OVG Bremen, Urteil vom 4. November 1986 - 1 BA 15/86 -, NVwZ
1987, 235; VG Mainz, Urteil vom 25. September 1990 - 3 K 3/90 -, NVwZ-RR 1991, 242;
VG Berlin, Urteil vom 7. Juli 1989 - 1 A 585/87 -, NVwZ-RR 1990, 188 ff.; VG Bremen,
Urteil vom 10. Februar 1986 - 4 A 364/83 -, NVwZ 1986, 862; VG Hamburg, Urteil vom
30. Oktober 1986 - 12 VG 2442/Sb -, NVwZ 1987, 829; LG Hamburg, Urteil vom 6. März
1987 - 3 O 229/86 -, NVwZ 1987, 833; OLG München, Urteil vom 20. Juni 1996 - 1 U
3098/94 -, NJW-RR 1997, 279.
23
Entgegen der Auffassung des Antragstellers unterfällt, wie oben dargelegt, eine
Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 VersammlG selbst dann dem Regime
des Versammlungsgesetzes, wenn von ihr Gefahren für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung ausgehen.
24
Ob und inwieweit die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes dann nicht greift, wenn
die Polizei Aufgaben nach §§ 163 ff. StPO wahrnimmt, mag hier dahingestellt bleiben.
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Vgl. insoweit OLG München, Urteil vom 20. Juni 1996, a.a.O.
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Jedenfalls kann die Einkesselung einer Versammlung zum Zwecke der
Identitätsfeststellung gemäß § 163 b StPO mit Blick auf die verfassungsrechtlich
geschützte Versammlungsfreiheit und den rechtsstaatlichen Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht kommen.
Soweit das OLG München (a.a.O.) angenommen hat, der Schutz des Art. 8 GG ende
dort, wo es den eingekesselten Demonstranten um die gewaltsame - mithin strafbare -
Verhinderung einer Veranstaltung gegangen sei, steht eine solche Fallkonstellation hier
nicht in Rede. Nach dem insoweit unstreitigen Vorbringen der Beteiligten ist hier
vielmehr davon auszugehen, dass die fraglichen Gegendemonstrationen insgesamt
friedlich verlaufen sind und es lediglich zu vereinzelten Übergriffen einiger weniger
Demonstranten, nicht jedoch zu Gewalttätigkeiten aller Versammlungsteilnehmer oder
einer Mehrzahl von ihnen gekommen ist.
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Zur Wahrung der Rechte der Antragsteller erscheint es ausreichend, den
Beschlusstenor auf die Feststellung der fehlenden Berechtigung des Antragsgegners zu
beschränken, da davon auszugehen ist, dass der Antragsgegner angesichts seiner
Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sein zukünftiges Verhalten
danach einrichten wird.
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Über den Antrag zu 2. ist nicht mehr zu befinden, da dieser Antrag erkennbar nur für den
Fall gestellt ist, dass die Antragsteller mit dem Antrag zu 1. unterliegen. Im Übrigen fehlt
es in Bezug auf den Antrag zu 2. an konkreten Anhaltspunkten für eine
Wiederholungsgefahr.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 und 3 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
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